Augenblicklich sind die Renditen für Anleihen nicht nur so niedrig wie selten zuvor, sie unterscheiden sich zudem auch kaum mehr, gleich ob es sich um Restlaufzeiten von zwei, fünf oder zehn Jahren handelt. Die Zinsstrukturkurve ist flach, wie es im Finanzjargon heißt. Nicht mehr lange, und sie dürfte invers sein, also negativ geneigt. Normal ist eine positive Neigung: Man zahlt als Schuldner – bzw. bekommt als Anleger – im Allgemeinen mehr für zehnjährige Anleihen als für zweijährige.
Meist gilt eine invertierte Zinskurve als Vorbote einer kommenden Rezession. Ihre Neigung ist die wichtigste der zehn Komponenten im amerikanischen Index of Leading Indicators, der in den vergangenen 50 Jahren ein einigermaßen verlässlicher Frühindikator für Rezessionen war und daher für Wirtschaftspolitiker ein Signal für Gegenmaßnahmen lieferte. Man muss aber dazusagen, dass der Abstand zwischen Signal und Einsetzen der Rezession stark variiert, so dass niemand wirklich genau weiß, wann denn nun zu handeln ist. Außerdem sind von den zwölf Rezessionen, die vorhergesagt wurden, nur sieben tatsächlich eingetreten. Das relativiert die Relevanz der Zinskurve für die Konjunktur.
Warum spielt ihre Neigung aber überhaupt eine Rolle? Am wichtigsten ist der Aspekt, dass sich für Banken die sogenannte Fristentransformation dann nicht mehr lohnt, wenn die kurzen Zinsen genauso hoch oder höher sind als wie die am langen Ende. Denn eine Haupteinnahmequelle der Banken ergibt sich aus der Differenz zwischen den niedrigen Kosten der kurzfristigen Einlagen – die aber de facto aus Sicht der Banken langfristige Einlagen mit niedrigen Zinsen sind – und den höheren Renditen der länger laufenden Kredite und festverzinslichen Wertpapiere. Wenn diese schöne Differenz auf einmal weg ist, werden weniger Kredite vergeben und weniger Anleihen gekauft, zudem sind die Banken gezwungen, ihren Kunden höhere Zinsmargen abzuverlangen. Das dämpft natürlich die Kreditvergabe und damit die Konjunktur.
Ein weiterer Aspekt sind die Inflationserwartungen. Normalerweise sind die Anleger über die fernere Zukunft unsicherer als über die nähere. Es ist relativ einfach abzuschätzen, wie die Inflation in zwei Jahren sein wird, weil sich die Lohnsteigerungen, ihre Haupttriebfeder, über einen solchen relativ kurzen Zeitraum hinweg gut abschätzen lassen. Je weiter man sich von der Gegenwart entfernt, desto schwieriger wird die Sicht. Diese Unsicherheit bezüglich der langen Frist, die sich in einer strukturell höheren Volatilität der Anleihekurse niederschlägt, lassen sich die Anleger durch höhere Zinsen honorieren. In den vergangenen vierzig Jahren lagen die Renditen der zehnjährigen Bundesanleihen im Durchschnitt um 1,2 Prozentpunkte über den Interbankensätzen für drei Monate. Wenn die langen Zinsen also niedriger sind als die kurzen, bedeutet dass, dass die Marktteilnehmer glauben, dass die künftige Inflation niedriger sein wird als die heutige, oder dass die Realzinsen niedriger sein werden als sie es heute sind. Beides ist meist ein Zeichen dafür, dass es mit der Konjunktur bergab gehen wird.
Wie wird es zu einer fallenden Zinskurve in Euroland kommen? Eine Inversion kann dadurch zustande kommen, dass die kurzen Zinsen steigen, die langen fallen, die kurzen rascher steigen als die langen, oder dass die kurzen langsamer sinken als die langen. Habe ich etwas vergessen? Vielleicht, dass die kurzen Zinsen steigen und die langen fallen.
Betrachten wir zunächst die Zinsen am kurzen Ende. Die EZB hat unmissverständlich klargemacht, dass sie mit der Normalisierung der Notenbankzinsen fortfahren wird, bis Neutralität erreicht ist, das heißt ein Zinsniveau, das die Nachfrage weder stimuliert noch bremst. Sie wird in etwa 4 Prozent anstreben, das Produkt aus der Zielinflationsrate von etwas unter 2 Prozent und dem mittelfristigen Wirtschaftswachstum von etwas über 2 Prozent. Dahin wird es also gehen, soweit das die Konjunktur und der Wechselkurs zulassen. Das Zinsniveau am ganz kurzen Ende wird demnach mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent im Frühsommer nächsten Jahres um 0,75 Prozentpunkte höher sein als heute, und damit auch die Rendite der zweijährigen Bonds mit nach oben ziehen, die in vielen Analysen der Renditekurve das kurze Ende markiert. Allein von daher dürfte aus der flachen Kurve, die heute bei 3,72 Prozent liegt, eine negativ geneigte werden.
Und am langen Ende? Wenn die Refinanzierung teurer wird, also die Fristentransformation nicht mehr lohnt, steigen tendenziell auch die Renditen der fünf-, zehn- oder sogar der dreißigjährigen Anleihen. Es gibt aber einen Faktor, der in die entgegengesetzte Richtung zerrt: die verbesserten Inflationserwartungen, die sich aus der restriktiveren, die Konjunktur dämpfenden Geldpolitik ergeben. Anleger geben sich mit einem bescheidenen Risikoaufschlag in den Renditen zufrieden, wenn es danach aussieht, dass die Inflation eher sinken als steigen wird. Mit anderen Worten: dieser Zusammenhang senkt die langen Zinsen bei einer restriktiveren Geldpolitik.
Neuerdings achten die Marktteilnehmer auch sehr auf die Effekte, die steigende Zinsen auf die Assetpreise haben. Es kann ja gut sein, dass der Anstieg der Aktienkurse und der Immobilienpreise in erheblichem Maße durch eine Zunahme der Kredite verursacht wurde. Diese expandieren seit langem schon mit der nicht gerade geringen Rate von etwa 11 Prozent. Soweit die Assetpreise tatsächlich durch die sogenannte Leverage getrieben werden, macht es sie entsprechend zinsempfindlich. Wenn also die künftigen Erträge aus Aktien und Häusern jetzt immer mehr durch den Anstieg der Kreditzinsen geschmälert werden, kommt man irgendwann einmal an den Punkt, wo die Rechnung nicht mehr aufgeht, wo Positionen glattgestellt werden müssen, Aktien und Häuser also verkauft werden. Deren Preise fallen dann. Das ergibt den berühmten Vermögenseffekt, nur diesmal andersherum als üblich. Die Haushalte fühlen sich ärmer, wenn nicht sogar zu hoch verschuldet, und schränken ihren Konsum ein. Das Modell Japan lässt grüßen. Was die Renditekurve angeht, kommt es zu einem Rückgang der Inflationserwartungen und damit der langfristigen Zinsen und so zu einer zusätzlichen Inversion der Kurve vom langen Ende her.
Es ist vorstellbar, dass wir uns in diese Richtung bewegen. Noch sieht alles ganz freundlich aus, die Wirtschaft ist gut in Schwung, in den Umfragen überwiegt der Optimismus, die Gewinne explodieren, der Wechselkurs stimmt, und noch tun die höheren Zinsen nicht weh. Es kann trotzdem im Verlauf des nächsten Jahres kritisch werden, wenn nämlich die hohen Zinsen zusammenkommen mit nach wie vor niedrigen Lohnsteigerungen, einer Abkühlung der Weltkonjunktur und einem viel festeren Euro im Zuge des Abbaus der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte.
Wir bei Herdentrieb denken, dass die europäische, und seit neuestem vor allem auch die deutsche Konjunktur sehr robust ist und noch einiges an Zinserhöhungen wegstecken kann, wir sind uns aber auch im klaren darüber, dass die Risiken nicht kleiner werden. Wir bleiben am Ball.