Ich erinnere mich nur ungern an die vielen Artikel in der Financial Times und im Economist, in denen das britische Modell als Vorbild für die deutsche Wirtschaftspolitik empfohlen wurde. Ich kann nur sagen, ein Glück, dass wir uns nicht allzu sehr davon haben beeindrucken lassen, vor allem auch nicht von der Behauptung, dass der Euro der Anfang und das Ende allen Übels sei, oder dass die Dienstleistungen in einer reichen Volkswirtschaft der Wachstumsmotor par excellence seien und man ganz gut ohne einen nennenswerten Industriesektor auskommen könne. Wenn ich mir die aktuellen Zahlen ansehe, kann ich mir eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen. Zur Zeit läuft in Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht praktisch alles besser als auf der Insel.
Der naheliegendste Indikator dafür ist das BIP pro Kopf: Beim aktuellen Wechselkurs von 0,8840 Pfund pro Euro ist es hierzulande inzwischen deutlich höher. Im ersten Quartal 2011 lag es, auf’s Jahr hochgerechnet, bei schätzungsweise 32.025 Euro, gegenüber 27.565 Euro in Großbritannien. Das ist eine Differenz von 16 Prozent. Da die britische Finanzpolitik auf absehbare Zeit sehr restriktiv sein muss, wenn die Tory-Regierung ihre ehrgeizigen Defizitziele erreichen will, ist nicht damit zu rechnen, dass sich der Abstand demnächst verkleinern wird. Die britische Geldpolitik wird das nicht ausgleichen können – die Notenbankzinsen haben fast schon die Nulllinie erreicht. Die meisten Analysten erwarten, dass das deutsche reale BIP in diesem Jahr gegenüber 2010 um etwas mehr als 3 Prozent expandieren wird, das britische dagegen nur um 1,7 Prozent.
Natürlich hat das schwache Pfund die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der britischen Wirtschaft stark verbessert, in den Zahlen zeigt sich das bislang aber noch nicht: Im vierten Quartal 2010 übertrafen die Ausfuhren von Gütern und Dienstleistungen ihren Vorjahreswert real um 5,4 Prozent; in Deutschland waren es 15,7 Prozent. Was nicht ist, kann ja noch werden, ich vermute aber mal, dass es nicht werden wird: Die britische Produktionsstruktur passt nicht gut zur Struktur der globalen Nachfrage. Wer zu viele Häuser baut, hat nicht genügend Ressourcen für Anderes, insbesondere nicht für die Investitionsgüter, die im Zentrum der Aufholprozesse in den Schwellenländern stehen – und noch einige Jahrzehnte lang stehen werden.
Die Vorteile einer unabhängigen Geldpolitik und die Möglichkeit, das Pfund abzuwerten, haben sich bisher noch nicht vorteilhaft in den Zahlen niedergeschlagen. Selbst der Arbeitsmarkt ist nicht mehr das Paradepferd, das er einst war. Nach den jüngsten Beschäftigungszahlen hat sich die Lage zwar etwas verbessert, insgesamt sind sie aber noch um 1,9 Prozent niedriger als zur Zeit des letzten konjunkturellen Höhepunkts im vierten Quartal 2008. Die Anzahl der deutschen Jobs übertrifft dagegen ihr früheres zyklisches Hoch vom Oktober 2008 um 0,9 Prozent. Einst waren die britischen Arbeitslosenquoten deutlich niedriger als die deutschen. Auch das hat sich geradezu dramatisch verändert. Am Donnerstag meldete die Bundesanstalt für Arbeit für März saisonbereinigt eine Quote von 7,1 Prozent; die letzte britische lag bei 8,0 Prozent (Januar).
Trotz des schwachen Wirtschaftswachstums übertrifft die britische Inflationsrate der Verbraucherpreise die deutsche um Einiges. Im Vorjahresvergleich waren es im Februar 4,4 Prozent gegenüber 2,1 Prozent. Bei den industriellen Erzeugerpreisen sah es ein bisschen anders aus: 5,3 Prozent zu 6,4 Prozent. Die Bank of England verfehlt damit ihr vom Schatzkanzler vorgegebenes Ziel von 2 Prozent sehr deutlich und müsste eigentlich die Zinsen anheben. Anders als die EZB, die am 7. April den Hauptrefinanzierungssatz auf 1,25 Prozent erhöhen wird, hat die britische Notenbank angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage erst einmal signalisiert, dass sie noch nicht aktiv werden will. Damit bleibt die Bank Rate mindestens bis zum Mai bei 0,5 Prozent. Das ist einer der Gründe, weswegen das Pfund tendenziell weiter gegenüber dem Euro abwerten wird.
Ein anderer Grund ist das anhaltende Defizit in der britischen Leistungsbilanz: Es dürfte 2011 erneut in der Größenordnung von 1,7 Prozent des BIP liegen. Auch Euroland wird ein Defizit aufweisen, es ist aber mit etwa 0,3 Prozent um Einiges kleiner (Deutschlands Überschuss wird knapp 5 Prozent erreichen). Von der Leistungsbilanz her gibt es also an den Devisenmärkten ein Überangebot an Pfund Sterling. Das könnte kompensiert werden durch autonome Kapitalimporte, ob es aber dazu in ausreichendem Maße kommt, muss bezweifelt werden. Die wichtigste Determinante von Kapitalströmen sind die erwarteten Veränderungen von Assetpreisen, also Aktien und Immobilien. Aus amerikanischer oder asiatischer Sicht sind britische Aktien relativ billig und damit attraktiv, aber das gilt für die Aktien anderer europäischer Länder gleichermaßen. Also kein Vorteil in dieser Hinsicht. Ganz klar ist hingegen, dass die britischen Immobilienpreise noch einen erheblichen Korrekturbedarf haben, vor allem wenn man sie mit den amerikanischen vergleicht. Nach jahrzehntelangen rasanten Zuwachsraten haben sie zwar 2008 ihren Höhepunkt überschritten, bewegen sich aber seitdem nur leicht abwärts und sind nach wie vor, gemessen an Kriterien wie „Mieteinnahmen zu Marktpreisen“ oder „Schuldendienst zu Haushaltseinkommen“, überteuert und damit nicht attraktiv für Kapitalanleger. Das Pfund wird also weiter abwerten.
Ein ausgeglichener Staatshaushalt ist für sich genommen nicht erstrebenswert. Wenn der Staat in Bildung und Infrastruktur investiert und den folgenden Generationen damit einen großen Kapitalstock vererbt, ist nicht viel gegen Schulden machen einzuwenden. Das gilt auch für Schulden, die aus der Not geboren sind, vor allem durch Rezessionen und Kriege. Manchmal muss der Staat den privaten Sektor verdrängen oder mit seiner Nachfrage für ihn einspringen. Im Falle Großbritanniens zieht aber weder das eine noch das andere Argument. Das wird vor allem im Vergleich zu Deutschland augenfällig. Während das britische reale BIP in den beiden Rezessionsjahren 2008 und 2009 insgesamt um 5,0 Prozent zurückging, waren es in Deutschland 3,7 Prozent und damit kaum weniger. Der Unterschied in den Auswirkungen auf die Staatsfinanzen war aber gewaltig. Im Jahr 2011 wird sich das gesamtstaatliche Defizit in Großbritannien laut Prognose der EU-Kommission vom vergangenen Herbst trotz aller Sparprogramme und Steuererhöhungen auf 8,6 Prozent des BIP belaufen, in Deutschland auf 2,7 Prozent. Im statistischen Anhang des Economist lese ich, dass die Mehrheit der Analysten für dieses Jahr inzwischen mit einem britischen Defizit von 9,0 Prozent sowie einem deutschen von sage und schreibe nur 0,5 Prozent rechnet. Man traut seinen Augen nicht..
Jedenfalls wird die britische Schuldenquote, einst eine der niedrigsten der Welt, am Jahresende auf 83,5 Prozent oder mehr steigen, während die deutsche bei knapp 76 Prozent stagnieren dürfte. Die Londoner Regierung hinterlässt den folgenden Generationen weniger einen modernen Kapitalstock als vielmehr einen gewaltigen Schuldenberg.
Wie in den USA rächt sich nun auch in Großbritannien, dass lange Zeit nach dem Motto gewirtschaftet wurde „Wenn wir die Steuern senken, kommt es zu mehr Wachstum, wodurch sich die Steuersenkung im Wesentlichen selbst finanziert“. Vor allem für die sogenannten Leistungsträger in der City war das eine tolle Strategie, nicht dagegen für die Volkswirtschaft insgesamt. Die sogenannte Abgabenquote liegt auf der Insel bei knapp 41 Prozent (des BIP), in Deutschland bei knapp 43 Prozent. Niemand weiß, was der optimale Anteil des Staates an der Wertschöpfung ist, aber es lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass er nicht in der Nähe von Null liegen sollte. Viele reiche Länder haben Staatsquoten, die deutlich höher sind als die deutsche.
Deutschland ist ohne eine autonome Geldpolitik insgesamt viel besser gefahren als Großbritannien mit seiner nationalen Notenbank, und das trotz der gewaltigen Lasten durch die Wiedervereinigung und der zunehmenden Transfers an die schwächeren Mitgliedsländer der Währungsunion. Es ist aber nicht damit zu rechnen, dass die Briten daraus folgern werden, dass sie sich vielleicht doch um eine Aufnahme in den Club bewerben sollten – wahrscheinlicher ist, dass sich der Trend hin zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten verstärken wird, was Großbritannien dann zunehmend marginalisiert. Von dem politischen Endziel der Union will man ja ohnehin nichts wissen. De facto wird das Königreich daher auf die eine oder andere Weise austreten.