Martin Wolf hatte am Mittwoch in der FT Aesops Fabel von den Ameisen und den Heuschrecken nacherzählt: Die Deutschen sind die Ameisen, ebenso wie die Japaner und Chinesen, sie sind allesamt fleißig und sparsam, wie nicht anders zu erwarten, und die Heuschrecken sind – na, wer wohl? – die Amerikaner, Briten, Griechen, Spanier, die tanzen und singen den ganzen Sommer, und wenn es dann Winter wird, haben sie nichts zurückgelegt und müssen die Ameisen anbetteln. Die aber sind hartherzig und geben nichts ab. Müssen sterben, die Heuschrecken. Das haben sie davon.
Nur, der Schluss ist bei Wolf ein anderer: Die Ameisen haben nämlich das, was sie während des Sommers nicht unmittelbar zum Leben brauchten, und das war viel, den Heuschrecken auf Pump überlassen, die dadurch erst so richtig High Life machen konnten. Kaufen wollten die Ameisen kaum etwas von den Heuschrecken, außer das eine oder andere Haus am Strand. Die Heuschrecken verlegten sich notgedrungen auf den Bau von Häusern, Shopping Malls und Bürogebäuden. Als dann der Winter einbrach, wollten die Ameisen wiederhaben, was sie verliehen hatten, aber die Heuschrecken lachten nur und sagten, leider haben wir nichts, was Ihr wirklich gebrauchen könnt, und gingen hin und entledigten sich ihrer Schulden durch Inflation, Abwertung oder Konkurs. Die Moral von der Geschicht‘: Du kannst nicht nachhaltig Vermögen schaffen, indem Du jemandem Geld leihst, der es letztlich nicht zurückzahlen kann.
Was also tun, wenn man eine Ameise ist? Lässt sich der Charakter eigentlich ändern? Wir kennen die Lösung – sie wird uns ohn‘ Unterlass und freigiebigst von den Vertretern der Heuschrecken empfohlen: Stimuliert Euren Verbrauch und Eure Investitionen so, dass Ihr künftig keine Überschüsse in der Leistungsbilanz mehr habt. Importiert mehr! Klingt einleuchtend! Sonst sitzt man am Ende auf Bergen von amerikanischen Mortgage Backed Securities, also Schrottimmobilien, Ferienwohnungen an der Costa del Sol oder Staatsanleihen Griechenlands, und die sind allesamt nicht mehr viel wert.
Geht das eigentlich? Lernen die Ameisen irgendwann, dass sie nur denen Kredite geben sollten, die damit ihre Infrastruktur; ihre Produktionsanlagen und ihr Bildungsangebot verbessern wollen? Damit sie die Chance haben, aus der gesteigerten Produktion ihre Schulden abzutragen. Dafür bräuchten die Ameisen natürlich Banker, die nicht jeder Mode hinterherlaufen sondern einen sinnvollen Kredit von einem leichtfertigen unterscheiden können. Leider haben die Ameisen den Heuschrecken geglaubt, dass modernes Banking vor allem aus Puts und Calls, Swaps und Verbriefungen besteht, nicht aus langweiligen Kreditprüfungsprozessen und dem Insistieren auf Sicherheiten. Sie können tolle Produkte herstellen, aber wie sich finanzielle Risiken bewerten lassen, das haben sie nicht gelernt.
Andererseits, vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn die fleißigen Gläubiger gelegentlich von den Heuschrecken enteignet werden. Es könnte zu den Spielregeln gehören. Denn es ist ja so, dass fast alle Länder, die ständig netto Kapital exportieren, trotz dieser Enteignungen zu den Reichen dieser Welt gehören. Ich habe mir eben auf der letzten Seite des Economist die Leistungsbilanzprognosen für dieses Jahr angesehen. Überschüsse von mehr als zwei Prozent ihres BIP werden die folgenden OECD-Länder haben: Japan, Deutschland, Holland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Schweiz, Südkorea, dazu die Schwellenländer China, Hongkong, Malaysia, Singapur, Taiwan, Thailand und Israel, sowie die Ölexporteure Russland, Venezuela und Saudi-Arabien. Das ist doch eine Gruppe, zu der man gern gehören möchte – wirtschaftspolitisch, aus ihrer nationalen Sicht, machen die Länder per saldo trotz ihrer ameisenhaften Sparsamkeit mehr richtig als falsch. Zudem ist es normal, dass die Einen einen Ersparnisüberschuss haben, der genau dem Ausgabenüberschuss der anderen entspricht. Kapital wird aus den Regionen exportiert, in denen es reichlich vorhanden ist und daher keine hohe Rendite mehr abwirft, und wird dort investiert, wo es knapp ist, etwa in den meisten Entwicklungsländern und vielen Schwellenländern, wo es profitabel eingesetzt werden kann.
Nicht in dieses Bild passen die USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Irland und Südafrika, allesamt englischsprechende Länder. Sie sind bis auf Südafrika vergleichsweise wohlhabend und importieren trotzdem netto Kapital. Zu dieser Gruppe würden wir vielleicht ebenfalls gern gehören; dort muss die Stimmung nämlich ziemlich gut sein. Das lässt sich an ihren hohen Konsumquoten und positiven Einwanderungssalden ablesen. Neuerdings kämpfen sie allerdings mit sehr hoher Arbeitslosigkeit (hier ist Australien die Ausnahme), was sie dann doch wieder nicht so glücklich aussehen lässt.
Mit anderen Worten, grundsätzlich sehe ich die Leistungsbilanzüberschüsse nicht sehr kritisch. Was aber nicht heißt, dass nicht viel mehr getan werden müsste, damit ein größerer Teil der Ersparnisse im Inland eingesetzt wird, wodurch sich wiederum der Wohlstand rascher steigern ließe. Der Weg dorthin ist klar, aber mühsam: es geht darum, die Kapitalproduktivität und damit die Rendite der Investitionen zu steigern. Auf der Angebotsseite erfordert das eine bessere Qualifikation aller Arbeitskräfte, mehr Wettbewerb, eine Modernisierung der Infrastruktur, den Abbau substanzerhaltender Subventionen, auf der Nachfrageseite eine Stimulierung des Konsums, etwa durch eine Umverteilung der Einkommen zugunsten der ärmeren Schichten und eine Politik der Vollbeschäftigung. Solange Disinflation herrscht und sogar Deflation nicht ausgeschlossen werden kann, ist das situationsgerecht. Letztlich stimulieren die besseren Absatzaussichten aufgrund eines dynamischeren Konsums auch die Erweiterungsinvestitionen: Neue Arbeitsplätze entstehen.
Insgesamt ist das natürlich erneut eine ameisenhafte Politik, an deren Ende womöglich noch größere Leistungsbilanzüberschüsse stehen könnten – denn mit steigendem Wohlstand nehmen in der Regel auch die Sparquoten zu. Die Ameisen können einfach nicht anders, fürchte ich. Macht aber auch nicht viel: Die einen werden geliebt, die anderen, die Ameisen, werden gebraucht, wenn auch nur in der Krise.