Gerade ist Einiges los an der Datenfront. Nachdem der Internationale Währungsfonds heute früh seine gerade mal zwei Monate alte Wachstumsprognose für das reale globale BIP im Jahr 2010 um 0,4 Prozentpunkte auf 4,6 Prozent angehoben hat (Vorjahresvergleich, in Kaufkraftparitäten), ebenso wie die deutsche, von 1,2 auf 1,4 Prozent, meldete die Bundesbank zur Mittagsstunde, dass die deutsche Industrieproduktion im Mai saisonbereinigt um sage und schreibe 2,6 Prozent gegenüber dem April und um 12,4 Prozent gegenüber Mai 2009 zugelegt hat.
Was unsere Wirtschaft angeht, ist eine Wachstumsrate von 1,4 Prozent zwar möglich, aber nur wenn es von nun an ganz schlecht kommt. Im April und Mai lag die Industrieproduktion, die wichtigste Determinante auf der Entstehungsseite des Sozialprodukts, bereits um 4,9 Prozent über dem Durchschnittswert des ersten Quartals. Es wird, wie von deutschen Analysten unisono vorhergesagt, für das reale BIP im zweiten Quartal gegenüber dem ersten mindestens einen Anstieg von ein Prozent geben. Schon das würde diese Dreimonatsperiode einen Vorjahresabstand von 2,1 Prozent ergeben. Selbst wenn das BIP dann in den folgenden zwei Quartalen stagnieren würde, ergäbe sich für das Gesamtjahr bereits eine durchschnittliche Zuwachsrate von 1,5 Prozent. Aber warum sollte es stagnieren?
Vermutlich war nämlich erstens die Zuwachsrate des deutschen BIP im vergangenen Quartal um einiges höher als ein Prozent. Die im Juni erneut sehr guten Zahlen vom Arbeitsmarkt lassen vermuten, dass die Produktion im letzten Monat des Quartals weiter expandierte. Zum Zweiten laufen die Auftragseingänge dem Output in der Industrie um Längen voraus. Die Zahlen für Mai gab es am Mittwoch. Real betrug die annualisierte Zuwachsrate in den Monaten April und Mai gegenüber Oktober und November 27,9 Prozent, siebenundzwanzig komma neun! Von einer Stagnation und gar einem Abbrechen der Konjunktur kann keine Rede sein. Noch nicht einmal die Ifo-Umfragen legen das nahe. Es wird für eine Weile kräftig weiter aufwärts gehen, auch wenn wir nicht ins Endspiel gekommen sind.
Dabei ist der Aufschwung beim Frühindikator „Auftragseingang“ keineswegs allein der robusten Weltkonjunktur und dem schwachen Euro geschuldet – die Inlandsorders sind auch in Schwung gekommen. Bei ihnen lag die annualisierte Zuwachsrate immerhin auch bei 25,7 Prozent, und bei der wichtigen Komponente „Investitionsgüterhersteller“ bei 27,0 Prozent. Das sieht nicht nach Strohfeuer aus. Deutschland ist, ganz ungewohnt, zur Zeit die europäische Konjunkturlokomotive. Seit einem halben Jahr nehmen die Wareneinfuhren zügiger zu als die Ausfuhren – die Mai-Zahlen dazu gab es übrigens ebenfalls heute früh.
Das Erstaunliche an der neuen, optimistischeren IWF-Prognose ist der Begleittext. Da steht, dass alles toll läuft, dass aber die Risiken erheblich zugenommen haben („downside risks have risen sharply“). Vor allem die Solvenz einiger staatlicher Schuldner macht Sorgen, weil der Zustand des globalen Bankensektors nach wie vor fragil ist und ein größerer Zahlungsausfall und Abschreibungsbedarf daher eine zweite Krise auslösen könnte. Schon beim Konkurs von Lehman Brothers war der globale Finanzsektor heftig ins Wanken gekommen. Der IWF hält offenbar die europäischen Banken für besonders gefährdet, denn nur so erklärt sich die große Diskrepanz zwischen aktuell recht positiven Konjunkturzahlen und den pessimistischen Prognosen. Die USA sollen in diesem Jahr um 3,3 Prozent expandieren, unsere arme Eurozone dagegen nur um 1,0 Prozent. Der Unterschied beruht vermutlich auf der Einschätzung der versteckten Bankenrisiken dort und hier. Die Amerikaner haben die Stresstests ihrer Banken schon hinter sich.
Ich hoffe, dass die Tests für 91 europäische Banken, die am 23. Juli veröffentlicht werden sollen, von nicht allzu freundlichen Annahmen ausgehen und damit glaubwürdig die Risiken in einem worst-case-scenario offenlegen. Die Tests sollten die Grundlage für Kapitalerhöhungen, Verstaatlichungen, Fusionen, Kostensenkungen und die Verkürzung der Bilanzen sein. Danach darf es dann keine bösen Überraschungen mehr geben. Von Morgan Stanley gab es am Mittwoch in der Financial Times eine Tabelle, nach der die 16 größten europäischen Banken noch fast eine Billion Euro an schlechten Aktiva abstoßen müssten, mit den entsprechenden Abschreibungen und Bilanzverlusten, versteht sich. Vorneweg finden sich die Hypo Real Estate (210 Mrd. Euro), gefolgt von einigen Landesbanken und der Commerzbank – auf die deutschen Banken entfallen danach knapp 40 Prozent der Gesamtsumme. Sehr beunruhigend! Aber besser die Karten kommen auf den Tisch als die Probleme à la japonaise jahrzehntelang unter den Teppich zu kehren.
Zurück zum Anfang: Warum läuft es konjunkturell in Deutschland auf einmal so gut? Grund Nummer 1 ist für mich die starke Abhängigkeit vom Außenhandel. Im Jahr 2009 schrumpfte der Welthandel real um rund 12 Prozent, das deutsche Sozialprodukt fiel daraufhin um 4,9 Prozent. Ähnlich betroffen war Japan, während die USA oder Frankreich mit einem Rückgang in der Größenordnung von 2 1/2 Prozent davonkamen. Jetzt geht es in die andere Richtung: Der Welthandel wird in diesem Jahr um ungefähr 12 Prozent zunehmen, und Deutschland und Japan befinden sich auf einmal wieder auf der sunny side. Will sagen, je enger die Korrelation des Sozialprodukts mit dem Welthandel, desto volatiler ist das Wachstum des Sozialprodukts.
Die Einbindung unseres Landes in die internationale Arbeitsteilung ist eine unserer Stärken und sollte beibehalten werden, weil sie den Wettbewerb und damit die Produktivität stimuliert. Die Maßnahmen am Arbeitsmarkt, wie zum Beispiel das neu ausgestaltete Kurzarbeitergeld, haben sich dabei als außerordentlich gelungen erwiesen, weil sie verhindert haben, dass sich der starke Rückgang des Sozialprodukts in einem noch stärkeren Rückgang der Beschäftigung niedergeschlagen hat. Das unterscheidet sich vorteilhaft von früheren Zyklen und ist ein echtes Zukunftsmodell: Der Output darf wild schwanken, weil wir am Welthandel hängen, die Beschäftigung aber bitte nicht. Dafür haben wir Arbeitszeitkonten, Teilzeitverträge, 400- und 1-Euro-Jobs und alle möglichen anderen nicht so erbaulichen Instrumente. Der Grundgedanke der Reformen ist für ein Land wie Deutschland richtig, aber handwerklich liegt da noch Vieles im Argen. Öfter mal nach Skandinavien schauen, oder nach Österreich!