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Rezession bei Vollbeschäftigung – neuerdings eine Möglichkeit

 

Gemessen an mindestens zwei Indikatoren befindet sich Deutschland seit Juni vergangenen Jahres in einer Rezession: Die Industrieproduktion, an deren Verlauf die konjunkturellen Wendepunkte üblicherweise festgemacht werden, hatte im Mai 2018 ihren Spitzenwert erreicht und ist seitdem rückläufig (annualisiert mit einer Rate von 5,4 Prozent); außerdem war das reale BIP saisonbereinigt im dritten und vierten Quartal 2018 rückläufig, wenn auch nur ein bisschen – für viele Ökonomen ist damit fast der Tatbestand einer Rezession erfüllt.

Gleichzeitig aber gibt es am Arbeitsmarkt kaum Bremsspuren: Zuletzt (im Februar) betrug der Anstieg der Beschäftigung im Vorjahresvergleich 1,1 Prozent, in den vorangegangenen sechs Monaten waren es auf’s Jahr hochgerechnet sogar 1,2 Prozent. Die Arbeitslosenquote hat 4,9 Prozent erreicht, nach dem Verfahren der International Labour Organisation ILO sogar nur 3,1 Prozent. Sie war damit deutlich niedriger als in den USA, wo sich die Wirtschaft mittlerweile seit zehn Jahren im Aufschwung befindet. Die deutsche Wirtschaft nähert sich der Vollbeschäftigung, vor allem der Westen des Landes.

Was ist los? Sollte die Arbeitslosigkeit nicht inzwischen kräftig steigen? Bekanntlich ist der Arbeitsmarkt im Hinblick auf die Konjunktur ein Spätindikator, so dass es nicht überraschend sein mag, dass sich bislang gar nichts tut – das böse Erwachen wird schon noch kommen. Oder doch nicht? Wie die folgende Grafik zeigt, war schon in der Rezession von 2008/2009, der schwersten seit Jahrzehnten, als das reale BIP von der Spitze bis zum Tiefpunkt um nicht weniger als 6,9 Prozent gesunken war, weder die Arbeitslosigkeit nennenswert gestiegen (von 7,6 auf 8,3 Prozent in der Spitze), noch hatte es einen größeren Einbruch bei der Beschäftigung gegeben.

Grafik: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosenquote in Deutschland

Ähnlich wie damals nehmen es die Arbeitgeber hin, dass ihre Arbeiter und Angestellten wegen der schlechten Auftragslage weniger produzieren und gleichzeitig pro Stunde rund drei Prozent mehr verdienen als vor einem Jahr, was angesichts der jüngsten Erzeugerpreisinflation von 1,7 Prozent (Februar gegen August, annualisiert) für sich genommen zu einem Rückgang der Gewinne führt. Sie sind aber nicht so besorgt, dass sie gleich ihre Leute entlassen.

Vielleicht stimmt es ja, was man in letzter Zeit immer wieder von Arbeitgeberseite gehört hat, dass es nämlich an Fachkräften mangelt. Dann wäre es natürlich dumm, wenn man die, die man in seinem Betrieb beschäftigt, freisetzt, nur weil es eine Weile nicht so gut läuft. Das setzt allerdings voraus, dass die Unternehmer von einer konjunkturellen Delle ausgehen, nicht von einer lang anhaltenden Wirtschaftskrise.

Ich weiß nicht, ob das so ist. Die Umfragen von Ifo-Institut und EU-Kommission zeichnen eigentlich ein ziemlich düsteres Bild der Stimmung im Unternehmenssektor. Die Zahlen bestätigen im Übrigen, was sich zuletzt bei den harten Daten getan hat: Das Volumen der Auftragseingänge in der deutschen Industrie war im Zeitraum August 2018 bis Februar mit einer annualisierten Rate von 11,2 Prozent gesunken, wobei die inländischen Aufträge stagnierten, die aus dem Ausland aber um 18,4 Prozent geschrumpft waren – und das trotz eines eher schwachen Euro und eines insgesamt noch mit einer Rate von 3,5 Prozent expandierenden Welthandels. Das Auslandsgeschäft bricht ein – und die Unternehmen stocken ungerührt ihren Personalbestand weiter auf! Verstehe das wer will.

Mir fallen zwei Erklärungen ein: Erstens, die Suppe wird nie so heiß gegessen wie sie gekocht wird, sprich, die Fundamentals sind einmal mehr nicht so schlecht wie die Stimmung – und die Unternehmer wissen das. Am Mittwoch hat der Internationale Währungsfonds in seinem neuen Frühjahrsbericht prognostiziert, dass das globale BIP in diesem Jahr um 3,3 Prozent expandieren wird, nach 3,6 Prozent im Jahr 2018. Das ist zwar weniger als noch vor einigen Monaten erwartet, liegt aber nicht weit unterhalb des historischen Mittelwerts. Außerdem soll die Weltwirtschaft bereits in der zweiten Jahreshälfte schon wieder kräftig zulegen, so dass das Wachstum 2020 3,6 Prozent erreichen dürfte. Trotz der Probleme in der Autoindustrie ist die deutsche Wirtschaft insgesamt überzeugt, dass sie im Wettbewerb bestehen wird. Nach wie vor haben wir es zudem mit letztlich moderaten Lohnabschlüssen zu tun.

Zweitens erlebt Deutschland, wie auch alle anderen Industrieländer, einen permanenten Strukturwandel, mit einem rückläufigen Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung, und entsprechend einem immer größeren Dienstleistungssektor. Im Jahr 1980 waren es in Westdeutschland 31 zu 57 Prozent (der Rest auf 100 entfällt auf den Primärsektor, vor allem also auf die Landwirtschaft, sowie auf den Bau und die Energieerzeugung), zuletzt waren es in der erweiterten Bundesrepublik 23 zu 68 Prozent. Dienstleistungen sind zum Einen überwiegend produktivitätsschwach (Ausnahmen gibt es natürlich, zum Beispiel den Internethandel) und weniger konjunkturanfällig als die Industrie.

Für den Arbeitsmarkt bedeutet das, dass die Schwankungen der Tendenz nach geringer werden – und die Beschäftigung auch in einer Rezession zunehmen kann oder nur wenig sinkt, ganz anders als in der Vergangenheit, als die Industrie den Takt vorgab.