Ein Gastkommentar auf HERDENTRIEB? Ja und zwar von Thomas Straubhaar, dem Chef des HWWI. Er ist hier erst vom Hirten Fabian Lindner und dann von einigen Herdentrieb-Kommentatoren scharf kritisiert worden, ob seiner Empfehlung, die USA mögen ihren (neo)liberalen Weg weiter gehen und bitte nicht dem europäischen Sozialstaat nacheifern, geschweige denn mit weiteren Konjunkturprogrammen den Weg aus der Krise suchen. Hier nun seine Antwort an Fabian Lindner und die HERDENTRIEB-Community. Viel Spaß bei der Lektüre und nochmehr Spaß beim bloggen und kommentieren, wünscht Ihr Robert Heusinger
American Way or No Way!
Von Thomas Straubhaar
Fabian Lindner sträuben sich bei der Lektüre meines Artikels „Amerikas europäische Krankheit“ in Spiegel Online vom 2.9.2010 die Haare. Denn in der Tat lässt sich dort Schreckliches lesen. Nämlich meine These, dass zur Genesung der amerikanischen Wirtschaft amerikanische Therapien notwendig seien. Und dass künstliche Wiederbelebungsversuche mittels erneuter Konjunkturprogramme und einer Politik des billigen Geldes genau so wenig helfen würden wie europäische Rezepte in Form eines Marsches in den Sozialstaat. Vielmehr würden dadurch die amerikanischen Probleme nicht gelöst, sondern verschärft. Dass es also so etwas wie eine Pfadabhängigkeit gebe, die es bei der Anwendung wirtschaftspolitischer Instrumente zu beachten gelte.
Meine Kernthese lautet: Nimmt man den Amerikanern den Glauben, dass Amerika vor allem da sei, um ihnen die Freiheit zu geben, unabhängig zu sein und reich zu werden, zerstört man die Klammer, welche die heterogene amerikanische Einwanderungsgesellschaft zusammenhält, können Konflikte zwischen verschiedenen Teilen aufbrechen, die unterschwellig längst vorhanden sind. Je mehr sich die amerikanische Wirtschaftspolitik von ihren historischen Erfolgsfaktoren – Eigenverantwortung und Selbstbestimmung – entfernt, umso schwieriger dürfte der Genesungsprozess werden. Entweder folgen die USA dem durch gemeinsame Vergangenheit, ökonomischem Erfolg und stetigem Fortschritt gekennzeichneten American Way, oder die USA provozieren mit einem wesensfremden europäischen Weg erst wirtschaftliche und dann gesellschaftliche Spannungen.
Wieso bin ich so überzeugt, dass nur eine Rückkehr zum American Way Amerika aus der Krise hilft? Weil ich überzeugt bin, dass es heutzutage in den USA nicht um konjunkturelle, sondern um strukturelle Probleme geht. Deshalb helfen konjunkturelle Instrumente der Fiskal- und Strukturpolitik nur vordergründig. Wie bei jeder Symptombekämpfung wird dadurch das eigentliche Problem vertuscht, verschleppt und damit langfristig verschärft. Gegen strukturelle Probleme helfen nur strukturelle Ursachentherapien. Und eines vorneweg, damit die treuen Leser(innen) dieses Blogs nicht gleich einem reflexartigen Herdentrieb erliegen: es geht mir nicht darum, einen von den Leitkühen des Neokeynesianismus richtigerweise als verstaubt bezeichneten Streit zwischen nachfrage- und angebotspolitischen Ideologien aufzuwärmen.
Es geht mir darum, dass für die lange Frist nur eine angebotsorientierte Politik des Wachstums die wirklichen Probleme der amerikanischen Wirtschaft werden lösen können. Denn auch die Neokeynesianer akzeptieren mittlerweile (zumindest vordergründig) für die lange Frist die Überlegenheit einer angebotspolitischen Agenda mit freien, deregulierten und privatisierten Märkten und einer Geldpolitik, die sich an nichts anderem als der Preisniveaustabilität zu orientieren hat. Es wird anerkannt, dass nachfrageorientierte Eingriffe nichts zu einem dauerhaft höheren Beschäftigungsniveau beitragen können. Genauso wird die für Generationen von Studenten zum harten Pflichtstoff gehörende Philipskurve (der unterstellten Beziehung zwischen Inflation und Beschäftigung) modifiziert. Mit einer zu expansiven Geldpolitik werden langfristig nur höhere Inflationsraten und keine nachhaltigen Beschäftigungseffekte verursacht.
Hintergründig aber geht es, wenn man dem Herdentrieb auf meinen Beitrag folgt, vielen keynesianisch argumentierenden Ökonomen immer noch um big government. So halten sie Rezepten die Treue, die die Krise gerade wesentlich mit verschuldet haben. Der – gleichzeitig eine marktliberale Rhetorik vertretende – amerikanische Notenbankpräsident Alan Greenspan flutete die Märkte immer dann mit neuer Liquidität, wenn ein konjunktureller Abschwung zu befürchten war. Dabei war es spätestens nach der New Economy-Blase offenkundig, dass die überhitzte und überschuldete US-amerikanische Volkswirtschaft eine „Reinigungskrise“ (im Sinne Schumpeters) hätte durchlaufen müssen, um notwendige Strukturanpassungen zu vollziehen. Aber zusätzliche Liquidität versickert in einer Volkswirtschaft nicht einfach. Und es war kein Zufall, dass sie vor allem in den US-amerikanischen Immobilienmarkt floss, von dem die spätere Wirtschaftskrise des Jahres 2008/2009 dann auch ihren Ausgang nahm.
Aber es soll ja gar nicht um eine dogmenhistorisch Diskussion gehen. Sondern um ein paar empirische Belege, die dafür sprechen, dass die USA in einer strukturellen Krise stecken. Ich hatte folgende genannt (und hätte mit dem Bildungs- und Gesundheitswesen oder der teilweise wirklich schlechten Infrastruktur weitere ansprechen können):
• Erstens sorgt der schwache Konjunkturverlauf kaum für neue Jobs. Die offizielle US-Arbeitslosenquote verharrt derzeit bei hohen 9,5 Prozent. Korrigiert man die Angaben um die Teilzeitbeschäftigten und nimmt man zumindest einen Teil der nicht erfassten sozioökonomischen Problemfälle hinzu, die sich unter den insgesamt zwei Millionen Gefangenen finden, dürfte die tatsächliche Arbeitslosigkeit fast doppelt so hoch sein. Das ist für amerikanische Verhältnisse viel, und sicher mehr als die Wähler(innen) zu akzeptieren bereit sind.
• Zweitens – und bedrohlicher noch als die Beschäftigungsprobleme an sich – zeigt sich das für die USA völlig untypische Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahl der Menschen, die länger als ein halbes Jahr ohne Arbeit bleiben, ist mit der Rezession geradezu explodiert. Innerhalb kürzester Zeit ist sie von etwas mehr als einer Million auf 6,8 Millionen geschnellt. Das traditionelle Hire and Fire ist zu einer Einbahnstraße verkümmert. Es gab fast nur Entlassungen und kaum Neueinstellungen.
• Drittens greift im Mittelstand die Angst vor einer Umkehrung des amerikanischen Traums um sich. Erst kommt der ökonomische und dann folgt der soziale Abstieg. Und wenn man einmal ganz unten angekommen ist, gibt es keinen Weg mehr zurück. Denn der Fahrstuhl nach oben funktioniert nicht mehr wie in früheren Zeiten. Zunächst die Immobilienkrise, dann der Kollaps der Finanzmärkte und schließlich die schwerste Rezession seit Jahrzehnten haben für viele Amerikaner den Traum zum Alptraum werden lassen. Manche haben drückende Schulden. Nicht nur, weil sie im Überschwang des für viele so typischen und aus europäischer Sicht oft so naiven Optimismus überteuerte Häuser gekauft haben und nun nicht mehr in der Lage sind, die Hypotheken zu bedienen. Oft müssen auch Kredite zurückbezahlt werden, die in besseren Zeiten für Autos, Möbel und elektronische Geräte, aber auch zur Finanzierung von Schulgeldern oder Studiengebühren aufgenommen wurden. Aus dem „Leben auf Pump“ ist für viele ein „Leben auf Sicht“ geworden. Unsicherheit und Ungewissheit um das Morgen rauben gar manchen Familien den Schlaf.
• Viertens öffnet sich die Schere zwischen reich und arm in USA weiter. Wer besser ausgebildet ist, kommt schneller nach oben. Wer unqualifiziert bleibt, hat ein mehr als schweres Leben. Wie ungleich die Verhältnisse geworden sind, zeigen nicht nur die privaten Städte der Wohlhabenden. Sie entstehen als umzäunte, streng bewachte, regulierte und kontrollierte Einfamilienhaus-Ghettos der reichen Oberschicht als Wohlstandsinseln „auf der grünen Wiese“ am Rande der großen Agglomerationen. Stärker noch zeigen sich die Differenzen innerhalb der Städte. Beispielsweise zerfällt die Bundeshauptstadt Washington DC in einen idyllischen Nordwesten und einen durch alltägliche Schießereien, brutale Überfälle und hohe Kriminalität gepeinigten Südosten. Wenige Meilen von Weißem Haus und Kapitol entfernt, ist sich abends in öffentlichen Verkehrsmitteln niemand mehr wirklich seiner Habseligkeiten sicher.
Aus diesen von mir als strukturelle Krisensymptome bewerteten empirischen Beobachtungen hatte ich dann gefolgert, dass es klüger wäre, als mit weiteren Milliarden die Wirtschaft mit Konjunkturspritzen therapieren zu wollen, an die Wurzeln des strukturellen Problems zu gehen. Also: wie Fabian Lindner mich richtig interpretiert – den individuellen Geist der Freiheit wiederzubeleben, der die USA so groß gemacht hat. Dazu gehört dann eben auch ein Zurück zum American Way und – von mir als ganz wichtig bezeichnet – eine Reparatur des Fahrstuhls, der den Aufstieg von ganz unten nach ganz oben ermöglicht.
Das vernichtende Urteil zu meiner Analyse von Fabian Lindner: „Das alles ist natürlich hanebüchen. Straubhaar tut sich als Historiker des amerikanischen Freiheitsgedankens hervor, übersieht darüber aber völlig die makroökonomische Geschichte der USA nach dem zweiten Weltkrieg. Denn der Staat hat bei Rezessionen nie tatenlos zugeschaut, nur hat er anders gehandelt als die Europäer. Immer schon haben die Amerikaner eine expansive Wirtschaftspolitik betrieben – zu mal unter dem liberalen Ronald Reagan, der angeblich die Marktkräfte entfesselt hat. Das US-Staatsdefizit ist erst unter ihm so richtig gewachsen.“
Natürlich hat der amerikanische Staat nicht tatenlos zugeschaut. Ja, es gehörte bereits zum sozialpolitischen Traum des Rooseveltschen New Deal, auch jenen Amerikanern zu einem eigenen Heim zu verhelfen, die sich das eigentlich gar nicht leisten konnten. Dafür wurden die halbstaatlichen Banken Fannie Mae (1938) und Freddie Mac (1968) geschaffen; und dafür wurden Risikokredite auf vielfältige Weise staatlich gefördert. Wohin eine solche Politik letztlich führte, hat der faktische Bankrott von Fannie Mae und Freddie Mac relativ offenherzig gezeigt.
Natürlich hat die US-Regierung immer dafür gesorgt, per expansiver Fiskalpolitik oder niedrigen Zinsen die Beschäftigung hoch zu halten. Aber genau der Versuch, notwendige Strukturanpassungskrisen durch eine expansive Geldpolitik zu verhindern und ein staatliches Sozialbeglückungsprogramm gegen die Logik der Märkte zu verwirklichen, schuf erst jenes Umfeld, in dem private Akteure gehörig dazu beitragen konnten, dass Keynes’ Depressionstheorie sich heute wieder steigender Beliebtheit erfreuen darf. Festzuhalten aber ist: Ausgelöst wurde diese Krise zu einem beträchtlichen Teil durch politische „animal spirits“, durch Konzepte, die wohl kaum im Sinne des pragmatischen Ökonomen John Maynard Keynes waren, durchaus aber im Sinne vieler „Vulgärkeynesianer“.
Glauben Sie, sehr geehrter Fabian Lindner, oder Sie, sehr geehrte Blogger, dass es für Amerika eine Alternative zu einem auf neue Investitionen in neue Technologien, Bildung setzenden, angebotsorientierten Wachstumsprogramm gibt? Glauben Sie wirklich, dass eine staatlich induzierte Konjunkturstimulierung nachhaltig helfen kann, die amerikanische Wirtschaft auf ihr altes Potenzialwachstum von gegen drei Prozent pro Jahr zurückzubringen, ein Wachstum, das notwendig ist, um der Langzeitarbeitslosigkeit Herr zu werden und die Beschäftigungssituation dauerhaft zu verbessern?