Fünf Jahre ist die Agenda 2010 mittlerweile alt. Gerhard Schröder sagte in seiner Agenda-Rede vor dem Bundestag: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Bei der Agenda ging es um die Rente, die Steuern und das Gesundheitssystem, vor allem aber um den Arbeitsmarkt. Der sei zu unflexibel und daran scheitere höhere Beschäftigung. Das war nicht nur die Grundthese vieler deutscher VWL-Professoren, sondern auch des sozialdemokratischen Bundeskanzlers.
Mittlerweile ist Deutschland nach Jahren der Stagnation wieder gewachsen und die Arbeitslosigkeit endlich stark gesunken. Viele Kommentatoren sehen das als Resultat der Agenda-Politik. Daraus schlussfolgern sie munter, dass die prognostizierte deutliche Abschwächung des Wachstums in diesem und im nächsten Jahr noch mehr Arbeitsmarktflexibilisierung nötig mache. Reformpolitik scheint in einigen Politiker- und Ökonomenkreisen die neue Konjunkturpolitik geworden zu sein. Hauptsache flexible Arbeitsmärkte, dann kommt das Wachstum schon von allein. Aber so einfach ist das nicht. Vieles, was den Arbeitsmarkt angeblich so „flexibel“ macht, hat keinen Effekt auf die Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Arbeitsmarktreformen können die Arbeitslosigkeit sogar verschärfen.
Warum also die Reformen auf dem Arbeitsmarkt? Die Ökonomen Andrea Bassanini and Romain Duval haben in einer Studie der Industrieländerorganisation OECD die Wirkung von Strukturpolitik und Arbeitsmarktinstitutionen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit genau unter die Lupe genommen. Bei der Betrachtung von 21 Ländern zwischen 1982 und 2003 sind sie unter anderem zum dem Ergebnis gekommen, dass ein hohes und lang gezahltes Arbeitslosengeld und hohe Lohnnebenkosten tatsächlich zu höherer Arbeitslosigkeit führen.
Es scheint also, dass die deutschen Reformanstrengungen der letzten Jahre in die richtige Richtung gegangen sind. Schließlich hat das Hartz IV-Gesetz durch die Einführung des ALG II die Höhe und Dauer der Bezüge von Arbeitslosen deutlich eingeschränkt. Daneben hat die höhere Mehrwertssteuer eine Senkung der Lohnnebenkosten ermöglicht. Bloß gibt es da einen kleinen Haken: Die beiden Ökonomen schreiben explizit, dass die schädlichen Effekte böser Arbeitsmarktinstitutionen zwar auf viele der untersuchten Länder zutreffen, nur nicht auf Deutschland. Die seit der Widervereinigung gestiegene deutsche Arbeitslosigkeit wird schlicht nicht durch irgendwelche Arbeitsmarktinstitutionen erklärt.
Zu dem gleichen Ergebnis ist übrigens auch der reformfreudige Internationale Währungsfonds gekommen. Im World Economic Outlook aus dem Frühjahr 2003 haben IWF-Ökonomen eine ähnliche Übung wie Duval und Bassanini gemacht. Sie fanden zwar negative Effekte vieler Arbeitsmarktinstitutionen etwa in Frankreich und Italien, nicht aber in Deutschland.
Interessant sind auch zwei andere Ergebnisse der Studie von Duval und Bassanini. Sie fanden heraus, dass koordinierte und zentralisierte Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern die Arbeitslosigkeit nicht etwa erhöhen, sondern sogar abbauen. Das heißt, der Trend, Löhne direkt im Betrieb aushandeln zu lassen, scheint eher schädlich zu sein.
Auch der viel geschmähte Kündigungsschutz scheint mit der Arbeitslosigkeit wenig zu tun zu haben. Würde man ihn lockern oder gar abschaffen, so würde die Arbeitslosigkeit im Aufschwung schon schneller sinken – was wir gerade beobachten können. Das Problem ist nur, dass sie im Abschwung auch genauso schnell wieder steigen würde. Der Nettoeffekt ist gleich null. Summa summarum heißt das also: Reformen, die Arbeitnehmer möglichst „flexibel“ machen und ihnen allen Schutz wegnehmen, machen eben nur das: Sie nehmen Arbeitnehmern allen Schutz weg. Für mehr Beschäftigung würden sie an sich aber kaum sorgen.
Wie kommt es dann, dass viel reformfreudigere EU-Länder als Deutschland einen größeren Erfolg bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hatten? Die Antwort ist einfach: Weil sie klein sind. Kleine Länder wie etwa die Rekordreformer Holland oder Dänemark sind sehr viel offener für den internationalen Handel als große Länder wie Deutschland. Das heißt, der Anteil der Exporte und Importe am Bruttoinlandsprodukt ist wesentlich größer. Wenn ein kleines Land durch Reformen seine Lohnkosten senkt und billiger produzieren kann, steigen seine Exporte, die Unternehmen investieren und stellen ein. Die Reformen wirken sofort. Kein Wunder, dass die kleinen Länder Dänemark, Holland und Finnland in den letzten Jahren die eifrigsten Reformer gewesen sind.
Auf der Liste der besten Reformer folgt gleich Deutschland, wie Duval und sein Kollege von der OECD Jørgen Elmeskov in einem Arbeitspapier der Europäischen Zentralbank geschrieben haben. Bloß ließ das Wachstum hierzulande lange auf sich warten. Das erklären die beiden Autoren so: In einer großen Volkswirtschaft ist die berühmte Binnennachfrage größer als der Export. Die Exporte steigen dann zwar auch bei sinkenden Kosten (siehe Exportweltmeister bei nur 82 Millionen Einwohnern). Nur schränken die Leute ihren Konsum ein, weil die meisten Arbeitsmarktreformen sie verunsichern. Gerhard Schröders Agenda-Gürtel-Engerschnallen-Rede und -Politik hat die Leute nicht gerade zum Konsumrausch angehalten. Das führt zu Angstsparen und zu einer deutlichen Schwächung der Binnennachfrage und damit des Wachstums. Steigende, nicht sinkende Arbeitslosigkeit ist die Folge.
Denn selbst wenn Reformen das gesamtwirtschaftliche Angebot erhöhen würden, so erhöhen sie noch lange nicht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, ohne die eine Volkswirtschaft nicht wächst. Was wäre die Lösung? Klar, im Gegensatz zu kleinen offenen Volkswirtschaften brauchen große Volkswirtschaften eine aktive Makropolitik, um das größere Angebot auch auszuschöpfen, so die beiden Autoren der EZB-Publikation.
Deswegen wären mehr Arbeitsmarktreformen im Moment Gift für die deutsche und damit auch die europäische Konjunktur. Würde die Bundesregierung so manchem Ökonomen jetzt folgen und den Kündigungsschutz lockern, würde das den Konsum und das Wachstum weiter schwächen. Zwar sind die Unternehmen noch gut aufgestellt und investieren kräftig. Die von der EZB festgestellte Verschärfung der Kreditkonditionen scheint sich noch nicht auf die Investitionstätigkeit auszuwirken (Wie Kollege Wermuth diesen Mittwoch geschrieben hat). Doch die Rezession in den USA und die Finanzbomben, die noch in so mancher Bankbilanz liegen könnten, müssen Deutschland, dessen Konjunktur immer noch stark vom Export abhängt, zur Vorsicht mahnen. Weitere Reformpläne, die die Konsumenten nur verunsichern, sollten erst mal in der Schublade bleiben.