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Der deutsche Konjunkturmotor stottert – Zeit, die prozyklische Finanzpolitik zu beenden!

 

Ich bin überrascht, dass es in diesen Tagen fast nur optimistische Äußerungen zur deutschen Konjunktur gibt, denn die Fakten sind keineswegs so gut wie die Stimmung.

Grafik: ifo Geschäftsklimaindex (Geschäftserwartungen und Lageeinschätzung)
ifo-Geschäftsklimaindex (Geschäftserwartungen und Lageeinschätzung)

Ein Warnsignal ist die Arbeitslosigkeit. Im September hatte es gegenüber August saisonbereinigt eine Zunahme um nicht weniger als 25.000 gegeben, auf 2,975 Millionen. Das war viel stärker als allgemein erwartet und bestätigt den ungünstigen Trend, der im Februar 2012 begann. Bislang war der Anstieg nur moderat, aber ein Aufschwung ohne einen Rückgang der Arbeitslosigkeit ist für mich keiner, der diesen Namen verdient. Von Vollbeschäftigung kann keine Rede sein. Es gibt etwa siebenmal mehr Arbeitslose als offene Stellen. Bei Vollbeschäftigung würde ich mindestens Gleichstand zwischen dem Angebot an Arbeit und der Nachfrage nach Arbeit erwarten. Die Unternehmen haben im Allgemeinen kaum Probleme, Mitarbeiter zu finden. Den Löhnen nach zu urteilen, findet kein Bieterwettstreit um die knappe Ressource Arbeit statt. Es gibt vielmehr ein Überangebot und es scheint größer zu werden.

Grafik: Deutscher Arbeitsmarkt: Erwerbstätige und Arbeitslose
Deutscher Arbeitsmarkt: Erwerbstätige und Arbeitslose

Bei der Beschäftigung sieht es nach wie vor ganz gut aus, aber wer die Daten genauer unter die Lupe nimmt, erkennt rasch, dass ihre Zunahme erkauft wird durch einen Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit: Immer mehr Leute arbeiten immer weniger. Wenn das auf freiwilliger Basis geschähe, würde ich mich freuen – es könnte ein Zeichen zunehmenden Wohlstands sein. Ich habe da aber meine Zweifel. Mindestens ebenso plausibel ist, dass sich die Schere zwischen Gutverdienern und Leuten, die knapp am Existenzminimum leben und Teilzeit arbeiten müssen, ständig weiter öffnet. Wer früher arbeitslos gewesen wäre, ist heute gezwungen, sich mit schlecht bezahlten Jobs durchzuschlagen.

Grafik: Entwicklung der Beschäftigung in Deutschland seit dem 1. Quartal 1991
Entwicklung der Beschäftigung in Deutschland seit dem 1. Quartal 1991

Insgesamt haben wir es immer noch mit einer ausgeprägten Schwäche der Nachfrage zu tun. In diesem Jahr wird das reale BIP nur um 0,4 Prozent zunehmen – 2012 waren es auch nur 0,7 Prozent. Die deutsche Wirtschaft steht nur im Vergleich zu den Nachbarländern in der Währungsunion gut da, für sich genommen schrappt sie am Rande einer Rezession entlang.

Wir sollten uns nicht allein darauf verlassen, dass die EZB mit ihrer extrem lockeren Politik die Wirtschaft schon in Schwung bringen wird. In Deutschland hat bisher lediglich der Bau positiv auf die Zinssignale reagiert, nachdem er lange Jahre darnieder gelegen hatte: Im Baugewerbe übertrafen die realen Auftragseingänge im Juni und Juli ihre Vorjahreswerte um 11,3 Prozent. Dagegen stagnieren die Auftragseingänge in der Industrie seit fast drei Jahren und sind immer noch niedriger als vor der Rezession 2008/2009.

Grafik: Realer Auftragseingang in Industrie und beim Bau
Realer Auftragseingang in der Industrie und beim Bau

Vermutlich hat die Geldpolitik lediglich Schlimmeres verhindert. Besonders wirksam ist sie selbst im angeblich so gesunden Deutschland nicht: Im Juni und Juli übertrafen die Kredite an Unternehmen und Privatpersonen ihren Vorjahresstand lediglich um 0,3 Prozent, was inflationsbereinigt einem Rückgang entspricht. Das geht nun schon seit zwei Jahren so. Im übrigen Euroland war es in den beiden Monaten zu einem nominalen Rückgang von 2,2 Prozent und damit zu einem realen Rückgang von fast vier Prozent gekommen. Die EZB tut ihr Bestes, mit negativen Realzinsen und einem unbegrenzten Angebot an Liquidität, aber die Adressaten ihrer Bemühungen zeigen ihr die kalte Schulter. In einer Krise, in der der Schuldenabbau bei Regierungen und Haushalten in den meisten Ländern der Währungsunion Vorrang hat, kann die Geldpolitik nicht viel ausrichten. Wer unbedingt seine Schulden vermindern will, hat keine Lust auf neue.

Insgesamt kommt daher der Finanzpolitik eine viel wichtigere Rolle zu, als es die meisten Kommentatoren und Politiker wahrhaben wollen. Das gilt auch für Deutschland: Dass es nicht so richtig läuft mit der Konjunktur, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass trotz der niedrigen Kapazitätsauslastung so viel Wert auf die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gelegt wird. Da sich die Outputlücke wegen des unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums weiter vergrößert, hat die Reduktion des staatlichen Haushaltssaldos von -0,8 Prozent des BIP im Jahr 2011 auf voraussichtlich +0,1 Prozent in diesem Jahr einen beträchtlichen restriktiven Effekt auf die Konjunktur. Er wird nur dadurch etwas abgemildert, dass die langfristigen Realzinsen, anders als in den Krisenländern der EWU, seit einiger Zeit in der Nähe von null liegen.

Grafik: Finanzierungssalden der öfffentlichen Haushalte in Deutschland
Finanzierungssalden der öfffentlichen Haushalte in Deutschland

Die neue deutsche Regierung wird angesichts der Haushaltslage ausreichend finanziellen Spielraum für Wachstum und Arbeitsplätze haben. Eine Umstrukturierung des Steuersystems ist überfällig, weil sich die Prioritäten geändert haben, aber es wäre für die Konjunktur Gift, wenn versucht würde, die Steuern insgesamt anzuheben, ohne gleichzeitig die Ausgaben zu erhöhen. Es geht aber nicht nur um die Konjunktur, noch wichtiger ist, dass die Produktivität endlich wieder zunimmt – weil sie die Basis für den künftigen Wohlstand ist. Zudem muss die Energiewende zügig vorangetrieben werden. Die Solar- und Windbranche hat sich inzwischen zu einem Jobmotor entwickelt: Es entstehen dort mehr neue Arbeitsplätze als in der traditionellen Energiewirtschaft wegfallen. Die erneuerbaren Energien sind Deutschlands Silicon Valley.

Sehr beunruhigend ist, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion je Stunde, also die Produktivität, zuletzt nicht höher war als im ersten Quartal 2008, vor der Rezession. In den zehn Jahren zuvor hatte sie im Durchschnitt um jährlich 1,6 Prozent zugenommen. Mit anderen Worten: Sie liegt gegenwärtig um etwa 7,7 Prozent unterhalb ihrer alten Trendlinie. Die Outputlücke, die Differenz zwischen aktuellem und potenziellem BIP, bewegt sich im Übrigen in einer ähnlichen Größenordnung (-5,5 Prozent). Noch anders ausgedrückt: So lange so viele Kapazitäten ungenutzt bleiben, verzichtet Deutschland jährlich auf ein Einkommen von rund 150 Milliarden Euro. Dagegen verblasst alles, was in Berlin über neue Steuern und Haushaltskonsolidierung diskutiert wird.

Grafik: Entwicklung der Produktivität der deutschen Wirtschaftt seit 1970
Entwicklung der Produktivität der deutschen Wirtschaft seit 1970

Vor allem die Rentenversicherung ist darauf angewiesen, dass der mittelfristige Wachstumspfad wieder steiler wird. Auf einen Beschäftigten entfallen immer mehr Rentner. Damit die aktive Bevölkerung nicht unzumutbar belastet wird, muss das reale Einkommen dauerhaft wieder kräftiger zunehmen. Der drohende Verteilungskonflikt zwischen Jung und Alt lässt sich nur vermeiden, wenn die zunehmenden Lasten für die Alten aus steigenden Einkommen bestritten werden. Mit anderen Worten, die neue Regierung muss in dieser Hinsicht dringend etwas tun. Das bedeutet, endlich ernst zu machen mit der Umsetzung des immer wieder laut verkündeten Ziels, mehr Ressourcen in die Bildung und die Forschung und Entwicklung zu leiten. Der Kuchen muss größer werden – das ist auf mittlere Sicht wichtiger, als ihn etwas anders aufzuteilen (obwohl das für sich genommen ebenfalls wichtig ist und nicht nur der Gerechtigkeit, sondern vermutlich auch dem Wachstum dient).

Sechs Quartale lang waren die deutschen Bruttoausrüstungsinvestitionen gefallen, ehe sie im zweiten Quartal erstmals wieder leicht gestiegen sind. Damit lagen die realen Ausrüstungsinvestitionen, auf die es insbesondere ankommt, immer noch um 16,6 Prozent niedriger als um die Jahreswende 2007/2008. Die Investitionsquote liegt inzwischen weit unter den Werten, die früher üblich waren. Vor allem die Nettoanlageinvestitionen sind auf ein erschreckend niedriges Niveau gesunken (2,6 Prozent des BIP). Im internationalen Vergleich ist das einer der niedrigsten Werte überhaupt. Hier liegt die wichtigste Erklärung, warum die Produktivität so langsam zunimmt und so viel Wohlstand verschenkt wird.

Grafik: Nettoanlageinvestitionen in Deutschland seit 1970 (in Prozent des BIP)
Nettoanlageinvestitionen in Deutschland seit 1970 (in Prozent des BIP)

Der Grund für diese miesen Werte sind nicht die Löhne, um das einmal klarzustellen: Auf Stundenbasis waren sie seit dem letzten zyklischen Hoch vor knapp fünfeinhalb Jahren im Durchschnitt jährlich nur um 2,3 Prozent gestiegen, verglichen mit einem durchschnittlichen Anstieg der Verbraucherpreise um 1,5 Prozent. Real war das zwar mehr als in den Jahren zuvor, aber trotzdem deutlich unter dem mittelfristigen Anstieg der Produktivität (siehe oben), an dem sich die Lohnabschlüsse ausrichten sollten. Die Politik der Gewerkschaften ist ganz auf die Sicherung der Beschäftigung ausgerichtet und könnte moderater nicht sein. Seit dem Tiefpunkt der Rezession im Frühjahr 2009 nehmen andererseits die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen rasant zu (+30,2 Prozent). An den Gewinnen kann es also auch nicht liegen, dass es bei den Investitionen nicht läuft. Im Ausland wird allerdings weiterhin kräftig investiert: Dort sind die Grenzerträge wegen der Kapitalknappheit höher als im Inland. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen strukturellen Faktor. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss von fast sieben Prozent des BIP, der die Netto-Kapitalexporte des Landes widerspiegelt, legt eine solche Sicht der Dinge ebenfalls nahe. In der noch kapitalreicheren Schweiz liegt die Quote sogar bei knapp zwölf Prozent und in Schweden und den Niederlanden sind die Kapitalexporte ähnlich hoch wie in Deutschland.

Ich bin hin- und hergerissen, ob die niedrige Investitionsquote tatsächlich ein Problem ist und ob der Staat etwas dagegen unternehmen sollte. Für die Investitionsneigung wäre es jedenfalls gut, wenn die Nachfrage der Haushalte und des Staates kräftiger zunehmen würde als bisher. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre in dieser Hinsicht auf alle Fälle kontraproduktiv, ebenso wie eine weitere forcierte Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Die Mehrwertsteuer müsste eigentlich gesenkt werden. Wenn die Steuereinnahmen nicht zurückgehen sollen, wäre eher an eine höhere Mineralölsteuer oder eine Steuer auf die Emission von CO2 zu denken. Die Energiewende bleibt ein lohnendes Projekt, nicht nur aus Umweltgründen, sondern auch wegen der beträchtlichen positiven Terms-of-Trade-Effekte (importierte Energie wird relativ billiger – was dem allgemeinen Wohlstand zugutekommt), sowie der vielen neuen Jobs, die im Handwerk und in der Industrie entstehen.

Die Binnennachfrage muss auch deswegen ganz oben auf die politische Prioritätenliste gesetzt werden, weil sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft seit etwa einem Jahr deutlich verschlechtert. Vor allem die europäischen Krisenländer versuchen mit aller Macht, durch niedrigere Löhne und produktivitätssteigernde Entlassungen gegenüber Deutschland aufzuholen. Das Exportieren ist daher nicht mehr so leicht. Neuerdings wertet sich der Euro zudem gegenüber dem Dollar auf und damit gegenüber dem größten Währungsraum der Welt. Auch das dürfte die Exporte zunehmend erschweren. An den Devisenmärkten ist offenbar nicht unbemerkt geblieben, dass Euroland in diesem Jahr in der Leistungsbilanz, die mittelfristig als wichtigste Determinante des Wechselkurses gilt, einen gewaltigen Überschuss erzielen wird. Er reflektiert vor allem die Rezession und die großen Kapazitätsreserven der Währungsunion sowie die Tatsache, dass das BIP im Rest der Welt real mit der immer noch beachtlichen Rate von etwa drei Prozent zunimmt.

Grafik: Realer Wechselkurs des Euro für Deutschland
Realer Wechselkurs des Euro für Deutschland

Außerdem wird den Politikern Eurolands zunehmend abgenommen, dass sie den Euro nicht scheitern lassen werden. Statt mit Kapitalflucht haben wir es offenbar seit einiger Zeit wieder mit einer Rückkehr der Anleger in die Wertpapiermärkte der Krisenländer zu tun. Das hat unter anderem dazu geführt, dass die Renditen spanischer und italienischer Staatsanleihen auf 4,2 und 4,3 Prozent gesunken sind; vor einem Jahr waren es noch 5,8 und 6,1 Prozent. Die Renditen sind immer noch gefährlich hoch, aber sie bewegen sich in die „richtige“ Richtung. Der Nachteil ist allerdings, dass der feste Euro die internationale Konkurrenzsituation verschlechtert. Das ist ein weiteres Argument mehr für eine expansivere Finanzpolitik in den Überschussländern der Währungsunion. Eine Aufwertung dürfte im Übrigen die Inflation, die schon jetzt weit unterhalb ihres Zielwerts liegt, weiter dämpfen.