Als ich gestern die Seite eins der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) las, da wurde mir richtig übel – und mir wurde einmal mehr klar, dass die Art und Weise, wie Europas und Deutschlands Politiker versuchen die Euro-Zone zu retten, gründlich gescheitert ist. Das Einzige, was die hilflosen, weil über die nationalen Parlamente abzuwickelnden Rettungsversuche provozieren, sind nationalistische Ressentiments. Ein solch plumpes, deutsch-überhebliches und vorurteilsbeladenes Stückchen hätte ich zumindest in der FAS nicht erwartet. Aber lesen Sie selbst:
Unter der Überschrift Gyros, Nekros, Pseudos wird ein Brief frei erfunden, den der griechische Ministerpräsident an eine Witwe schreibt, die bislang noch die Rente ihres verstorbenen Mannes erhält, weil das Rentenamt in Athen geschlafen hat (vergangene Woche wurde bekannt, dass Griechenland rund 4500 bereits verstorbenen Staatsdienern noch Rente zahlt.)
„Sehr geehrte Frau Apathiklios,
ich hoffe mein Brief erreicht Sie; unserer Verwaltung liegt von Ihnen nur eine Bankverbindung vor, aber keine zuverlässige Adresse.
Bitte nehmen Sie zunächst mein Beileid zum Ableben Ihres Gatten Nekros entgegen, auch wenn das traurige Ereignis offenbar ja bereits 19 Jahre zurückliegt. Im Amt für das Wetterwesen erinnert man sich gut daran, wie engagiert er den Getränkeautomaten im vierten Stock des Haupthauses bewachte. Sie haben ihn deshalb an vielen Werktagen in Ihrem Heim bis gegen 14 Uhr entbehren müssen.
Wegen der Auflagen von EU, IWF und EZB können wir Ihnen die Rente Ihres Mannes leider nicht weiter auszahlen. Für die Rückzahlung eines symbolischen Betrages wären wir Ihnen dankbar; Kennwort: ‚Den Deutschen in den Rachen‘. …“
Soweit der Beitrag zur Völkerfreundschaft und Information aufgeklärter Bürger seitens der FAS.
Kein Wort davon, dass keine westliche Demokratie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs binnen eines Jahres härter gespart hat als die Griechen. Kein Wort davon, dass die Troika (EU, EZB und IWF) festgestellt hat, dass die Griechen die „quantitativen Haushaltsziele für das erste Quartal erreicht“ haben. Kein Wort auch davon, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands verbessert hat wie die Troika feststellt: „Der Außenhandelssektor war dynamisch und trug so zur Reduzierung der Leistungsbilanzungleichgewichte bei.“ Das große Problem der griechischen Wirtschaft sind nicht die 4500 Rentenbescheide. Es ist die Binnennachfrage, die unter den Sparauflagen leidet und die Wirtschaftsleistung stärker drückt als von der Troika angenommen – und damit die Neuverschuldung stärker erhöht, den Schuldenstand immer gruseliger werden lässt.
Doch wozu Wahrheit, wenn es so viel Spaß macht, Ressentiments zu schüren. Das ist das zentrale Problem der Euro-Rettung. Sie muss den nationalen Parlamenten entrissen werden. Ansonsten schaukeln sich das Unverständnis und der Nationalismus in Europa gegenseitig auf.
Ich habe in der vergangenen Woche das kleine Büchlein Krieg und Frieden. Die ökonomischen Konsequenzen des Versailler Vertrages des Meisters John Maynard Keynes gelesen und war schockiert ob seiner Aktualität. Man ersetze „Reparationszahlungen/Kriegsentschädigung“ durch „Sparanstrengung zur Rückzahlung der Hilfskredite“ und man schaudert.
In den Wochenendausgaben von Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau schreibe ich:
„Faszinierend ist das Buch, weil es die politischen Prozesse trefflich antizipiert. Erst führt populistischer Wahlkampf in den Demokratien der Siegermächten (ersetze: Geberländer) dazu, dass den Besiegten (ersetze: Schuldnerländer) immer unsinnigere und nicht erfüllbare Forderungen auferlegt werden.
Damit die ‚Hunnen nicht mit einem blauen Auge davonkommen‘, wie seinerzeit im englischen Wahlkampf gefordert. Ein paar Jahre später würden sich die derart unter Druck gesetzten Demokratien wehren, so prophezeit Keynes, indem sie ihre Tributzahlungen einstellen, den ihnen auferlegten Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.
Deshalb sei es nicht Edelmut, sondern Zweckmäßigkeit, wenn die Siegermächte dafür sorgten, dass auch bei den Besiegten Bedingungen für Wohlstand und Wachstum herrschten. Eine solche Politik fördere am schnellsten und besten die Freundschaft zwischen den Völkern.
Europa in den Jahren 2010 und 2011 setzt diese Freundschaft, die nach 1945 so selbstverständlich geworden ist, aufs Spiel. Die Art und Weise, wie die Staatsschuldenkrise gelöst werden soll, ist gescheitert. Nationale Demokratien halten den eingeschlagenen Weg nicht aus. Während im Norden die Bereitschaft schwindet, mittels neuer Kredite zu helfen, nationalistische Parteien triumphale Wahlerfolge erzielen, stürzen in den Schuldnerländern die Regierungen über die Sparpakete. Erst in Irland, nun in Portugal.“
Soll der Euro gerettet werden, soll Europa weiterhin für Wohlstand und Frieden stehen, dann muss rasch der Weg zur Wirtschaftsregierung eingeschlagen werden. Die Rettung funktioniert nur über europäische Institutionen, über das europäische Parlament und den europäischen Finanzminister, nicht aber über die Zustimmung nationaler Parlamente. Deshalb ist die Forderung der Koalitionsparteien, weitere Kredite nur nach Zustimmung des Parlamentes zu gestatten, ein Irrweg.