Seyran Ates über unsere Umfrage

Zitat aus Spiegel Online:

SPIEGEL ONLINE: Eine neue Umfrag der Wochenzeitung „Zeit“ hat ergeben, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken Angela Merkel misstraut und sie nicht als ihre Kanzlerin empfindet. Wie erklären Sie sich das?

Ates: Dieses Ergebnis erstaunt mich überhaupt nicht – vor 40, 30 oder 20 Jahren wäre genau das gleiche herausgekommen. Es ist Fakt, dass das gegenseitige Misstrauen zwischen den in Deutschland lebenden Türken und der Mehrheitsgesellschaft riesig ist. Es gibt keine Vertrauensbasis, weil man nicht miteinander lebt. Viele hier lebende Türken sehen Deutschland als Gegner, hinzu kommen Kräfte, die den Migranten erschweren, hier anzukommen – wie die Verbände, die türkische Regierung, aber auch türkische Medien.

SPIEGEL ONLINE: Welche Verantwortung trägt die deutsche Regierung für dieses Ergebnis?

Ates: Die deutsche Regierung trägt eine Mitverantwortung, weil sie jahrzehntelang keine Integrationspolitik gemacht hat. Wir diskutieren doch erst seit dem 11. September 2001 über das Thema Islam in Deutschland.

Ein Grundsatztext von Seyran Ates zum Thema kommt in der nächsten ZEIT. Ich konnte ihn leider nicht mehr in unserem Schwerpunkt diese Woche unterbringen.

 

Ist Islamkritik ohne Islamophobie möglich?

Im folgenden ein (sehr langer) Beitrag über das Debattenjahr 2010, geschrieben für das Jahrbuch „Muslime in den Medien“. Regelmäßigen Lesern dieses Blogs werden einige Passagen bekannt vorkommen.

Die deutsche Debatte des Jahres 2010 ist bei aller Vielstimmigkeit von ei­nem einzelnen Buch geprägt, und das gilt nicht nur für die so genannte „Is­lamkritik“: Thilo Sarrazins Sachbuchbestseller „Deutschland schafft sich ab“.
Die merkwürdige Ironie dieses Erfolgs ist, dass Sarrazins Buch als Beitrag zur „Islamkritik“ in die Geschichte eingegangen ist. Dafür gibt es Gründe, etwa die Gegenwart von Necla Kelek, die auch als sogenannte „Islamkriti­kerin“ firmiert, bei der Vorstellung des Buchs in Berlin. Auch bereits die Diskussion vor Erscheinen des Buchs aufgrund von Sarrazins Interview mit „Lettre International“ im Herbst 2009 wird hier die Weichen der Re­zeption gestellt haben. Schon dieses Interview wurde weithin als Angriff auf Muslime und den Islam wahrgenommen.
Was das Buch selber angeht, ist die „islamkritische Rezeption“ aller­dings erklärungsbedürftig: Im März 2011 erklärt der Autor bei Gelegenheit eines Auftritts in der Evangelischen Akedemie Tutzing, eigentlich habe er „ja gar kein Buch über Muslime schreiben“ wollen, sondern – über den Sozi­alstaat. Und mit der Zuwanderung beschäftige er sich entsprechend auch erst ab Seite 256.
Das ist sachlich richtig, macht die Aufregung um Sarrazin aber noch rätselhafter: Alles ein großes Missverständnis? Sind die Muslime selber schuld, wenn sie sich angesprochen fühlen? Polemisch gesagt: Typisch isla­mische Ehrbesessenheit und Neigung zum Beleidigtsein? Und was die vielen Hunderttau­sende Käufer angeht, haben die dann auch alles missverstanden?
Das Ansehen des Islams und der Muslime ist auf einem Tiefpunkt, wie immer neue Umfragen belegen. Sarrazin aber hat, wenn man seine Äu­ßerungen in Tutzing ernst nimmt, daran weder Anteil, noch profitiert er davon, denn eigentlich geht es ihm ja nur um „den Sozialstaat“? Warum bloss hört das Publikum „Islam“, wenn der Sozialstaat gemeint ist?
„Islamkritik“ ist eine Art Beruf geworden. Seyran Ateş, Autorin meh­rerer Bücher, die sich mit Geschlechterfragen und den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft befassen, verbittet sich mittlerweile, so bezeichnet zu werden: Sie ist selber gläubige Muslimin und möchte nicht als jemand rubriziert werden, der etwas „gegen den Islam“ hat. Ihre Auseinandersetzung mit dem Missständen, die religiös rechtfertigt werden, will sie nicht als religionsfeindlich missverstanden wissen. Ateş hat guten Grund zu dieser Distanzierung: Was hierzulande weithin als „Islamkritik“ läuft, hat sich von der notwendigen intellektuellen, historischen, theologischen, politischen Auseinandersetzung mit einer Weltreligion immer weiter entfernt – und ist zur Stimmungsmache gegen einen Bevölkerungsteil verkommen. Es muss nicht so bleiben. Vielleicht kann es auch gelingen, zur Sachlichkeit zurückzukehren. Vielleicht kann man die Übertreibungen unserer Debatte auch wieder einfangen. Derzeit sieht es leider nicht so aus.
Das ist für mich das vorläufige Ergebnis eines aufgeregten Debattenjahres.
Zu Beginn des Jahres erregte Wolfgang Benz großes Aufsehen mit seiner These von den Parallelen zwischen Islamkritik und Antisemitismus. In sei­nem Stück in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Januar heißt es:
„Die unterschwellig bis grobschlächtig praktizierte Diffamierung der Musli­me als Gruppe durch so genannte ‚Islamkritiker‘ hat historische Paralle­len. (…)
Der Berliner Antisemitismusstreit war vor allem eine Identitätsdebatte, eine Auseinandersetzung darüber, was es nach der Emanzipation der Ju­den bedeuten sollte, Deutscher zu sein und deutscher Jude zu sein. Derzeit findet wieder eine solche Debatte statt. Es geht aber nicht mehr um die Emanzipation von Juden, sondern um die Integration von Muslimen.“
Damit hat Benz in meinen Augen ganz einfach recht. Seine Kritiker hielten ihm entgegen, er setze Antisemitismus und Islamkritik gleich. Benz sugge­riert aber nirgends, dass ein Holocaust an Muslimen drohe oder dass Musli­me in Deutschland ähnlichen Formen der Diskrimierung unterliegen wie vormals die Juden. Das wäre auch bizarr.
„Der symbolische Diskurs über Minarette“, schreibt Benz, “ist in Wirklichkeit eine Kampagne gegen Menschen, die als Mitglieder einer Gruppe diskriminiert werden, eine Kampfansage gegen Toleranz und Demokratie.“
Benz spricht über den „Diskurs“, der besonders im Internet erschreckende Formen angenommen hat. Und sein eigentlicher Punkt ist den Kritikern entgangen: Es handelt sich bei der „Islamkritik“ um eine Identitätsdebatte der Mehrheitsgesellschaft. Es wird darin verhandelt, was es heute heißt, Deutscher und Muslim zu sein. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die in den Unterstellungen unterging, ausgerechnet Benz, der sein Leben lang über Antisemitismus geforscht und gegen ihn gekämpft hat, wolle irgendetwas von der Schrecklichkeit des Antisemitismus „relativieren“.
Ich halte das für einen entscheidenden Punkt zum Verständnis der deut­schen und europäischen Debatten über den Islam: Sie handeln in Wahrheit nicht wirklich vom Islam als Religion. Man kann die Leidenschaften, die dabei am Werk sind, wohl kaum aus einem Interesse am Verstehen einer Weltreligion ver­stehen, die (als Teil Europas, nicht als sein Gegenüber) immer noch neu ist. In erheblichem Maße dient die Debatte über den Islam der Selbstvergewis­serung einer verunsicherten Mehrheitsgesellschaft. Es geht bei der „Islamkritik“min­destens so sehr um die deutsche, die europäische, die christliche, die säku­lare Identität wie um den Islam.
Das ist für sich genommen weder irrational noch illegitim. Es gibt Gründe für diese Verunsicherung, es gibt Gründe, die die „Islamkritik“ an- und ihr die Leser zutrei­ben. Ich sehe Deutschland in der Situation eines Nach-Einwanderungslan­des. Das Wort ist nicht schön, aber es beschreibt die Wirklichkeit: wir leben in einer post-migrantischen Situation. Wir debattieren also nicht mehr unter einem Einwanderungsdruck: Der Wanderungssaldo Deutschlands mit der Türkei ist seit Jahren negativ. Seit 1961 kamen türkische Gastarbeiter nach Deutschland, mehr als 900.000 bis 1973, als das Programm durch den Anwerbestopp beendet wurde. Durch Familienzusammenführung und natürliches Wachstum nahm die türkische Bevölkerung in Deutschland bis 2005 auf 1,7 Millionen zu. Beginnend im Jahr 2006 kehrte sich der Trend um: Mehr Menschen zogen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt. 2009 gingen 10.000 mehr Menschen von Deutschland in die Türkei als vice versa.
Das ist nur ein Beleg dafür, dass Deutschland (jedenfalls für Türken) kein Einwanderungsland mehr ist. Doch just in dem Moment nehmen die Debat­ten über die Eingewanderten und ihre Nachkommen immer schärferen Charakter an. Vielleicht kann man im Amerika der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts einen Präzedenzfall sehen. Damals wurden die Gren­zen für Immigration weitgehend geschlossen – nach einer großen Welle zwi­schen 1870-1924, die Iren, Deutsche, Polen und andere Osteuropäer und Italiener in Millionenzahlen nach Amerika gebracht hatte. Der Immigrati­on Act von 1924 setzte harte Quoten nach ethnischen Kriterien. Und dies führ­te dazu, dass die USA zeitweise aufhörten, Einwanderungsland zu sein. Man ging daran, mit viel Druck die Integration/Assimilation der Eingewan­derten zu betreiben. Es gab sogar – vor allem im Zuge des Weltkrieges – starke xe­nophobe Exzesse (gegen Japaner).
Ich will die Analogie nicht zu weit treiben. Nur soviel: Europa insgesamt scheint, nach der gigantischen Einwanderungswelle der Nachkriegszeit, die gespeist wurde durch Postkolonialismus und Wirtschaftsboom, ebenfalls in einer Phase der Schließung zu sein. Schließung im Wortsinne durch gesetz­liche Erschwerung von Zuwanderung. Und im übertragen Sinne als Ver­such, die jeweilige Identität zu bewahren (was auch immer das jeweils sei). Der Erfolg der rechtspopulistischen Anti-Einwanderer-Parteien überall in Europa spricht dafür.
Überall? Eben nicht. Deutschland hat keine solche Partei. Deutschland hat statt dessen eine Debatte in Gestalt der „Islamkritik“. Mir ist das einstweilen lieber so, wie hässlich die Debatte auch sein möge. Bei aller Kritik an der „Islamkritik“ sollte das nicht vergessen werden.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seinem Buch über die „Realität der Massenmedien“ gesagt:
“Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wis­sen, wissen wir durch die Massenmedien.”
Im Luhmannschen Sinn möchte ich im folgenden darüber reden, welches Bild des Islams wir in Deutschland haben, wenn man unsere Massenmedi­en dabei zugrundelegt. Für hier lebende Muslime bedeutet das: Welches Bild bekommen sie davon, wie sich die Mehrheitsgesellschaft durch ihre Medien den Islam zurecht legt. Einfacher gesagt: Ein Muslim sieht unsere Schlagzeilen und liest unsere Geschichten über den Islam und fragt sich: Aha, so also sehen die mich, meine Kultur und Religion, meine Herkunft und Prägung.
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Das Internet als Subkultur des Hasses

Es war eine interessante Erfahrung, hier auf diesem Blog einen digitalen Flashmob zu erleben, der von Herrn „kewil“ von PI ausgesandt worden war. Ich hatte meine Genugtuung über das schlechte Abschneiden der „Freiheit“ bekundet. War das der Grund für die hoch kochenden Gefühle, oder mehr noch die Einschätzung, dass der Rechtspopulismus in Deutschland auf absehbare Zeit marginal und ungefährlich bleiben wird?
Ich wollte eigentlich etwas Anti-Alarmistisches schreiben, habe aber eben damit Alarm in der Szene ausgelöst (die derzeit von den Enthüllungen durch die Journalisten der Dumont-Gruppe arg gebeutelt wird).
Merkwürdig: So interessant und erhellend ich die Interna finde, die von FR und Berliner Zeitung ausgegraben wurden (es gibt offenbar ein Leck oder einen Maulwurf bei PI), so wenig überzeugt mich der dräuende Ton: Ich bleibe dabei, das ist ein unangenehmer, häßlicher Spuk, der politisch weitgehend folgenlos bleiben wird. Dieses Land läßt sich nicht verrückt machen. Populismus funktioniert in Deutschland nur (noch) links. Und nicht mal dort, siehe den Niedergang der Linkspartei.
Gut so!
Von einigen der Kommentare war ich aber doch einigermaßen bestürzt. Kaum verhüllte Mordphantasien. Persönliche Anspielungen auf meine Familie. Kenntnisfreie Anklagen, ich wolle die Scharia einführen oder dergleichen.

Es ist doch recht unangenehm zu erleben, wie sich virtuelle Gruppen so schnell enthemmen können. Keine Frage, dass da auch Radikalisierungsprozesse möglich sind, wie wir sie etwa aus der Salafistenszene kennen. Nicht unmöglich, dass verwirrte einzelne da irgendwann gewalttätig werden.

Das meiste allerdings ist doch wohl eher entlastende und entspannende Meinungsmasturbation. Eine Art – Pardon! – politpornografisches Kreiswichsen. Man überbietet den Vorredner immer wieder in Beschimpfungen des Linksfaschisten Lau, des schlimmsten Journalisten seit Goebbels…. Also bitte: Wenn’s danach besser geht: be my guest!
Einige der Hereingeschneiten wunderten sich darüber, dass ihr Zeugs hier nicht wegzensiert wurde. Manche schrien geradezu danach, dass man sie löschen möge, damit das Weltbild wieder stimmt, dass man in diesem Land die Wahrheit nicht mehr sagen kann.

Tja, was nun? Es steht alles da, in seiner ganzen selbst entlarvenden Erbärmlichkeit.
Ich bleibe dabei, dass diese Szene politisch keine Zukunft hat in Deutschland. Der Mundgeruch des Ressentiments stößt dann doch viele ab, gerade auch jene, die sich zu Recht sorgen machen um das Einwanderungsland D.

Für mich ist das ein Grund dafür, stolz auf dieses Land zu sein.
Ich kann aber auch verstehen, dass es anderen, die ähnlichen Hassattacken ausgesetzt sind, nicht so leicht fällt, dergleichen mit einem Achselzucken abzutun. Wäre ich Moslem, wäre ich Türke oder Araber, ich hätte schwächere Nerven nach solchen Attacken.
Genau wie Seyran Ates, die umgekehrt die Hassattacken von jenen Türken, Arabern, Muslimen nicht so leicht abtun kann, die sie als Nestbeschmutzerin angreifen. Oder wie Henryk Broder, der immer wieder fieses antisemitisches Zeugs ertragen muß.
Ich aber werde nicht zu irgendeiner Minderheit gerechnet, daher habe ich es ziemlich einfach, ruhig zu bleiben.
Ratlos lassen mich viele der fast 1.000 Kommentare zurück, was die segensreiche Wirkung (Hallo Piraten!) des Internets angeht. Von selbst kommt sie nicht, und es ist im Gegenteil auch Fürchterliches darin möglich. Das Netz ist auch ein sehr gutes Mittel zur Selbst- und Gruppenverhetzung.

Ich denke (hoffe), dass auch unter den Schreibern viele sind, die sich im wirklichen Leben schämen (würden) für das, was sie da absondern. Sie würden so etwas wohl nicht auf Papier schreiben und zur Post bringen, mit Absender und Briefmarke. Das zeigt, dass unser Internet-Ethos unter den Möglichkeiten des Mediums bleibt.
Verbote und Zensur können den Weg aus dem Schlamm von Ressentiments und Hass nicht weisen. Die besondere Form der Enthemmung, die online möglich ist, spricht dafür, dass das Netz viele Leute doch immer noch überfordert. Es ist ein Medium für Erwachsene – mit einer gewissen Triebkontrolle und Selbststeuerungsfähigkeit.
Und übrigens auch Bereitschaft zur Selbstkritik. Wo wir schon dabei sind: das Wort „verachtenswert“ hätte nicht sein müssen. Und auch dass ein breites Publikum die ironische Referenz auf Nietzsche („blonde Bestie“, übrigens ein positiver Begriff!) nicht versteht, wenn doch der Gemeinte nur blondiert ist, hätte ich wissen müssen.

 

Zur Verteidigung der deutschen Islamdebatte

Mein Statement bei der Diskusssion mit Daniel Pipes letzte Woche in Berlin (mit Überschneidungen, aber entscheidenden Verbesserungen (hopefully) zum Vortrag in Delhi):
Things have become tense in Germany lately. Debates about Muslims as a minority, about Islam as a defining factor of our national identity, about the new emerging German “We” are raging.
That is not necessarily a bad thing at all. Sleepwalking into segregation is not an alternative. So it’s good that the general public has woken up to the issues we are debating tonight. I’d rather have a contentious, sometimes even ugly debate than the silence of complacency and avoidance that has been around for much too long. We are moving fast past avoidance, or – to use a more positive word – past tolerance. Tolerance has very often been another word for ignorance. In our pluralistic, increasingly diverse societies, this just doesn’t work anymore: if your neighbor, who came as a guest, has made up his mind to stay for good, you will take another look at him. And he will take another look at you.

This is when conflicts in an immigration society really begin: they are not over, when everybody stops lying to themselves and starts admitting that “this is not temporary” (and by the way, it never was). No, conflicts do not end here, they begin.
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Der Wertekonflikt mit dem traditionellen Islam

Mitbloggerin Miriam fasst die Debatte über Integration und Islam folgendermaßen zusammen:

„Aus meiner Sicht führt primär die Kollision von traditionellen und modernen Werten zu der Problematik, die wir hier diskutieren. Zum Beispiel:

1. Individualismus versus Kollektivismus bzw. Familialismus

2. Gleichberechtigung der Geschlechter versus Gleichwertigkeit und Komplementarität

3. Unterwerfung unter den Willen Gottes bzw. Älteren/Eltern versus Verhandlung. (Das mag im Zusammenhang mit Gott paradox klingen. Aber dadurch, dass der Gott der Christen ein Gott-Vater ist, ändert sich die Beziehung zu diesem “Vater” in dem Maße, wie die Beziehung zu irdischen Vätern sich ändert.) Man bezeichnet moderne Familien als “Verhandlungshaushalte” und traditionelle Familien als “Befehlshaushalte”. Verhandlungshaushalte fördern und fordern Individuierung im Sinne der Entwicklung einer autonomen Persönlichkeitsstruktur, und sie betreiben Individualisierung im Sinne der Freisetzung des Einzelnen aus der Umklammerung des Kollektivs. Eben diese Freisetzung ist ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft und ihre Abwesenheit ist ein Merkmal traditioneller Gemeinschaften.

4. “Reinheit” im Sinne von Jungfräulichkeit. Gesucht wird eine Frau, die “sauber” ist. Eine Frau, die vor der Ehe “berührt” wird, gilt als “dreckig. Das traditionelle Reinheitsgebot begünstigt die Endogamie, auch ein traditioneller Wert, und erschwert die Exogamie. Denn man will nicht die Katze im Sack kaufen, sondern wissen, mit wem (auch mit welcher Sippe) man es zu tun hat. Mit dem Reinheitsgebot im Zusammenhang steht die

5. “Ehre” (namus) als unantastbares Merkmal eines Kollektivs, das vom sexuellen Verhalten der weiblichen Mitglieder des Kollektivs abhängt. Die junge Frau, die vor der Ehe ihre Jungfräulichkeit verliert, verliert nicht nur die eigene Ehre, sondern entehrt die ganze Familie. Die Verantwortung, die man in dieser Hinsicht als Frau trägt, erschwert die Individuierung, denn dabei riskiert man das ganze Familiengebäude zum Einsturz zu bringen. Aber auch die Männer tragen eine Verantwortung, nämlich Fehltritte ihrer Schwestern, Frauen sogar ihrer Mütter zu verhindern. Das zwingt sie in die Rolle des Aufpassers und erschwert ihre Emanzipation von der traditionellen Pascha-Rolle. (Die traditionell erzogenen kurdischen Mädchen, die ich kenne, klagen am meisten über ihre Brüder, auch ihre jüngeren Brüder, die sie Paschas nennen und die ihnen vorschreiben möchten, wie sie zu leben haben.) Die traditionelle Vorstellung von Ehre prägt auch die Art und Weise, wie die deutsche Gesellschaft betrachtet wird, denn aus traditioneller Sicht sind die meisten Frauen ehrlos und die meisten Männer verdienen die Bezeichnung namussuz adam (ehrloser Mann), weil sie die Verwahrlosung ihrer Frauen nicht verhindern. Auch das erschwert die Integration.

Ich löse Integration von der ethnischen und religiösen Ebene und betrachte sie (auch) als Übergang von der Tradition in die Moderne, als Überwindung traditioneller und Übernahme moderner Werte. Das setzt weder das Leugnen der ethnischen Herkunft noch die Aufgabe der Herkunftsreligion voraus. Zwei prominente Frauen, die diesen Weg erfolgreich gegangen sind (und die es sogar schafften, ihre Eltern zumindest ein Stück weit mitzunehmen) sind Seyran Ates und Hatice Akyün. Sie zeichnen sich durch eine starke Ich-Identität im Sinne von Lothar Krappmann aus, d.h. es gelingt ihnen, Balance zu halten zwischen den Anforderungen der sozialen Umwelt und ihren eigenen Bedürfnissen. Diese Leistung ist um so bewundernswerter, wenn man bedenkt, dass sich diese Frauen mit den konfligierenden Anforderungen der traditionellen Herkunftsgruppe und der modernen deutschen Gesellschaft sich auseinandersetzen müssen.

Im folgenden Beitrag in der ZEIT blickt Ates auf ihre Kindheit in Istanbul und Berlin zurück und beschreibt ihre Vorstellung von Freiheit und Individuum sowie ihren Kampf um eine Balance zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen ihrer türkischen Umwelt:

„Es dauerte nicht lange, bis ich begriff, warum ich solch ein Leben führte. Ich war ein Mädchen, ich stellte die Ehre der Familie dar, und mein Jungfernhäutchen, von dem ich lange nicht wusste, was das überhaupt ist, war von größerem Interesse für die Großfamiliengemeinschaft als mein Gehirn. Wenn ich mein Gehirn benutzte und meine Meinung äußerte – meist eine, die sich für ein türkisches Mädchen nicht schickte –, wurde ich für verrückt erklärt. Da war es wieder; wenn auch angeblich scherzhaft. In meiner näheren Umgebung wurde ich als die kluge Verrückte bezeichnet. Ich hatte nicht das Gefühl, verrückt zu sein. Aber irgendwie merkte ich schon, dass wir nicht so gut zusammenpassten: die türkische Kultur in Deutschland und ich. Meine gesamte Umgebung kontrollierte alle weiblichen Wesen auf Schritt und Tritt. Wobei ich leider sagen muss, dass nicht nur Männer dieses System aufrecht erhielten.

Ich wollte mich von dieser Enge befreien. Es war nicht die kleine Wohnung, das fehlende Kinderzimmer, sondern der Staub aus Anatolien, der mir die Luft zum Atmen nahm. Jeder Tag fing an mit dem Traum nach Freiheit und endete damit. Ich habe diesen Traum so lange geträumt, bis ich ihn für mich verwirklichen konnte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Dinge, die ich mir erträumt habe, tatsächlich in Erfüllung gegangen sind. Ich musste nur meinen Anteil dazu tun. Das habe ich von den Deutschen gelernt. Sie haben mir beigebracht, dass ich ein Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und eigene Meinung habe. Und sie haben mir beigebracht, dass alle Menschen gleich sind. Diese wunderbare Freiheit des Körpers und des Geistes steht allen Menschen zu.“

 

Die Islamisierung schreitet voran

Ein paar ungeordnete Eindrücke von gestern: Ich war eingeladen, bei der Botschafterkonferenz des Auswärtigen Amtes auf einem Panel über „Islam in Europa“ mitzudiskutieren. Bei der „BoKo“ sind einmal im Jahr fast alle deutschen Botschafter und Gesandten in Berlin, um über verschiedene Dinge zu tagen.

Bevor wir überhaupt zu den Hauptthemen unseres Panels kommen konnten, war das ganze Haus schon ziemlich in Aufregung: Der Plan des Pfarrers Terry Jones, zum Gedenken an 9/11 Korane zu verbrennen, versetzt den gesamten diplomatischen Dienst, sofern er sich mit islamisch geprägten Ländern befasst, in Unruhe. Denn es ist offenbar, dass diese Aktion die Sicherheit aller westlichen Vertreter (und auch der deutschen Soldaten) gefährden kann, weil sie großartiges Futter für Extremisten ist. (Gut daß die Bundeskanzlerin bei ihrer Rede in Potsdam das Nötige dazu gesagt hat.)

Auf dem Panel saßen Joseph Maila, ein libanonstämmiger katholischer Islamexperte, der im französischen Außenministerium für Religonsfragen zuständig ist und neuerdings auch Chef des Planungsstabes ebendort. Maila verteidigte das französischen Modell des Bürgers, der einem „blinden Staat“ gegenüber steht, der nicht nach Religion oder Herkunft unterscheidet. Aber er gab auch zu, dass das eine schöne Fiktion ist. Ich verstieg mich zu der These, dass die Islamisierung Deutschlands wirklich voranschreitet. Allerdings ist es eine Islamisierung des öffentlichen Diskurses, die alles und jedes moslemisiert (und diese schreckliche Vereinfachung nun auch noch biologi(sti)sch zu untermauern versucht.) Wir produzieren im Diskurs mehr und mehr Muslime. (Ich höre das dauernd in diesen Tagen: So türkisch, so muslimisch habe ich mich in meinem Leben noch nicht gefühlt, sagen viele neue Deutsche, erschrocken über sich selbst. Hier wirst Du immer Muslim bleiben, immer Türke, immer Migrant, auch wenn Du gar nicht eingewandert bist, sondern hier geboren.) Professor Maila fand meine These richtig, er sah sie wohl als Bestätigung seines französisch-laizistischen Republikanertums.

Aiman Mazyek sprach für den Zentralrat der Muslime, Ali Ertan Toprak für die Aleviten, ich für die Medien, Haci-Halil Uslucan für das „Zentrum für Türkeistudien“. Mazyek wies zurecht darauf hin, dass die deutschen Muslime angesichts des Karikaturenstreits eine sehr vernünftige Position vertreten haben: Keine Ausschreitungen, friedliche Proteste und ein klares Bekenntnis zu Meinungsfreiheit, auch wenn es schmerzt.

Jetzt, angesichts der Sarrazin-Debatte, macht sich offenbar das Gefühl breit, dass es wenig bringt, wenn man sich verfassungsgemäß verhält, einen kühlen Kopf bewahrt und die Hitzköpfe in den eigenen Reihen in Schach hält. (Nicht dass man es tut, damit es etwas bringt. Aber selbst wenn man es tut, wird es nicht anerkannt und man steht immer weiter unter Verdacht.) Wie anders soll ein wohl integrierter, erfolgreicher Deutscher wie Mazyek die Debatte der letzten Wochen erleben – denn als Signal, dass er hier nie dazugehören wird? Die Wut, das tiefe Misstrauen, die Angst, die sich da allüberall ausdrücken, hinterlassen Spuren. Wochenlang beugt sich der biodeutsche Teil der Nation über deine Gene: das ist irgendwann nicht mehr lustig. Wenn Mazyek die Kanzlerin dafür kritisiert, zur Ehrung von Westergaard zu gehen, muss er sich gleich fragen lassen, ob er denn „für Zensur“ sei. Ist er nicht. Aber die Suggestion ist sofort da, und ich kann mir vorstellen, wie wütend man über so etwas wird: Na, wie finden sie das denn, wenn wir den Mann ehren? Eine Falle. Mazyek hat dann im Fernsehen ziemlich rumgeeiert über die Abwägung von „Respekt“ und „Meinungsfreiheit“. Warum nicht voltairisch sagen, ich lehne das aus vollem Herzen ab, was dieser Mann macht, aber ich werde für seine Freiheit kämpfen, es weiter zu tun. Denn wenn ich unser Gespräch recht verstanden habe, ist das in etwa die Haltung.

Interessant übrigens, wie dieselben Leute, die Merkel vorgestern noch angeprangert haben wegen ihrer Kritik an Sarrazin (BILD), sie heute wieder zur „mutigen“ Kanzlerin stilisieren, weil sie Westergaard die Hand geschüttelt hat. Oder wie sie versuchen, daraus einen Widerspruch zu machen (und  Sarrazin damit zum verfemten und verfolgten Dissidenten). Die Kanzlerin hat, wenn ich das einmal wohlwollend auslege, eine konsistente Haltung gezeigt: so erbarmungslos gegen Biologismus wie gegen Islamismus.  (Cool gefunden hätte ich es, wenn die Kanzlerin sich dieser Tage auch mal bei einem Iftar hätte sehen lassen. Dann könnte man den Handshake mit Westergaard nicht als verquere Botschaft zum Zuckerfest/Eid verstehen. Happy Ramadan allerseits!)

Ali Ertan Toprak hielt ein flammendes Plädoyer dafür, dass die Einwanderer und ihre Kinder dieses Land als ihres annehmen sollen. Er ist so patriotisch, dass manchem Botschafter ein Stirnrunzeln übers Gesicht huscht. Er hat Freude daran die anderen Deutschen damit zu verblüffen, wie begeistert er von diesem Land spricht. Die Aleviten – in der Türkei immer noch bedrängt und nicht frei, ihren Glauben so auszuüben, wie sie das richtig finden – leben in Deutschland auf. Aber auch er muss sich immer wieder anhören, dass man ihn automatisch mit der Türkei identifiziert.

Ein Blick ins Publikum – in die Gesichter der 50-60 Botschafter – zeigte übrigens, wie unglaublich homogen die Elite dieses Landes ist: Die Franzosen haben an höchster Stelle in ihrem internen Thinktank immerhin einen Mann mit Wurzeln im Libanon. Das Establishment des deutschen diplomatische Corps enthält unterdessen einige Ostdeutsche, aber andere Neubürger sucht man noch (fast) vergeblich.

Haci-Halil Uslucan konnte Zahlen anführen, die die Diskriminierung der bildungswilligen Türken belegen. Jeder auf dem Panel kannte ein Beispiel dafür. Ich habe dann etwas vorlaut dazwischengefunkt, nicht weil ich diese Erfahrungen bezweifle, sondern weil ich sie für nicht politisierbar halte. Der Diskriminierungsdiskurs ist eine Sackgasse. Man macht sich zum Opfer, und niemand mag Opfer (oder nur die falschen Leute).  Einwanderer werden immer diskrimiert, die Deutschen haben sogar die Vertriebenen nach dem Krieg schlecht behandelt, die doch angeblich ihr eigen Fleisch und Blut waren. Warum soll es Türken besser gehen. Da gibt es nur eins: dagegenhalten, besser werden, nicht aufgeben, wiederkommen bis sie dich durchlassen.

Dann war auch schon Schluss, denn wir mussten zum Fastenbrechen. Iftaressen, gegeben von Cornelia Pieper (FDP), Staatsministerin im AA, im Museum für Islamische Kunst auf der Museumsinsel. Seyran Ates war übrigens auch da unter den vielen Gästen, und ich war froh zu sehen, dass sie offenbar wohlauf ist.

 

Das Islambild in den Medien

Mein Gastvortrag vom Dienstag, 6.7.2010, an der Goethe-Universität Frankfurt im Rahmen der Ringvorlesung: „Wieviel Islam verträgt Europa?“

Wo soll man bloß beginnen? Der Zugang der Muslime zu den Me­dien in Deutschland, das Bild des Muslims in den Medien, Muslime als Medienma­cher?
Woher nehme ich überhaupt die Berechtigung, über dieses Thema – Islam in den deutschen Medien – zu reden vor einem akademischen Publikum. Woher nehme ich das Recht, darüber zu schreiben? Denn: Islamwis­senschaftler wie viele von Ihnen hier bin ich nicht. Ich spreche weder türkisch noch arabisch und habe auch nicht Theologie oder Islamkunde studiert.
Trotzdem haben Sie mich ja eingeladen. Sie werden sich schon was dabei ge­dacht haben. Und ich fühle mich geehrt, in einer Reihe mit großen Fachleuten hier vor ihnen reden zu können. Sie werden von mir keinen wissenschaftlichen Vortrag er­warten, sondern eine Reflexion der Praxis, aus der ich selbst komme. Ich danke Ihnen für die Gelegenheit dazu, einmal innezuhalten und zu fragen: Wie über den Islam, die Muslime und islambezogene Themen berichten?
Immer mehr Muslime in Deutschland, Frankreich und Großbritannien glauben nicht, dass die Mainstream-Medien ausgewogen über sie berichten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Pilotprojekt des Londoner Institute for Strategic Dialogue und der Vodafone Stiftung Deutschland.
55 Prozent der befragten Muslime vertraten die Auffassung, die großen Medien berichteten negativ über Muslime. Bei den nicht muslimischen Befragten waren es immerhin 39 Prozent.
Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer sind überzeugt, dass es in den meisten Berichten über Muslime um Terrorismus geht. Ein Drittel glaubt, dass vor allem Fundamentalismus eine Rolle spielt; ein Viertel nimmt als häufigstes Thema in der Berichterstattung über Muslime die Kopftuchdebatte wahr.
Natürlich haben diese Befragten nicht Recht in einem objektiven Sinn: Keineswegs geht es in der Mehrzahl der Berichte um Terrorismus. Und das Kopftuch ist immer noch ein Aufregerthema, aber das „häufigste“? Nein. Dennoch scheint es mir unbestreitbar richtig, dass die Intuition der Befragten stimmt, dass hier etwas im Argen liegt.
Ein jüngeres Beispiel: „Jung, muslimisch, brutal“ titelte Spiegel Online einen Bericht über die Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer zum Zusammenhang von Religi­ösität und Gewaltneigung. Der Süddeutschen fiel zur gleichen Untersuchung die Zei­le ein: „Die Faust zum Gebet“.  blick.ch: „Macht Islam ag­gresiv? Jung, brutal — Muslim“, Tagesspiegel: „Allah macht hart“, heise.de: „Jun­ge männliche Macho-Muslime“, Financial Times Deutschland: „Studie zu jungen Muslimen — Je gläubiger, desto gewalttätiger“, Welt.de: „Studie — Gläubige Musli­me sind deutlich gewaltbereiter“, Welt: „Muslime — Mehr Religiosität = mehr Ge­waltbereitschaft“, Bild.de: „Junge Muslime: je gläubiger desto brutaler“, Hamburger Abendblatt: „Junge Muslime: Je gläubiger, desto brutaler“.
Das ist die Ausbeute der Schlagzeilen, und sie ist nicht einmal vollständig. In Wahr­heit steht in der Studie allerdings, Weiter„Das Islambild in den Medien“

 

Warum die Islamkonferenz auch ohne den „Zentralrat der Muslime“ auskommt

Am kommenden Montag will Innenminister Thomas de Maizière die zweite Rundes der Deutschen Islam Konferenz feierlich im Berliner Palais am Festungsgraben lancieren. Heute ließ der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD) verkünden, der für ihn reservierte Stuhl werde leer bleiben. Was soll eine DIK ohne den ZMD?

In Wahrheit steht nicht der Sinn der Islamkonferenz in Frage, sondern die Legitimation des so genannten „Zentralrats“. Denn andere, teils größere, Verbände nehmen weiter teil – wie etwa die türkische Ditib, die Aleviten, der Verband Islamischer Kulturzentren und der Verband bosnischer Muslime. Ausserdem dabei: eine hochkarätige Auswahl von 10 nicht organisierten Muslimen, darunter Theologen, Islamwissenschaftler, Anwälte und andere zivilgesellschaftliche Akteure.

Der pompöse Name „Zentralrat“ – in Anlehnung an den Zentralrat der Juden gewählt – war immer schon Anmaßung. Nichts ist „zentral“ an der Schirmorganisation, die schätzungsweise kaum zehn Prozent der hiesigen Muslime vertritt (nach  Studien, auf die sich das Innenministerium beruft, sogar nur maximal 3 Prozent) . Auf der Führungsebene dominieren deutsche Konvertiten wie der Vorsitzende Ayyub Axel Köhler, im Hintergrund agieren zwielichtige Figuren wie der ehemalige Chef der „Islamischen Gemeinde in Deutschland“, Ibrahim El Zayat, der im Verdacht steht, der Muslimbruderschaft anzugehören.Was von Köhlers Führungsstil zu halten ist, zeigte sich im Jahr 2007, als er  El Zayat einfach mit ins Plenum der Islamkonferenz einschleuste, gegen den Willen der deutschen Behörden.

Der ZMD kann keineswegs für die Mehrheit der Muslime in Deutschland sprechen. Er ist ein Relikt aus der Zeit, als der deutsche Staat und die Medien sich wenig auskannten mit den hier lebenden Muslimen. Man suchte händeringend Ansprechpartner, und da kam man bei flüchtigem Googlen eben immer auf den ZMD mit seinen wenigen sprechfähigen Köpfen: Nadeem Elyas, Ayyub Axel Köhler, Aiman Mazyek.

Diese Zeit ist vorbei – und zwar dank der Islamkonferenz. Der Islam in Deutschland hat angefangen, selbst sprechen zu lernen: Aus den türkisch dominierten Verbänden sind einige Köpfe hervorgegangen, die kompetent und eloquent Rede und Antwort stehen können – Bekir Alboga von der Ditib, Ali Ertan Toprak für die Aleviten zum Beispiel.

Immer mehr „Kulturmuslime“ melden sich zu Wort, weil sie sich nicht von den stockkonservativen Verbänden vertreten fühlen. Marokkaner, Bosnier und Iraner haben eigene Persönlichkeiten, die für die Vielfalt des Islams hierzulande stehen. Und auch die vielen Stimmen – sehr oft Frauen -, die sich kritisch mit dem islamischen Erben befassen,  sind hier zu nennen: von der frommen Schiitin Hamideh Mohagheghi über liberale Sunniten wie Lamya Kaddor oder Hilal Sezgin bis zu radikalfeministischen Kritikerinnen wie Seyran Ates und Necla Kelek reicht das Spektrum. Untereinander sind sich manche spinnefeind – aber das zeigt ja gerade, dass Deutschland im realen Pluralismus des islamischen Lebens in Europa angekommen ist.

Wir haben in der aktuellen Nummer der Zeit ein Interview mit drei neuen Teilnehmerinnen der Islamkonferenz. Alle drei sind nicht organisiert. Sie reden unverkrampft über ihren Glauben, über die Mißstände und das Schöne an der islamischen Spiritualität. Ihre Familien stammen aus Marokko, dem Iran und Bosnien. Sie sind unterschiedlich stark religiös, eine von ihnen trägt Kopftuch, die anderen nicht – und doch kann man sehr gut miteinander reden. Sie sind alle auf ihre eigene Art Musliminnen – und sie gehen nicht in die Moscheen der Männer. Diese Frauen sind die Zukunft des Islam in Deutschland.  Nicht die wichtigtuerischen Herren in den Verbänden. Der Innenminister tut recht daran, ihnen eine Stimme zu geben in der Konferenz. Ein reiches Stimmengewirr hat die Verbände an den Rand gedrückt – und das ist gut so!

Natürlich leiden die (meist) Herren darunter, dass ihre Vereine nicht umstandslos als quasi-Kirchen anerkannt werden (obwohl sie auch immer wieder behaupten, genau das wollten sie vermeiden, weil es unmuslimisch sei). Und nur so ist die beleidigte und unpolitische Aktion des ZMD jetzt zu verstehen:

„Die DIK II ist in der jetzigen Form ein unverbindlicher Debattier-Club. Der ZMD wird unter diesen Bedingungen an der DIK II nicht teilnehmen“, heißt es in der Pressemitteilung.

„Die DIK ist und bleibt eine von der Bundesregierung verordnete Konferenz. Der Staat versucht sich über die Selbstorganisation der faktischen islamischen Religionsgemeinschaften hinwegzusetzen. …

Das BMI ist nicht bereit im Rahmen der Islamkonferenz zusammen mit den legitimierten muslimischen Organisationen und den Vertretern der Länder im Rahmen einer Arbeitsgruppe einen Fahrplan zu entwickeln, der zur Anerkennung als Religionsgemeinschaft führt.“

Die Islamverbände können nicht als Religionsgemeinschaften im vollen sind der deutschen Verfassung  anerkannt werden. Sie haben keine direkten Mitglieder. Ihre Repräsentationsstrukutren sind wenig transparent und demokratisch. Sie haben keine theologische Kompetenz, um als Partner des Staates bei der Entwickung von Curricula helfen zu können. Teilweise (Ditib) hängen sie viel zu sehr vom Ausland ab. Sie müssten sich neu aufstellen, um das zu erreichen. Der Koordinierungsrat der Muslime war kein Aufbruch in diese Richtung, sondern einfach nur eine weitere Dachorganisation über schon bestehenden Dachorganisationen.

Vielleicht ist das ganze Aufhebens um den Köperschaftsstatus ohnehin eine Sackgasse: Denn die dringenden Bedürfnisse der Muslime hierzulande – Religionsunterricht und Imamausbildung, Lehrstühle für islamische Theologie – kann man auch unterhalb dieser rechtlichen Schwelle regeln. Erfolgreiche Feldversuche – etwa in Niedersachsen – weisen in diese Richtung.

Der ZMD hat sich verzockt. Er wollte dem Innenminister eine rechtliche Aufwertung abtrotzen, ohne sich selbst vorher zu reformieren. Thomas de Maizière ist darauf nicht hereingefallen. Sein Ansatz, die Islamkonferenz pragmatischer zu gestalten, ist richtig: Islamunterricht und Imamausbildung beschleunigen, über Geschlechtergerechtigkeit reden, Islamfeindlichkeit und Islamismus als Zusammenhang debattieren. Das ist ein gutes Programm. Es läßt sich auch ohne den Zentrarat der Muslime bearbeiten. Vielleicht sogar besser.

 

Neustart der Islamkonferenz – ohne Kritiker?

Wer hätte gedacht, dass die Einbürgerung des Islams zu einer Prestigesache für christdemokratische Innenminister werden würde. Aber so ist es: Thomas de Maiziere will die Deutsche Islamkonferenz, Lieblingsprojekt seines Vorgängers Schäuble, fortführen – allerdings weder mit den gleichen Schwerpunkten, noch mit den gleichen Beteiligten. Unter anderem sollen die Islamkritikerinnen Necla Kelek und Seyran Ates beim »Neustart« (de Maiziere) nicht mehr dabei sein.
Wird nun, nach drei Jahren knisternder Konflikte um Kopftücher, Moscheebauten und Schwimmunterricht, auf Weichwaschgang geschaltet? Knickt der Minister, fragt mancher, vor den konservativen bärtigen Herren von den Islamverbänden ein, die schon lange von den feministischen Quälgeistern erlöst werden wollen?
Dem widerspricht, dass de Maiziere auch den Vertreter des konservativsten Verbandes, Ali Kizilkaya vom »Islamrat«, nicht wieder einlädt. Und auch die eher taffen Sprüche des Ministers lassen keinen Kuschelkurs ahnen: Er würde radikale Imame rausschmeißen, hat er im Interview mit der ZEIT gedroht. Die Muslime selbst müssten die »Haupttrennlinie zwischen dem friedlichen Islam und dem gewalttätigen Islamismus ziehen«, forderte er.
Im übrigen: Kizilkaya hat alle wesentlichen Beschlüsse der Konferenz nicht mitgetragen. Und Necla Kelek hat die Islamkonferenz von der anderen Seite her für »gescheitert« erklärt. Sehr überrascht können beide nicht sein, dass die Karawane jetzt ohne sie weiterzieht. Die Konflikte zwischen Islamkritikern wie Kelek und Verbandsvertretern hatten zuletzt etwas Rituelles: »Eurer Islam ist nicht integrierbar!« stand gegen »Ihr seid gar keine Muslime!«
Es ist richtig, dass de Maizière diesen nicht sehr zielführenden Schlagabtausch nicht fortsetzt. Die Konferenz ist dennoch nicht gescheitert. Im Gegenteil: Sie war die mutigste Tat der Großen Koalition. Sie brachte einen Realitätsschock, an dem wir uns noch lange abarbeiten werden, wie unsere nicht enden wollenden Debatten zeigen.
Deutschland hat sich mit der Konferenz das Instrument einer lernenden Gesellschaft geschaffen: Die Mehrheit hat Bekanntschaft mit der Stimmenvielfalt des Islams gemacht – von säkular-feministisch bis neoorthodox bekopftucht. Nicht nur die Mehrheit übrigens: Auch die Muslime selber haben die Buntheit ihres Glaubens zur Kenntnis zu nehmen gelernt. Weder die frauenbewegten Kritkerinnen noch die säuerlichen älteren Herren können heute noch alleine beanspruchen, für »den Islam« zu sprechen. Sichtbar wurden außerdem: Kulturmuslime, die zwar nie in die Moschee gehen, aber wollen, dass ihre Kinder etwas über den Glauben der Väter lernen; deutsche Konvertiten, die oft viel konservativer sind als geborene Muslime; Aleviten, Ahmadis, Schiiten, und sogar muslimische Atheisten. Was will de Maiziere nun mit dem Instrument anfangen? Er sieht sich mehr als Zusammenhaltsminister denn als Sicherheitssheriff. Aber wie entsteht »Zusammenhalt«?
Nicht durch Sonntags- oder Freitagspredigten, das hat die Islamkonferenz gezeigt, sondern durch angst- und hassfrei durchstandene Konflikte. Konflikte sind nicht nur unvermeidlich in einer religiös bunteren Gesellschaft: Klug eingehegt und moderiert, können sie ein Medium der Integration sein.
Es ist gut, dass der neue Minister nun alles praktischer angehen will. Drei Felder interessieren ihn besonders: Religionsunterricht, Geschlechtergerechtigkeit und Islamismus. Er will mehr Praktiker auf dem Podium sehen als bisher ­ in Sachen Religionsunterricht, Imamausbildung, Koedukation, Förderung von Einwanderern im Staatsdienst. Recht so: Doch das Bild dürfen nicht mehr die türkisch dominierten Verbände bestimmen. Sonst entsteht der Eindruck, Deutschland verhandele mit der Türkei (oder deren Mittelsmännern) über die Integration der eigenen Bürger.
Die Konferenz braucht mehr unabhängige muslimische Intellektuelle mit theologischer Kompetenz. Dass Navid Kermani nicht mehr dabei sein soll, wie jetzt gestreut wird, wäre darum unverständlich. Unter den hiesigen Muslimen gibt es keinen zweiten freien Kopf wie den Deutsch-Iraner.
Konkretion ist gut. Aber es wäre falsch, den Debattenmotor Islamkonferenz stillzulegen, um bei der notwendigen Anpassung der deutschen Friedhofsordnung an islamische Begräbnissitten vorwärts zu kommen. Wir brauchen den Streit, eher noch mehr davon: Dass in Deutschland radikale Islamisten vom muslimischen Mainstream isoliert sind und wir (bisher), anders als unsere Nachbarn, keine erfolgreichen islamfeindlichen Rechtspopulisten haben, ist auch ein Verdienst der  Islamkonferenz.