Im zweiten Quartal ist das deutsche Sozialprodukt stärker gestiegen als von den meisten erwartet, wenn auch nicht so stark wie im ersten. Real und saisonbereinigt betrug das Plus 0,4 Prozent, nach 0,7 Prozent, und lag damit um 1,8 Prozent über dem Vorjahreswert. Nach der kleinen Wachstumsdelle von Ende 2011 bis Anfang 2013 befindet sich die deutsche Wirtschaft weiterhin im Aufschwung. Er ist nicht spektakulär, aber robust, und kann sich international sehen lassen. In den USA betrugen die vergleichbaren Quartalszahlen beispielsweise nur 0,3 und 0,2 Prozent.
Bemerkenswert ist, dass die Anzahl der neuen Jobs bis zuletzt zügig mit Raten von etwas mehr als ein Prozent zugenommen hat und dass, man höre und staune, die Verbraucherpreise in den vergangenen sechs Monaten mit einer Verlaufsrate von 1,7 Prozent gestiegen sind. Es ist eine fast ideale Mischung. Zudem gibt es keine Anzeichen, dass die Auftriebskräfte demnächst nachlassen könnten. Im Bau lief es im zweiten Quartal schlecht, aber wenn ich mir die realen Auftragseingänge im Bauhauptgewerbe ansehe, kann ich nur folgern, dass es dort in den kommenden Quartalen einen ausgewachsenen Boom geben wird – sie übertrafen im April und Mai ihre Vorjahreswerte um 17,1 Prozent. Der Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts, ein wichtiger Frühindikator für die Industrie, den Handel und den Bau, bewegt sich nach wie vor auf sehr hohem Niveau.
Gibt es einen Haken in diesem goldilocks-Szenarium? Ja. Es ist die Tatsache, dass die Expansion des realen BIP wieder einmal fast allein vom Außenhandel getragen wurde. Da dessen Beitrag zur Gesamtwachstumsrate von 0,4 Prozent schätzungsweise 0,8 Prozentpunkte betrug, muss der Beitrag der Inlandsnachfrage im ersten Quartal negativ gewesen sein (-0,4 Punkte). Die Überschüsse in der Leistungsbilanz werden größer und größer, während die Inlandskonjunktur hinterherhinkt. Vor allem im Ausland wird beklagt, dass das deutsche Wachstum aus dem Lot ist: Die deutschen Überschüsse sind die Defizite der Anderen.
Das muss nicht so bleiben. Aber der Trend ist ziemlich eindeutig. Inzwischen bewegt sich der Überschuss in der Leistungsbilanz für das Gesamtjahr in Richtung 300 Mrd. Euro und entspricht damit fast 10 Prozent des Sozialprodukts. Nur wenige, durchweg gut aufgestellte Länder, kommen auf ähnliche Raten: die Skandinavier, die Niederlande, die Schweiz und in Asien Süd-Korea, Taiwan und Thailand. Bei dem heutigen Wechselkurs des Euro ist die deutsche Wirtschaft ganz offensichtlich super-wettbewerbsfähig.
Die Überschüsse bedeuten, dass unser Land ein gewaltiges Auslandsvermögen ansammelt. Nur in China geht es um ähnliche Größenordnungen. Das lässt sich auch anders ausdrücken: Weil sie so billig sind, ersetzen die deutschen Exporte in vielen Teilen der Welt die inländische Produktion. Das ist vor allem in den USA, in Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien der Fall. In den USA und in Großbritannien, wo die Beschäftigung bislang kräftig zunimmt, ist das kein Problem, in den Euroländern mit hoher Arbeitslosigkeit aber schon.
Deutschland wird von seiner wirtschaftlichen Kraft her und als größter Gläubiger immer dominanter. Dass das Ressentiments hervorruft, ist kein Wunder. Populistische Parteien gehen damit auf Stimmenfang (vgl. Philippe Legrain: Three Paths to European Disintegration, Project Syndicate, Aug 9, 2016) und fordern, den Euro aufzugeben und sich so vom deutschen „Joch“ zu befreien. Der Erfolg der britischen Volksabstimmung hat ihnen gezeigt, dass das machbar ist.
Es wird jedenfalls von vielen Seiten verlangt, dass die riesigen Überschüsse abgebaut werden müssen. In einer Währungsunion geht das leider nicht durch eine Aufwertung des „deutschen“ Euro, denn den gibt es nicht. Es geht nur über ein Zurückdrängen der Nachfrage in den Defizitländern und eine Stimulierung der Nachfrage in Deutschland, und das nachhaltig.
Allerdings müsste man vorher anerkennen, dass die deutschen Überschüsse tatsächlich ein Problem darstellen. In einer Währungsunion sind sie das zunächst einmal nicht, so wie beispielsweise die Überschüsse Bayerns gegenüber Brandenburg weder bekannt noch relevant sind. Sie schlagen sich nieder in der Verschuldung brandenburgischer Haushalte und Unternehmen gegenüber Bayern sowie in der Übertragung von Vermögen aller Art an die Bayern. Wenn im Osten die Arbeitslosigkeit steigt, kommt es zu Wanderungen in den Westen, einem Rückgang der relativen Löhne und Immobilienpreise sowie über die gesamtdeutschen Sozialsysteme zu einem Finanztransfer von West nach Ost.
Im Euroraum ist die Sache nicht so einfach. Es muss schon viel passieren, dass Leute aus dem Languedoc in Stuttgart auf Arbeitssuche gehen – durch die Sprachbarrieren und diverse institutionelle Hürden fehlt es an Mobilität, die die Arbeitsmärkte wieder ins Gleichgewicht bringen könnte. Zudem haben die Euroländer kein gemeinsames Sozialsystem. Deutschland kann theoretisch immer mehr ausländisches Vermögen bilden, also Firmen, Immobilien und Staatsanleihen aufkaufen, bis der Arzt kommt, aber wie lange kann das gutgehen? Insofern sind unsere Leistungsbilanzüberschüsse trotz der Währungsunion ein Problem. Sie könnten das Ende des Euro bedeuten.
Denn eins ist klar: Ländern wie Frankreich, Italien oder Griechenland zu empfehlen, Rezessionen zu veranstalten, einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit hinzunehmen und die Löhne zu senken ist so, als würde man ihnen kollektiven Selbstmord empfehlen. Da ist politisch nicht mehr viel Spielraum, wenn überhaupt.
Wir müssen akzeptieren, dass vor allem hierzulande etwas geschehen muss, wenn uns etwas am Fortbestand des Euro gelegen ist. Da die Geldpolitik als Akteur ausfällt, ebenso wie das Instrument „Wechselkurs“, müssen zum Einen die Löhne viel kräftiger steigen. Fragt sich, ob die Gewerkschaften da mitmachen. Solidarität gegenüber den Arbeitnehmern im europäischen Ausland ist de facto nicht vorhanden, und bisher sind sie gut damit gefahren, ihre Forderungen in den Lohnverhandlungen nicht auszureizen. Sie dürften einigermaßen zufrieden sein mit dem Mix aus moderaten Lohnerhöhungen und dem kräftigen Anstieg der Beschäftigung – warum sollten sie dieses erfolgreiche Modell aufgeben?
Es läuft daher darauf hinaus, dass der Staat das Wachstum, die Binnennachfrage und die Importe stimulieren muss. Dazu gehören nicht nur eine Steuersenkung, die Bürger mit einer hohen Konsumquote entlastet (also die unteren Einkommensschichten) sowie eine Umschichtung von Ausgaben zugunsten von Erziehung, Forschung, Weiterbildung und Infrastruktur, sondern vor allem ein Abbau des Haushaltsüberschusses und zusätzliche kreditfinanzierte Ausgaben. Die Bonität des Schuldners Bundesrepublik kann nicht besser, und die langfristigen Zinsen können kaum niedriger sein als zurzeit. Kleine Schritte werden dabei allerdings nicht ausreichen. Ich wiederhole: Der Überschuss in der Leistungsbilanz bewegt sich in Richtung 10 Prozent des BIP.
Einen solchen Ansatz zu verkaufen, wird angesichts der verbreiteten Selbstzufriedenheit und des Stolzes auf die staatlichen Haushaltsüberschüsse nicht leicht sein. Der beginnende Wahlkampf kann vielleicht manche Blockade auflösen. Es darf außerdem von den Politikern verlangt werden, dass sie die europäische Seite ihrer Aktivitäten im Blick haben. Wenn sie bei ihrer jetzigen Kirchturmpolitik bleiben, wird der Euro nicht zu retten sein. Er ist nicht für alle Teilnehmerländer so attraktiv, wie wir uns das gerne vorstellen.