Wer gedacht hatte, mit dem Rückgang des deutschen BIP um 8,2% im vierten Quartal (Veränderung ggü. dem 3. Quartal, auf ein Jahr hochgerechnet, wie in den USA üblich) sei das Schlimmste überstanden, hat sich leider geirrt. Es geht im freien Fall nach unten, und wenn ich mir die Auftragseingänge ansehe, also den zuverlässigsten Frühindikator, ist noch keine Wende in Sicht. Nur in Japan ist die Rezession ähnlich tief. Beide Länder leiden unter ihrer strukturellen Konsumschwäche und dem Einbruch der Kapitalgüterexporte.
Für die USA wird für das erste Quartal ein BIP-Rückgang in der Größenordnung von 4½% bis 6% erwartet, in Deutschland können es leicht 12% werden. Mein Kollege Uwe Richter hat das im Folgenden mal ausgerechnet und gewährt damit einen Blick in die Werkstatt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechner. Die gibt es in den statistischen Ämtern, bei den Notenbanken, den internationalen Organisationen, den Regierungen, den Banken, Verbänden und bei den volkswirtschaftlichen „Forschungsinstituten“.
Dazu, bevor es losgeht, einige Bemerkungen am Rande (in einem Blog darf man auch mal etwas abschweifen, finde ich): Die Gesamtrechner, die nicht nur in Deutschland gelegentlich ehrfürchtig „Weise“ genannt werden, beschränken sich nicht nur darauf, festzustellen, was ist, sonder wagen sich mit größter Selbstverständlichkeit auch an Prognosen, erleiden dabei allerdings regelmäßig Schiffbruch. Warum das? Weil sie sich a) stets im Konsens auf eine mittlere und damit tendenziell optimistische Variante einigen („es wird schon besser werden“) und weil b) die Prognosen entweder theoriefrei sind oder wichtige Determinanten vernachlässigt werden, und zwar in der Regel solche, die lange Zeit keine Rolle gespielt hatten, wie etwa die Effekte geplatzter Blasen auf den Märkten für Aktien, Rohstoffe oder Immobilien. Sogenannte nicht-lineare Einflüsse werden entweder nicht gesehen oder sie werden unterschätzt. Im Ergebnis heißt das, dass die oberen konjunkturellen Wendepunkte nie, und die unteren Wendepunkte fast immer zu früh vorhergesagt werden.
Ein anschauliches Beispiel für die Probleme der Gesamtrechner hat die EZB in ihrem Monatsbericht vom März geliefert. In einer Graphik zeigt sie, wie sich ihre BIP-Prognose und die anderer Institutionen für Euroland im Laufe der Zeit geändert hat (Seite 72). Prognostiziert wurde für 2009 im März 2008 noch eine Zuwachsrate von etwa +2% (real, im Vorjahresvergleich) – inzwischen sind daraus –2,7% geworden, ein Swing von beinahe fünf Prozentpunkten. Ich wette, dass daraus bis zum Herbst mindestens acht Punkte geworden sind. (Die jüngste Interims-Prognose der OECD, die nach Erscheinen des EZB Monatsberichts veröffentlicht wurde, liegt mittlerweile bei -4,1%.)
Immerhin ist es ganz ehrenhaft, dass die EZB ihre Arbeit so selbstkritisch darstellt. Sie weist, weil ihr die katastrophale Qualität ihrer Prognosen vielleicht doch nicht ganz geheuer ist und ihrem Ruf abträglich sein könnte, darauf hin, dass andere „seriöse“ Gesamtrechner ebenso wie die Marktteilnehmer genauso schief lagen und impliziert damit, dass sie sich in guter Gesellschaft befand. Man kann allerdings auch den Verdacht hegen, dass sie das BIP-Wachstum schon deshalb gern mal überschätzt, damit sie nicht zu Zinssenkungen gedrängt werden kann, die sie für verfrüht hält. Ähnlich kann auch das ständige Leugnen einer Deflationsgefahr interpretiert werden.
Was nun folgt, ist keine eigene Prognose, sondern eine Schätzung des deutschen BIP für das gerade beendete erste Quartal 2009. Die wichtigsten Daten liegen bis Februar vor, und für den März haben wir bereits die Zahlen für den Arbeitsmarkt und die Inflation. Es ist ein Versuch, möglichst zeitnah zu verstehen, wie die Lage ist. Das ist aus vielen Gründen eine wertvolle Information. Vor allem kann mit den Ergebnissen die Illusion zerstreut werden, dass sich die Dinge schon einrenken werden und finanzpolitisch nichts weiter zu tun ist.
So wie in der offiziellen Statistik das BIP von der Verwendungs- und der Entstehungsseite her berechnet wird, so kann man auch bei der Schätzung beide Seiten getrennt betrachten. Es werden jeweils die Wachstumsbeiträge der einzelnen Teilkomponenten geschätzt, die dann in ihrer Summe das prozentuale Wachstum des realen BIP gegenüber dem vierten Quartal 2008 ergeben.
Uwe Richter beginnt mit der Verwendungsseite des BIP, und da mit dem Außensektor: Die realen Warenexporte lagen bei -12,6% (Jan/Feb ggü. 08Q4) und -12,8% (Feb. ggü. 08Q4), die realen Importe bei -5,5% (Jan/Feb ggü. 08Q4) und -7,3% (Feb. ggü. 08Q4).
Wenn man davon ausgeht, dass im März die Exporte und Importe real weiter zurückgegangen sind, wobei zuletzt (im Februar) die realen Importe stärker gesunken sind als die realen Exporte (-4% und -0,5% im Vormonatsvergleich), dann dürften die zweiten Zahlen, also die für Februar allein, ein realistischeres Bild der weiteren Entwicklung wiedergeben.
Geht man also in der BIP-Rechnung davon aus, dass die Exporte um 12,5% und die Importe um 7% gegenüber dem vierten Quartal gesunken sind, hat der Außenbeitrag einen Wachstumsbeitrag im ersten Quartal von nicht weniger als –2,8 Prozentpunkten!!! (Übrigens dürfte es in den USA einen ähnlich großen Beitrag zum BIP-Wachstum gegeben haben – nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Wegen der stark rückläufigen realen Importe sinkt das Leistungsbilanzdefizit dort inzwischen sehr rasch.)
Gleichzeitig dürften die deutschen Ausrüstungsinvestitionen eingebrochen sein, vielleicht um 10% (ggü. dem Vorquartal, q/q) – das wäre ein Wachstumsbeitrag von -0,8 Prozentpunkten. Warum so viel? Die Produktion des Maschinenbaus ist um 18,5% gesunken (Jan/Feb ggü. 08Q4), die der Investitionsgüterhersteller insgesamt um 18,6% (Jan/Feb ggü. 08Q4).
Die Bauinvestitionen waren ebenfalls rückläufig, wenn man von der Produktion im Bauhauptgewerbe ausgeht: -2,9% (Jan/Feb ggü. 08Q4). Der Wachstumsbeitrag dürfte bei -0,1 oder -0,2 Prozentpunkten liegen.
Die drei Komponenten „Außenbeitrag“, „Ausrüstungsinvestitionen“ und „Bauinvestitionen“ ergeben daher einen Rückgang des realen BIP von 3,7 oder 3,8% (q/q), wenn sich bei den übrigen nichts geändert hat.
Hat es aber natürlich. Wie genau es beim privaten Konsum aussah, lässt sich nur schwer einschätzen. Die Einzelhandelsumsätze (real, ohne Kfz) sind um 0,4% gesunken (Jan/Feb ggü. 08Q4) – für die Einzelhandelsumsätze „mit Kfz“ gibt es zur Zeit keine preisbereinigten Zahlen. Nominal ist der Umsatz um gut 7% gestiegen. Uwe Richter vermutet, dass der Wachstumsbeitrag des privaten Konsums leicht positiv gewesen sein dürfte, sich also kaum von Null unterscheidet.
Bleibt der Staatskonsum. Hier schätzt er, dass der Beitrag ebenfalls leicht positiv war und vielleicht +0,1 Prozentpunkte betrug.
Wenn man für den privaten Konsum sehr optimistisch einen Wachstumsbeitrag von +0,2 Prozentpunkten veranschlagt, was einem Zuwachs von 0,4% (q/q) entspricht, dürfte das reale BIP im ersten Quartal 2009 von der Verwendungsseite her (ohne Vorratsveränderungen) um 3,4% (q/q) gefallen sein.
Auf der Entstehungsseite des Sozialprodukts sieht es wie folgt aus:
Der Produktionsindex für das Produzierende Gewerbe ohne Bau ist um 11,5% zurückgegangen, der für das Bauhauptgewerbe um 2,9% (jeweils Jan/Feb ggü. 08Q4).
Geht man in der BIP-Rechnung davon aus, dass die reale Wertschöpfung des Produzierenden Gewerbes (ohne Bau) im ersten Quartal um 10% (q/q) gesunken ist, entspricht das allein einem Wachstumsbeitrag von -2,2 Prozentpunkten.
Die Bauinvestitionen dürften um 2% (q/q) gefallen sein, woraus sich für sie ein Wachstumsbeitrag von -0,1 Prozentpunkten errechnet.
Handel, Gastgewerbe und Verkehr, die zusammen einen BIP-Anteil von 16% haben, dürften leicht geschrumpft sein, ebenso der Output von Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleistern, deren Anteil bei 27% des BIP liegt. Angenommen, beide Bereiche waren um jeweils 1% (q/q) rückläufig, ergibt das zusammengenommen einen Wachstumsbeitrag von -0,5 Prozentpunkten.
Öffentliche und private Dienstleister, die nächsten Kandidaten auf der Entstehungsseite des BIP, mit einem Anteil von 20%, dürften einen Wachstumsbeitrag von vielleicht null Prozentpunkten geleistet haben. Der Wachstumsbeitrag dieses Wirtschaftsbereichs liegt im Allgemeinen immer nahe bei diesem Wert.
Alle Wirtschaftsbereiche zusammen ergeben demnach einen negativen Wachstumsbeitrag von etwa 2,8 Prozentpunkten.
Es fehlen jetzt noch die Nettogütersteuern, die einen Anteil von 10% am BIP haben. Da das BIP auf der Verwendungsseite zu Marktpreisen ausgewiesen wird, die Wertschöpfung der Wirtschaftsbereiche aber zu Herstellungspreisen berechnet wird, müssen die Nettogütersteuern auf der Entstehungsseite noch hinzugefügt werden. Im vierten Quartal 2008 lag ihr Wachstumsbeitrag bei -0,3 Prozentpunkten. Im ersten Quartal 2009 könnte es ähnlich gewesen sein.
Von der Entstehungsseite her ist ein Rückgang des BIP um 3% (q/q) also nicht unrealistisch.
Kommt die Rechnung auf der Verwendungsseite in etwa hin, also -3,4% (q/q), würden die Vorratsveränderungen einen Wachstumsbeitrag von +0,4 Prozentpunkten haben. Demnach hätte sich damit der volkswirtschaftliche Lagerbestand weiter erhöht. Im letzten Quartal 2008 lag dessen Wachstumsbeitrag bereits bei +0,5 Prozentpunkten.
Kann das sein? Jedenfalls gehen wir dann mit einem überhöhten Lagerbestand ins zweite Quartal. Eine Rezession kann aber nur enden, wenn sich die Vorräte vermindern.
So oder so, im ersten Quartal ist es beim realen Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt wohl zu einem Rückgang von 3% gegenüber dem vierten Quartal 2008 gekommen. Das entspricht einer Verlaufsrate von -11,5%. Die Rezession ist dabei, in eine Depression abzugleiten.