Ich weiß, die –8,2% klingen reißerisch – es handelt sich aber einfach um die Hochrechnung der heutigen BIP-Zahl für das vierte Quartal von real und saisonbereinigt -2,1% q/q auf ein ganzes Jahr und entspricht dem Wert von -3,8%, den die Amerikaner kürzlich für ihr viertes Quartal veröffentlicht hatten. Die hochgerechnete Verlaufsrate gibt die aktuellen Trends besser wieder als der Vorjahresvergleich. Bei dem kam im vierten Quartal für Deutschland übrigens -1,7% heraus. International üblich sind Verlaufsraten allemal.
Das reale BIP ist also noch schlechter ausgefallen als befürchtet, allerdings angesichts dessen, was sich in der Industrie tut, nicht so schlecht, wie es hätte sein können. Im laufenden Quartal wird es im selben Rhythmus weitergehen, so dass sich unter den Annahmen, dass der Rückgang im zweiten Quartal „nur“ noch 1,0% q/q beträgt und es danach zu einer Stagnation kommt, im Jahresdurchschnitt 2009 beim realen BIP im Vorjahresvergleich ein Rückgang von 4,7% errechnet. Das gab es seit den dreißiger Jahren nicht mehr.
Wenn die Produktivität, das reale BIP je Beschäftigtem, in diesem Jahr mit ihrer Trendrate von etwa 1% zunimmt, sinkt damit die Beschäftigung um 5,7%, das heißt um 2,3 Millionen Menschen. Um so viel könnte dann auch die Arbeitslosigkeit steigen. Im Jahresdurchschnitt errechnet sich danach ein Wert von 5,57 Millionen. Dazu wird es nicht kommen, weil die Unternehmen – und der Staat – zum einen die Leute gar nicht so rasch entlassen können, und weil sie es auch nicht wollen, weil sie bis auf weiteres darauf setzen dürften, dass der Abschwung nicht lange anhalten wird und ihnen dann im kommenden Aufschwung die qualifizierten Arbeitskräfte fehlen. Viele werden auch aus dem Arbeitskräfteangebot verschwinden, weil sie nicht mehr damit rechnen, auf absehbare Zeit wieder einen Job zu finden und auch keinen Anspruch auf staatliche Hilfe haben. Sie werden nicht mehr als Arbeitslose gezählt und haben sich zur sogenannten stillen Reserve gesellt. Das Refugium Kinder, Küche, Kirche wird einiges abfedern, oder eine verlängerte Ausbildung.
Ich kann nur warnen: Nach wie vor zwingen die hereinkommenden Statistiken die angeblich weisen professionellen Ökonomen dazu, ihre Prognosen nach unten zu revidieren. Jede neue Prognose fällt pessimistischer aus als die vorherige. Was spricht dafür, dass wir beim realen BIP in diesem Jahr keinen Rückgang um 4,7% bekommen werden? Wenn ich mir die Ifo-Indikatoren oder die Auftragseingänge ansehe, habe ich keine Probleme mit einer solchen Zahl.
Gerade gab es auch von Eurostat die erste Schätzung für das BIP von Euroland; es sieht bei unseren Nachbarn etwas besser aus als hierzulande, weil bei ihnen auf der Nachfrageseite die Exporte und auf der Angebotsseite die Industrieproduktion eine geringere Rolle spielen als bei uns. Beide befinden sich ja im freien Fall. Die Verlaufsrate für das reale BIP betrug im vierten Quartal -6%, und im Vorjahresvergleich ergab sich -1,2%. Die Lage am Arbeitsmarkt ist trotz der leichten Vorteile bei der Produktion deutlich schlechter als in Deutschland, „katastrophal“ ist das angemessene Wort.
Ich mag eigentlich nicht immer die Kassandra spielen, und ich weiß auch, dass diese negative Sicht der Dinge die Erwartungen weiter verschlechtert. Wenn wir alle nicht so pessimistisch wären, könnten wir uns leicht am eigenen Schopf aus dem Schlamm ziehen. Oder? Roosevelt hatte beim Amtsantritt 1933 zu recht verkündet „we have nothing to fear but fear itself“. Angesichts der gewaltigen Ersparnisse und dem nach wie vor ungestillten Bedarf an Gütern und Dienstleistungen müsste das doch möglich sein. Ich vermute aber, dass der private Sektor zur Zeit so verklemmt ist, dass er das nicht von allein hinbekommt, und dass sowohl der Staat als auch die EZB auch nicht annähernd genug tun, um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bekommen.
Die Outputlücke im Euroland wird im Jahr 2009 um etwa sechs Prozentpunkte (des BIP) größer sein als im vergangenen Jahr, einem Jahr, in dem keineswegs Vollbeschäftigung herrschte. Das ist unter der Annahme, dass das Trendwachstum des Produktionspotentials 2 ¼% p.a. beträgt. Im Jahr 2010 dürfte die Lücke noch einmal größer werden, vielleicht um einen Prozentpunkt. Die staatlichen Konjunkturprogramme müssen sich an diesen Zahlen messen lassen.
David Saha und Jakob von Weizsäcker von Bruegel, dem Brüsseler Think Tank, haben soeben berechnet, dass die gesamten Konjunkturpakete, die 2009 in der EU wirksam werden, gerade einmal 0,9% des nominalen BIP ausmachen (Deutschland 1,4%). In den USA werden es schätzungsweise 1,8%, in China 7,1% sein. Das Problembewusstsein ist in diesen Ländern viel stärker ausgeprägt. Die chinesische Führung kämpft vermutlich um ihr Überleben – eine Diktatur, die keinen Wohlstand erzeugen kann, und die die Bevölkerung auch nicht mehr vom freien Zugang zu Informationen abhalten kann, ist auf’s Höchste gefährdet.
Es kommt nicht nur darauf an, dass die Konjunkturpakete mindestens fünfmal größer sind als jetzt anvisiert, sie müssen auch eine Eurozonen-Dimension bekommen, damit es weder zu Trittbrettfahren noch zu einem neuen innereuropäischem Protektionismus kommt. Frankreich ist auf dem besten Weg dahin. Der Kommission ist daher dringend der Rücken zu stärken, und sie muss wirkungsvollere wirtschaftspolitische Instrumente an die Hand bekommen. Vor allem Deutschland ist dabei gefragt. Da die politische Integration immer noch ein Ziel der deutschen Politik ist, könnte jetzt durch geschicktes Verhandeln ein weiterer großer Schritt in diese Richtung getan werden, nach dem Motto „biete wirtschaftliche Hilfe gegen eine koordinierte Politik gegenüber dem Finanzsektor und der Automobilindustrie“. Die Eurozone braucht eine größere Investitionsbank, und sie braucht eine einheitliche und zentralisierte Finanzaufsicht, möglichst unter dem Schirm der EZB (aber vielleicht in Amsterdam statt in Frankfurt angesiedelt).
Eine zentralisiertere Finanzpolitik muss auch deshalb einen Spitzenplatz auf der Agenda bekommen, weil wir uns dem Punkt nähern, an dem die Zentralbanken des Eurosystems beginnen müssen, Geld zu drucken, indem sie im Sekundärmarkt Anleihen der einzelnen Mitgliedsstaaten, der Banken und anderer Unternehmen aufkaufen. Wie sieht es dann mit der Haftung aus? Und kann dieses „quantitative easing“ eigentlich nur funktionieren, wenn Euroland so jemanden hat wie Tim Geithner, den amerikanischen Treasurer?
Im Chinesischen hat das Schriftzeichen, das für „Krise“ steht, auch die Bedeutung von „Chance“. Ich kann nur wünschen, dass das unsere Politiker auch so sehen, und zwar möglichst rasch, bevor die Krise außer Kontrolle gerät. Es beunruhigt mich sehr, dass der Euro in diesen Tagen so schwach ist und offensichtlich nicht mehr als Zufluchtwährung gilt, anders als Yen, Dollar und Gold.