Ich mache mal was, was unter Ökonomen, die die Dinge sehr genau nehmen, tabu ist: Ich vergleiche nicht die Zuwachsrate der Produktivität, sondern ihr absolutes Niveau. Wir hören immer wieder, dass Europa unter erheblichen Strukturmängeln leidet und vor allem aus diesem Grund so weit hintendran ist bei der Produktivität und damit dem Lebensstandard. Die einzige Art, das zu ändern, seien Strukturreformen, Strukturreformen und noch einmal Strukturreformen. Dabei lässt sich zeigen, dass sowohl die deutsche Produktivität als auch die des Euroraums zur Zeit nahezu identisch ist mit der der Vereinigten Staaten, der Wachstumsmaschine par excellence, dem Vorbild schlechthin. Es kommt immer darauf an wie man misst!
Gehen wir naiv an die Sache heran und teilen das nominale Sozialprodukt (saisonbereinigt, 4. Quartal annualisiert), umgerechnet zum heutigen Wechselkurs von 1,31 Dollar je Euro durch die Anzahl aller in der Volkswirtschaft Beschäftigten. Dann bekommen wir 70.553 Euro pro Jahr und Beschäftigten für die USA, 60.868 Euro für Euroland und 59.532 Euro für Deutschland. Danach bilden wir das Schlusslicht dieser Dreiergruppe.
Das ist aber nicht die wahre Produktivität, denn es kommt ja darauf an, was man pro Stunde, also pro Einheit Arbeitseinsatz erwirtschaftet. Wenn man einfach länger arbeitet und dann mehr produziert als die anderen, heißt das ja offensichtlich nicht, dass man produktiver ist, also besonders effizient arbeitet. Also sollte man den Output pro Kopf durch die durchschnittliche Anzahl der von den Beschäftigten geleisteten Arbeitsstunden teilen, also durch 1804 für die USA, 1580 fürs Euroland und 1435 für Deutschland. Das sind Zahlen aus dem Employment Outlook der OECD vom vergangenen Jahr (Seite 265). Was kommt raus? Pro Stunde produziert ein Amerikaner 39,11 Euro, ein Euroländer 38,52 Euro und ein Deutscher 41,49 Euro. Hatten wir das nicht schon immer gewusst? Wir sind ziemlich produktiv und leisten uns dafür eine Menge Freizeit, zugegebenermaßen nicht immer freiwillig, während die Amerikaner für ihre Arbeit lieber mehr Güter und Dienstleistungen kaufen. Gran Canaria statt einem neuen Pick-up Truck. Chacun à son goût.
Oder stimmt etwas nicht mit meinen Zahlen? Eine implizite Annahme in der obigen Rechnung ist natürlich, dass die 1,31 Dollar je Euro so etwas wie einen Gleichgewichtswechselkurs repräsentiert. Wenn dieser in Wirklichkeit bei 1,10 Dollar liegt, wären die Amerikaner wieder weit vorne, so wie sie das ja auch stets betonen, wenn er aber bei 1,50 Dollar läge, wäre der deutsche und kontinentaleuropäische Vorsprung wiederum sehr groß. Wenn man die Leistungsbilanzsalden als Indikator für Abweichungen von einem gleichgewichtigen oder „richtigen“ Wechselkurs nimmt, ist der Euro insgesamt – also im Gegensatz zum bilateralen Wechselkurs gegenüber dem Dollar – ziemlich korrekt bewertet, da das Defizit Eurolands in der Leistungsbilanz in der Nähe von Null liegt. Der Dollar wäre demnach allerdings total überbewertet, mit der Folge, dass die wahre Stundenproduktivität sehr viel niedriger ausfiele als in obiger Rechnung.
Vergleicht man dagegen die inländische Kaufkraft von Euro und Dollar, so wie das beispielsweise die UNO für ihre Bediensteten tut, ist der Dollar auf einmal ziemlich unterbewertet und die US-Produktivität dadurch wieder viel höher als hierzulande.
Je nachdem wie gerechnet wird, kommt man also zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Sie sind allesamt sehr angreifbar, woraus ich folgere, dass Forderungen nach noch intensiverem Strukturwandel, abgeleitet aus Produktivitätsunterschieden, auf wackligem Boden stehen. Strukturreformen sind stets erforderlich, aber dass sie in Europa dringlicher sind als anderswo, ist angesichts der ausgezeichneten Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, besonders der deutschen, und des hohen Niveaus der Stundenproduktivität nicht erkennbar. Lassen wir doch stattdessen die Wirtschaft mal ein bisschen an der langen Leine laufen – dann wird man sehen, zu welchen Produktivitätswundern es bei gleichzeitigem Abbau der Arbeitslosigkeit noch kommen wird.