In diesen Tagen ist der HERDENTRIEB drei Jahre alt geworden. Und da im November 2005 alles mit der famosen Wachstumswette für das Jahr 2006 begann, wird der Geburtstag stets mit einer neuen Wachstumswette gefeiert. So schwer wie heute ist mir die Wette allerdings noch nie gefallen. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! Die eine, die schwärmerische, sagt mir, Deutschland hat die besten Vorraussetzungen die Krise glimpflich zu bestehen. Die andere, die realistische, zeichnet ein fürchterlich düsteres Bild. Da der Journalist nun mal der Wahrheit verpflichtet ist, siegt die realistische Seele. Solange es kein Konjunkturprogramm in Deutschland gibt, das den Namen verdient hat, solange Merkel und Steinbrück den Eichel machen, solange gilt die Wette: Das Brutto-Inlandsprodukt schrumpft nächstes Jahr um mindestens 1,5 Prozent. Damit bin ich deutlich pessimistischer als Sachverständigenrat und Herbstgutachter, die eine Stagnation erwarten.
Die Erklärung ist simpel: Es herrscht Eiszeit in Deutschland. Die Weltwirtschaft steckt mitten in der tiefsten Rezession seit 80 Jahren. Und der Exportweltmeister ist davon logischer Weise am stärksten betroffen. Die detaillierten Wachstumszahlen für das dritte Quartal sind genauso alarmierend wie die Stimmungsindikatoren und Auftragseingänge. Die Schockstarre der Weltwirtschaft wird Verwüstungen in der deutschen Volkswirtschaft hinterlassen, die kaum auszumalen sind. Da hilft es wenig, dass die Reallöhne in Deutschland erstmals seit dem Jahr 2000 wieder steigen. Die Menschen sind verunsichert und werden in keinen Konsumrausch verfallen. Der aber wäre nötig, um dem kräftigen Schrumpfen der Wirtschaft etwas entgegen zu setzen.
Ein Blick auf die BIP-Zahlen für das dritte Quartal verrät die Misere: Es war lediglich der Lageraufbau (plus 0,9 Prozentpunkte) der Firmen, der Deutschland „nur“ ein Minus von 0,5 Prozent beschert hat. Lageraufbau heißt jedoch nichts anderes, als dass die Firmen angesichts der Nachfrageschwäche zu viel produziert haben. Kehrt sich der Aufbau in einen Abbau um, was zu erwarten ist, dann gute Nacht. Denn der Außenbeitrag (Exporte minus Importe) hat bereits im dritten Quartal 1,7 Prozentpunkte vom Wachstum abgezogen. Schon in den Monaten Juli bis September verkauften die deutschen Firmen 0,4 Prozent weniger im Ausland als im zweiten Quartal. Da zwischen Bestellung und Auslieferung meist ein paar Monate liegen, wird sich dieser Abwärtstrend in den nächsten Quartalen dramatisch verstärken. Im ersten Quartal 2009 würde es mich nicht überraschen, wenn der Export fast zweistellig in den roten Zahlen liegt. Und wie die Leser des Blogs wissen, war es vor allem der Außenbeitrag, der Deutschland in den vergangenen Jahren das schiefe Wachstum beschert hat. Schief, weil der Konsum nicht hinterher kam, wegen der schwachen Lohnentwicklung. Nur vom Ausland kam der Impuls, der später auf die Investitionen abgefärbt hat, wenn gleich im schwächeren Ausmaße als früher.
Werfen wir einen Blick auf die HERDENTRIEB-Grafiken zur Kreditvergabe und Kreditnachfrage. Auch hier ist Tristesse angesagt.
Die Banken, welch Wunder angesichts der Finanzkrise, verschärfen die Kreditkonditionen. Damit wird es für die Firmen, die noch für Wachstum sorgen könnten, immer schwerer, das zu tun. Ihnen fehlen entweder Sicherheiten, oder sie müssen derart hohe Risikoaufschläge zahlen, dass sich die Investitionen nicht lohnen.
Das zweite Chart ist eigentlich noch erschütternder: Die Firmen fragen weniger Kredite nach als in der Vorperiode. Sie haben sich schon längst auf die Rezession eingestellt. Dass sich der Arbeitsmarkt bislang so gut gehalten hat, liegt lediglich daran, dass die Firmen bis zum Frühjahr prall gefüllte Auftragsbücher hatten, die allmählich abgearbeitet sind. Deshalb wird der kräftige Anstieg der Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr der neue Schocker sein. Denn die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes schafft nur dann mehr Jobs im Aufschwung, wenn sie auch mehr Arbeitslose im Abschwung nach sich zieht. So einfach ist das.
Was tun, um der Eiszeit zu entgehen? Die Geld- und Fiskalpolitik muss aus allen Rohren feuern – und zwar koste es, was es wolle. Solange Schockstarre herrscht, solange sind alle zweiten Überlegungen, wie Inflation morgen oder höhere Staatsdefizite morgen, irrelevant. Ein Konjunkturprogramm muss her, das aus zwei Teilen besteht: Am allerwichtigsten, weil kurzfristig erfolgreich, sind Steuerschecks. Jeder Bürger erhält einmal 250 Euro, oder zweimal 125 Euro. Und zwar jeder: Vom Neugeborenen bis zum 100-jährigen, vom Hartz-IV-Empfänger bis zum Manager. Genau wie wir vor ein paar Monaten die neue Steueridentifikationsnummer geschickt bekommen haben, bekommen wir nun vom Finanzminister einen Steuerscheck. Der zweite Teil des Konjunkturpaketes muss Investitionen in Bildung und Infrastruktur umfassen. Ein Impuls in Höhe von 80 Milliarden Euro für 2009, dann brauchen wir vor der Eiszeit nicht mehr zittern. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die die Krise mit der Zinserhöhung im Juli unnötig verschärft hat, lockert sich gerade etwas. Wenn die EZB im Dezember den Leitzins um 75 Basispunkte senkt, wonach es ausschaut, dann wirkt auch die Geldpolitik allmählich stimulierend.
Und an dem Punkt meldet sich meine schwärmerische Seele. Erst hat mich der Sachverständigenrat hoch erfreut, dass er ein anständiges Konjunkturprogramm gefordert hat – zum ersten Mal seit Mitte der 70er Jahre hat das einflussreiche Gremium zugegeben, dass es mehr als die Angebotsseite in der Wirtschaft gibt. Und jetzt hat sich auch die Bundesbank entsprechend geäußert. Axel Weber, himself, fordert Steuerschecks. Das ist sensationell und zeigt dem Schwärmer, dass noch mehr geht. Die fatale Wirtschaftsberatung in Deutschland dreht sich, legt die Blindheit auf der Nachfrageseite ab. Weil die Krise dramatisch ist. Klar. Aber auch, weil das große ideologische Projekt, die Flexibilisierung des Arbeitsmarkt, gelungen ist. Bis vorgestern waren es ja ausschließlich die zu hohen Löhne, der zu starre Arbeitsmarkt, der für alles konjunkturelle Übel dieses Landes verantwortlich gemacht worden ist. Dumm nur, dass die Berater 30 Jahre ein und dieselbe Soße erzählt haben, weshalb es unseren Politiker so schwer fällt, einfach mal das richtige zu tun. Steinbrück und Merkel halten noch immer nichts von Konjunkturprogrammen und der arme Struck will lieber den Sachverständigenrat abschaffen als einmal neu zu denken.
Und warum ist Deutschland eigentlich für die Krise besser gerüstet als andere Länder?
- Weil es hierzulande keine Immobilienblase gegeben hat. Im Gegenteil: Die Häuserpreise haben sich in den vergangenen Jahren so gut wie nicht bewegt. Da kann nichts platzen und das Wachstum belasten.
- Weil die Haushalte bei weitem nicht so stark verschuldet sind wie in vielen anderen Ländern. Die Deutschen sparen eher zu viel. Hier ginge noch was.
- Weil die Baisse am Aktienmarkt dank des glücklicher Weise noch immer Mini-Anteil der privaten Altersvorsorge keine Rolle für den künftigen Konsum spielt. Das geht so gut wie spurlos an den Deutschen vorüber. Das ist fast in allen anderen westlichen Ländern ein viel größeres Thema.
- Weil die Löhne fast zehn Jahre real nicht gestiegen sind, gibt es viele unerfüllte Konsumwünsche, die bei etwas mehr Geld in der Tasche sofort realisiert würden. Die Konsumquote ist in Deutschland zu niedrig. Das Land hat viele Jahre unter seinen Verhältnissen gelebt, mehr exportiert (gespart) als importiert. Sprich für das Ausland gearbeitet. Da geht auch noch was.
- Weil die Löhne zum ersten Mal seit 2000 real wieder gestiegen sind.
- Weil immer noch genug Industrie in Deutschland vorhanden ist, die Umstellung der Wirtschaft auf eine spekulative (Finanz)Dienstleistungsgesellschaft nicht im selben Ausmaß stattgefunden hat, wie bei unseren wichtigsten Handelspartnern.
- Weil Deutschland sein international fast einmaliges, dreigliedriges Bankensystem hat, mit Sparkassen und Volksbanken, die noch in hohem Maße traditionelles Geldgeschäft machen, also Spareinlagen in Kredite wandeln. Diese Banken hängen so gut wie nicht am Kapitalmarkt – und sind von der Panik auch viel weniger betroffen. Diese Banken können jetzt zeigen, wie gut es für eine Volkswirtschaft ist, ein diversifiziertes Bankensystem zu besitzen. Sie können weiter Kredit vergeben und damit ihren Beitrag gegen die Krise leisten.
- Last but not least: Bund, Länder und Gemeinden erwirtschaften gemeinsam Überschüsse. Sie bremsen, statt zu stimulieren. Hier geht noch ganz viel.
Vorraussetzung dafür, dass sich Deutschlands gute Ausgangslage bezahlt macht, ist allerdings die Abkehr von der bisherigen Export-Strategie auf eine Strategie zur Wiederbelebung der Binnennachfrage. Bleiben unsere Politiker indes bei der Export-Strategie, stirbt die deutsche Wirtschaft den Tod durch Erfrieren.