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Immer Ärger mit Erdogan

Als ich vor fast einem Jahr in den Moscheen des Ruhrgebiets (mit Sigmar Gabriel) unterwegs war, bestimmte auch gerade eine Äußerung des türkischen Premiers Erdogan die Schlagzeilen. Er hatte in einem Interview mit der ZEIT gefordert, „türkische Gymnasien“ in Deutschland zu errichten.

Nun scheinen die ungebetenen integrationspolitischen Interventionen Erdogans eine Tradition zu werden. In Düsseldorf hat er vor wenigen Tagen Aufmerksamkeit gefunden mit seiner Forderung, Kinder sollten erst Türkisch lernen, dann Deutsch. Und wie bereits vor einigen Jahren polemisierte er auch wieder gegen „Assimilation“ und suggerierte, den Türken solle ihre Kultur genommen werden als Preis für die Integration (die Erdogan befürwortete).

Vor einem Jahr in den Moscheen war eine sehr gesunde Reaktion der türkischen Community zu beobachten, wenn man sie auf Erdogans Forderungen ansprach: Was denkt dieser Typ, wer er ist – und wer wir sind? Er ist für uns nicht zuständig, er soll sich raushalten. Vural Öger sagte in der Moschee in Oberhausen:

“Wir wollen keine Diasporatürken in der dritten und vierten Generation. Ankara soll sich hier gefälligst nicht mehr einmischen. Wie lange soll das noch weitergehen? Bis zur 5. Generation? Das macht die Identitätskrise der Menschen hier nur noch schlimmer, wenn sie als Stimmvieh der türkische Politik behandelt werden. Es wäre keine Schande, sondern ein Grund zum Stolz, wenn junge Leute hier besser Deutsch als Türkisch könnten. Seid endlich Deutsche – mit einem großen türkischen Herzen!”

Das wäre immer noch der passende Kommentar zu Erdogans erneuter populistischer Wahlkampftour.

Man wird solche abweisenden Äußerungen aber immer seltener hören. Und das liegt an dem katastrophal gewandelten Klima in unserer Gesellschaft. Unsere Debatte des letzten Jahres hat Erdogans Erfolg bei seinen Landsleuten den Boden bereitet. Er surft auf dem Gefühl der Menschen, nicht angenommen zu sein und niemals angenommen zu werden, weil sie Türken und Muslime sind. Die allzu berechtigten Retourkutschen gegen seine Anti-Assimiliations-Rhetorik (Was ist mit den Kurden, den Aleviten, den Christen in der Türkei?) verfangen so kaum. Denn es gibt eine Wagenburg-Mentalität unter vielen Türken, ja selbst unter den Musterbeispielen der Integration. Auch diejenigen, die mit Erdogan nichts am Hut haben, sind frustriert, enttäuscht, wütend über das türkenfeindliche Klima hierzulande. Es hilft nichts, dass auch darin viele Übertreibungen sind: So etwas hat fatale Folgen für ein Einwanderungsland.

Das Wort Integration ist so weit heruntergewirtschaftet worden, dass es gerade die Besten nicht mehr hören können. Es liegt ein Hauch von Schikane, Überheblichkeit und Resentiment in der Rede von der Integration.

Und die reflexhaften Reaktionen auf Erdogan schüren dieses Gefühl weiter. Der Herr Dobrindt von der CSU mit dem bizarr überzeichnenden Satz etwa, der Auftritt Erdogans habe die Integrationsbemühungen „um Jahre zurückgeworfen“. Welch eine Bigotterie. Erdogan ist ein geschickter Vertreter des gleichen religösen Rechtspopulismus, dem auch die CSU anhängt, wenn es um die Heimat und das kulturell-religiöse Erbe geht. Erdogan geht ganz einfach in die Lücke, die ängstliche deutsche Politiker offen lassen, weil sie die Türken nicht als eine zu umwerbende Wählerschaft wie jede andere Gruppe behandeln. Warum mieten deutsche Politiker sich nicht einmal eine Halle und laden die Türken ein und reden zu ihnen? Warum appellieren  Merkel, Steinmeier, Gabriel, Özdemir oder Westerwelle nicht an den Stolz der Deutschtürken, wie es Erdogan tut?

Das erste, was ihnen einfällt, ist die Replik, Türkisch als erste Sprache sei nicht gut, das müsse bitte Deutsch sein. Das ist einfach Humbug: Das Problem der jungen Bildungsversager ist nicht, dass sie zuerst Türkisch lernen, sondern dass sie nicht einmal ordentlich Türkisch lernen. Ist Türkisch eine schlechtere Sprache als Französisch oder Italienisch oder Polnisch? Käme irgendjemand auf die Idee, italienischen, französischen oder polnischen Eltern reinzureden, sie sollten ihren Kindern zuerst Deutsch beibringen? Der Appell sollte lauten: Bringt euren Kindern gutes Türkisch bei, lest mit Ihnen Kinderbücher, sprecht mit Ihnen über die Schule, ladet deutsche Nachbarskinder ein, bringt sie in den Kindergarten.

Jetzt wird Erdogan seine Ambivalenz vorgehalten, seine „vergiftete Liebeserklärung“ für die hiesigen Türken. Leider ist die Botschaft der hiesigen Politik und der gesellschaftlichen Debatte genauso voller Ambivalenz und Gift. Und das ist – es tut mir leid – das größere Problem – denn nicht Herr Erdogan ist politisch verantwortlich für den Erfolg/Mißerfolg der Türken hier, sondern dieselben deutschen Politiker, die ihn kritisieren. Politisch, wohl gemerkt: Denn ein Hauptproblem von Deutschen und Türken – da haben sie mal was gemeinsam – ist ihre Staatsverliebtheit. Beide Völker mit ihren obrigkeitstaatlichen Traditionen erwarten viel zu viel vom Staat und zuwenig vom einzelnen Bürger. Türken und Deutsche  fragen zuviel, was das Land für sie und zu wenig, was sie für das Land tun können. Da haben sich zwei gefunden!

Ein Problem ist, dass die Deutschtürken von zwei Seiten mit mixed messages beschossen werden: Erdogan sagt: Integriert euch, aber assimiliert euch nicht (als gäbe es da akademisch anerkannte feine Grenzen). Die deutsche Gesellschaft kommuniziert: Wir sind ein Einwanderungsland, aber ihr seid die falschen Einwanderer.

Wenn man einem national-religiösen Populisten wie Erdogan etwas entgegensetzen will, muss man ein klare und selbstbewusste Botschaft haben:  Lass diese Leute in Ruhe. Die gehören zu uns. Sollen sie mit Ihren Kindern Türkisch sprechen! Aber gutes Türkisch muss es sein, damit darauf dann gutes Deutsch und Englisch aufbauen können.

 

Multikulti ist nicht gescheitert

„Lindwurm“ hat den Nagel auf den Kopf getroffen:

„Multikulti“ als „gescheitert“ zu bezeichnen, ist mehr als nur eine populistische Verkürzung, es ist unredlich und objektiv falsch. Die wirtschaftlich, wissenschaftlich und künstlerisch dynamischsten Nationen dieser Erde sind multikulturell, zum Beispiel die USA, Israel, Kanada, Australien sowie fast alle EU-Staaten und, mit Einschränkungen, auch China und weitere Schwellenländer wie Indien oder Brasilien. Dagegen herrscht überall dort, wo eine autoritäre „Leitkultur“ alle kulturellen Einflüsse von Außen zu blockieren versucht, Stagnation und Rückschritt, etwa in den meisten arabischen Ländern, in Nordkorea, Pakistan und generell in Gegenden, in denen man versucht, ideologisch bzw. religiös besonders „rein“ zu bleiben. (…)

Wahr ist, dass sich einige wenige Zuwanderer nicht zu benehmen wissen und dass einige Autochthone Rassisten sind. Wahr ist weiters, dass es reale Probleme gibt mit radikalen Muslimen und radikalen Rechten. „Multikulti“ ist halt kein Utopia, in dem die Schafe bei den Löwen schlafen, sondern ganz normale Wirklichkeit mit all ihren Vor- und Nachteilen.(…)

Wenn diese Politiker in völlig unverantwortlicher Art und Weise gegen „Multikulti“ hetzen, tun sie nichts anderes, als den radikalen Xenophobikern einen Jagdschein auszustellen. Von Staatsmännern (und -frauen) erwarte ich mir doch ein bisserl mehr an Gestaltungsvorschlägen als bloß rechtsextreme Parolen nachzublöken. (…) Zum Beispiel so: Religionsfreiheit ja, Frauenunterdrückung und Dschihadismus nein. Respekt vor fremden Kulturen ja, Respekt vor Barbarei nein. (…)

Hier alles lesen.

 

Nutzt die ägyptische Revolte den Muslimbrüdern?

Die Muslimbrüder haben sich zuerst aus den Protesten herausgehalten. Ab heute ist das anders. Die älteste, mitgliederstärkste und wichtigste islamistische Gruppe weltweit, der Inbegriff des politischen Islam, hat sich hinter die Protestierenden gestellt. Nach den Freitagsgebeten kamen Tausende auch mit der Rückendeckung der „Ikhwan“ (Brüder) auf die Straßen.

Die Muslimbrüder waren viele Jahre ein wichtiges Element in der Selbstrechtfertigung des ägyptischen Regimes gewesen. Mubarak empfahl sich seinen westlichen Unterstützern als Bollwerk gegen die einflussreiche islamistische Bewegung. Der Westen ging auf den Deal ein und schaute zum Dank nicht so genau hin, wenn das Regime Islamisten (genau wie auch seine säkularen Gegner) verhaftete und folterte. Mit dem 11. September und seinen Folgen aber hatte sich das Spiel verändert. Mit al-Qaida und anderen global operierenden Dschihadisten tauchte ein radikalerer Zweig des politischen Islam auf, der die Muslimbruderschaft plötzlich in einem moderateren Licht erschienen ließ.

Der ehemalige ägyptische Muslimbruder Aiman al-Sawahiri prangerte die Muslimbrüder nun dafür an, dass sie an Wahlen teilnahmen: Sie sollten die jungen Männer lieber für den Dschihad mobilisieren, statt sie an die Wahlurnen zu treiben. Selbst die Hamas, der Zweig der Muslimbrüder in Gaza, der mit Gewalt gegen Israel kämpft, sieht sich der Kritik von al-Qaida ausgesetzt: Es sei zuwenig, nur um Land gegen die Juden zu kämpfen. Man müsse es als göttlichen Auftrag begreifen.

In jeder Nach-Mubarak-Regierung, die nicht eine Militärdiktatur ist, werden die „Brüder“eine Rolle spielen. Bei den letzten einigermaßen offenen Wahlen im Jahr 2005 kamen ihre Kandidaten auf etwa 20 Prozent. Wie viele in freien Wahlen für sie stimmen würden, ist schwer zu sagen, weil ihr Nimbus natürlich auch vom Verbot profitiert.

Die breite Volksbewegung gegen das Regime hat das Spiel der ägyptischen Regierung mit den westlichen Ängsten vor dem Islamismus nun aber endgültig als erpresserische Überlebenstaktik entlarvt. Nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr da sind, dann wird dies hier ein zweiter Iran. Dafür spricht im Moment nichts. Die Muslimbrüder sind bisher nur ein Teil einer nationalen Bewegung. Sie führen die Proteste nicht an. Und der derzeitige Führer der MB, Mohammed Mehdi Akef, wird wohl kaum Ägyptens Chomeini werden.

Die Muslimbrüder wurden 1928 von Hassan al-Banna gegründet. Ihre beiden Themen waren von Beginn an das fundamentalisch-islamische Revival und der Anti-Imperialismus. Die beiden Wege dahin: die Islamisierung der Gesellschaft von unten und der paramilitärische Kampf. Sie hatten ein wechselvolles Verhältnis zu den ägyptischen Machthabern, sowohl zum König Faruk, der bis 1946 die Engländer im Land dulden musste, wie auch zu den „Freien Offizieren“ um Nasser und Sadat, die ihn 1952 stürzten. Hassan al-Banna wurde 1948 ermordet, die Bruderschaft in den Untergrund getrieben. Das anfängliche antiimperialistische Bündnis mit den Offizieren endete in Unterdrückung der Bruderschaft. Sayyid Qutb, der einflussreichste Denker der Brüder, trieb eine Radikalisierung voran, die zur Grundlage des modernen Dschihadismus wurde: die Unterdrücker waren keine Muslime, so Qutb, sondern Apostaten, und die ganze weltliche Ordnung der Gegenwart erschien im Licht der vorislamischen Zeit der Unwissenheit und Gottlosigkeit (Dschahiliya).

Dschahiliya Foto: Jörg Lau

Gewaltsamer Widerstand gegen diese Weltordnung wurde für Qutb zur religiösen Pflicht. Qutb wurde hingerichtet und damit zum Märtyrer. Bis heute werden seine Schriften in Kreisen der Muslimbruderschaft vertrieben. Die offizielle Haltung der Organisation wird aber von Qutbs internen Kritikern wie Hassan al-Hudeibi bestimmt, der Ende der sechziger Jahre gegen die Praxis des Takfir Stellung nahm: Nur Gott könne beurteilen, wer ein guter Muslim sei. Menschen dürften sich nicht wechselseitig zu Apostaten erklären und damit zum legitimen Ziel politischer Gewalt. Die Ablehnung von Takfir durch die MB war wiederum einer der Gründe für die Gründung radikalerer Abspaltungen wie des „Islamischen Dschihad“ und der „Jama’al Islamiya“. Letztere war für die Attentate auf Touristen in den achtziger Jahren verantwortlich. Wiederum eine ihrer Abspaltungen brachte 1981 vor laufenden Kameras den Präsidenten Sadat um, weil er nicht gemäß der Scharia regierte und Frieden mit Israel gemacht hatte.

Während der breite Strom der Muslimbruderschaft solchen Terrorismus verurteilt, unterstützen auch die Moderaten im Mainstream der Bewegung Attentate im Irak und in Israel als „legitimen Widerstand“. Der Ableger der Bruderschaft in Gaza, die Hamas, erkennt Israels Recht zu existieren nicht an. Die MB hat allerdings die Attentate vom 11. September als Taten von „Kriminellen“ bezeichnet, was al-Qaida gegen sie aufgebracht hat. Und der wichtigste Prediger der MB, Yussuf al Qaradawi, hat es Wahnsinn genannt, dass al-Qaida der ganzen Welt den Krieg erklärt hat. Diese Brüche im islamistischen Lager machen deutlich, dass es falsch ist, die Muslimbrüder in einem Kontinuum mit den militanten Dschihadisten zu sehen.

Heißt das, niemand muss sich vor einem möglichen maßgeblichen Einfluss der „Brüder“ auf die künftige ägyptische Politik fürchten? Nein. Die Bruderschaft hat das klare Ziel, die ägyptische Gesellschaft zu islamisieren, wenn auch auf dem legalistischen Weg. Das schariakonforme öffentliche Leben ist für die Bruderschaft als Ziel nicht verhandelbar. Nur über den Weg kann man streiten. Und Ägypten ist in den letzten Jahren schon von unten her stark islamisiert worden. Was mehr MB-Einfluss für die ohnehin schon belagerten Minderheiten bedeuten würde – wie Kopten oder Bahais – kann man sich ausmalen.

Und die ohnehin schon stockenden Bemühungen um eine Zweistaatenlösung in Nahost könnte man womöglich endgültig vergessen. Ägypten ist maßgeblich für die Abriegelung Gazas verantwortlich. Wie wird eine neue Regierung handeln? Zu erwarten wäre wohl, dass die Restriktionen für das von Hamas regierte Gebiet aufgehoben würden. (Allerdings könnte das die Hamas-Herrschaft auch destabilisieren, weil man ja nur unter Belagerung die Bevölkerung als Geisel halten kann.)

Aber welchen Einfluss die Bruderschaft auf ein neues Ägypten hätte, ist alles andere als ausgemacht. Die jungen Leute, die derzeit die Straßen beherrschen, haben nicht auf die Führung durch die Brüder gewartet, um gegen das Regime vorzugehen. Sie haben sich an den Tunesiern orientiert, die ebenfalls ohne die Islamisten ihren Pharao Ben Ali losgeworden waren.

Bisher hatte Demokratisierung in der islamischen Welt meist Islamisierung geheißen. Wer weiß, vielleicht ist diese Welle in Tunis gebrochen?

 

Haben Juden in Europa eine Zukunft?

Ich war in den letzten zwei Wochen in Malmö, Amsterdam, Budapest und wieder in Amsterdam, um mir ein Bild von den Schwierigkeiten der jüdischen Gemeinden mit einem neuen (?) Antisemitismus zu machen. Ich habe mit Rabbinern, Gemeindevorständen, gewöhnlichen Juden (fromm, säkular, orthodox, liberal) und auch mit aktiven Gemeindemitgliedern gesprochen.

Und das vorläufige Ergebnis ist: nicht gut. Der Sohn des bekanntesten Amsterdamer Rabbiners sagt mir, dass er in einem Jahr emigriert, wenn sein Studium fertig ist. In Budapest traf ich zwei betont weltgewandte, moderne ungarische Juden, die sich erst gegen den Holocaust- und Opferdiskurs der etablierten Gemeinde verwahren. Und dann, nach ihrer Zukunft befragt, sagen sie: Wahrscheinlich nicht in Budapest, obwohl sie diese Stadt „wie verrückt lieben“. Sie müssen sich permanent für ihr Judentum rechtfertigen, und für Israel. Der Sohn des Rabbiners sagt, er selber komme schon damit klar, man trägt halt Baseballkappe statt Kippa in bestimmten Vierteln. Aber seinen Kindern will er das nicht zumuten.

In Malmö ist die Lage so, dass vor allem junge Paare mit Kindern wegziehen. Erkennbare Juden werden beschimpft und bespuckt. Der sozialdemokratische Bürgermeister hat der Gemeinde zynischer Weise geraten, sie solle sich vom Gaza-Krieg Isarels distanzieren, dann werde die Lage schon besser werden. Schwedische Juden werden also als Agenten und Repräsentanten einer fremden Regierung behandelt – von einem schwedischen Bürgermeister (eine Art geistige Ausbürgerung).

Ein Großteil des neuen Antisemitismus kommt von muslimisch geprägten Einwanderern und ihren Kindern. In Amsterdam sind es vor allem marokkanischstämmige Jungs, in Malmö Somalier. Aber das ist nur eine Facette. Die islamisch/islamistische Judenfeindschaft tritt neben den linken Antiisraeldiskurs (mit dem sie sich teils vermischt). In Ungarn hingegen lebt der „klassische“ faschistische Antisemitismus wieder auf. Dort sind Rechtsradikale die Hauptquelle, wie auch im deutschen Osten.

Die Regierungen tun nichts oder zu wenig. Gestern war ich in Amsterdam bei Frits Bolkestein, dem ehemaligen EU-Komissar und zuvor Vorsitzenden der liberalen VVD. Er hat mit seiner Äußerung, Juden hätten in den Niederlanden keine Zukunft, wenn sie als solche erkennbar leben wollten, die jüngste Debatte ausgelöst. Bolkestein ist hoch beunruhigt und beschämt über diese Entwicklung in seinem Land. Er hat den Krieg in Amsterdam erlebt und weist daraufhin, dass die Holländer schon unter den Nazis gut im „wegkijken“ (wegschauen) waren. Er sieht heute (ohne die Situation gleichsetzen zu wollen) eine ähnliche Haltung am Werk, wenn im Stadion gegen die Spieler von Ajax Amsterdam gilt als „jüdischer“ Verein) gehetzt wird mit Sprüchen wie „Hamas, Hamas, die Juden ins Gas“.

Die Frage ist, ob sich nicht gerade ganz Europa im „wegkijken“ übt. Über die möglichen Folgen davon schreibe ich für die nächste Nummer einen ausführlichen Bericht.

 

Mappus gegen Minarettverbot

Interessantes Interview mit Stefan Mappus in der ZEIT (Printausgabe) von heute, am Ende geht um die Frage von bundesweiten Volksentscheiden:

Mappus: (…) bin ich nicht so sicher, ob es gut wäre, wenn wird drei Mal im Jahr einen bundesweiten Wahlkampf hätten, der in einem Volksentscheid mündet. Wenn Sie in die Schweiz schauen, sehen Sie, was dagegen spricht.

ZEIT: Nämlich was?

Mappus: Ich würde in Deutschland keine Volksentscheide darüber abhalten wollen, ob man Minarette bauen darf, weil ich mir relativ sicher bin, was dabei rauskäme, und weil ich mir absolut sicher bin, dass das nicht das Richtige wäre.

ZEIT: Sie wären gegen Minarettverbote?

Mappus: Minarette zu verbieten, halte ich nicht für korrekt. Wenn ich für Religionsfreiheit eintrete, und das tue ich aus absoluter Überzeugung, dann muss das für alle Gotteshäuser gelten.

 

Warum Scharia und Islamismus nicht dasselbe sind

Reuel Marc Gerecht, einer der prominentesten neokonservativen intellektuellen in der außenpolitischen Debatte der USA, plädiert für ein diffenrenziertes Verständnis der Scharia. Der ehemalige CIA-Mitarbeiter (Spezialität Iran) glaubt, dass die Gläubigen im Kampf gegen den Dschihadismus eine entscheidende Rolle spielen:

„Wenn also Europäer oder Amerikaner in bester Absicht suggerieren, die Scharia sei das Fundament des radikalen Islamismus, dann signalisieren sie automatisch allen, auch den säkularisierten Muslimen, dass der Westen sie für irgendwie gestört hält und dass die einzig akzeptable Alternative eine Abkehr vom Glauben sei. Gläubige oder nur traditionelle Muslime sollen zu Spiegelbildern der areligiösen Westler werden. Ein wie auch immer gearteter Stolz, den Muslime auf ihre religiösen Gesetze hegen, wird von solchen Pauschalisierungen achtlos verletzt.

Eine solche Pauschalverurteilung der Scharia führt auch dazu, dass einer der meistverehrten schiitischen Vordenker der islamischen Welt, der irakische Großayatollah Ali Sistani, als bigotter Unterstützer des islamistischen Terrorismus verstanden wird, obgleich er sich unbeirrbar und mit größtem Engagement dafür einsetzt, dass der Irak nicht vollends in mörderischem Chaos versinkt. Das Gleiche gilt für den 2009 verstorbenen Großayatollah Ali Montazeri: Er war spiritueller Anführer der Grünen Bewegung im Iran und Nemesis des obersten iranischen Rechtsgelehrten Ali Khamenei, der wiederum selbst nur ein ziemlich mittelmäßiger Kenner der Scharia ist.

Es stimmt, dass die Scharia in ihrer konkreten Anwendung oft als Instrument hässlichster Unterdrückung vor allem von Frauen missbraucht wird. Der Westen und vor allem die Europäer haben vollkommen Recht, wenn sie sich gegen den Import von Scharia-Gesetzen in ihre Gesellschaften wehren. Grundsätzlich können wir nur hoffen, dass die progressiven muslimischen Rechtsgelehrten, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert erlebten, wieder an Einfluss gewinnen. Doch wir sollten nicht den intellektuellen und historischen Fehler begehen, selbst die unbeugsamsten Vertreter einer konservativen islamischen Geistlichkeit als Handlanger des islamistischen Terrorismus abzustempeln. Das Phänomen des islamistischen Terrorismus wird wohl am ehesten dann verschwinden, wenn eine muslimische Geistlichkeit endlich unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass die Ablehnung westlicher Werte und eines westlichen „Kulturimperialismus“ keine Gewalt rechtfertigt.

(…)

Dass wir die innere Zerrissenheit des Islams missverstehen und fälschlicherweise in der Scharia und ihren Hütern unsere ärgsten Feinde sehen, ist nicht einmal der größte Fehler einiger Rechtskonservativer. Viele von ihnen – aber auch viele Liberale – verkennen die ungebrochene Dominanz der westlichen, vor allem der amerikanischen Kultur in der muslimischen Welt. Vom Untergang der USA zu sprechen mag zwar derzeit im Westen ganz im Trend liegen. Doch die Methoden von Osama Bin Laden und seinen Anhängern zeigen doch gerade, dass wir, also der Westen, den Kampf um die Menschen in der muslimischen Welt noch nicht verloren haben. Für Muslime, die das Weltgeschehen per Fernsehen oder Internet verfolgen, verkörpern wir immer noch gleichzeitig Hoffnung und Hölle. Khomenei drückte es einmal so aus: Der Westen sei der große Satan, weil er gute muslimische Männer und vor allem Frauen verführe und vom tugendhaften Pfad abbringe.

Die iranischen Nuklearambitionen und das entschlossene Missionieren der Muslimbruderschaft im Nahen Osten und in den muslimischen Einwanderergesellschaften im Westen sind ein Versuch, der „Verführung durch den Westen“ etwas entgegenzusetzen. Doch die traumatische Verwestlichung des Islams hält an. Sie hat die islamische Revolution im Iran und Osama Bin Laden hervorgebracht. Aber sie hat auch, und zwar mit voller Wucht, den Wunsch der Muslime – und auch hier: vor allem der muslimischen Frauen – nach Demokratie und Wohlstand geweckt. Es besteht also Hoffnung, dass die Übergangsphase des Islams weniger blutig ausfällt als unsere eigene, auch wenn wir mit dem Schlimmsten rechnen sollten.

Wir sollten keine Feinde dort sehen, wo keine sind. Das Heilige Gesetz des Islams ist und war schon immer das, was Muslime daraus machen. In der fundamentalen innerislamischen Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Moderne wäre es töricht, die Geistlichen zur Bedrohung zu erklären. Sie werden, wie sie es immer getan haben, den Weg einschlagen, den sich der Großteil der Muslime wünscht. Der Westen und die Muslime mögen zwar (noch) nicht unbedingt viele Wertvorstellungen teilen. Aber sie teilen ausreichend viele, um auf eine gewalttätige Auseinandersetzung verzichten zu können und eine vielleicht von Misstrauen gekennzeichnete, oft angespannte, aber insgesamt friedliche Koexistenz aufrechtzuerhalten.“

Alles hier lesen.

 

Deutsche Muslime verurteilen Massaker an Christen

Es treffen auch Tage nach dem Anschlag von Alexandria immer noch neue Bekundungen des Abscheus von muslimischer Seite ein.  Ein paar Kernaussagen seien hier zusammengestellt (nur deutsche Quellen):

Der Koordinationsrat der Muslime schrieb am Samstag auf seiner Website:

Der Koordinationsrat der Muslime verurteilt diesen feigen und schrecklichen Anschlag auf das Schärfste. Der Sprecher des KRM Erol Pürlü äußerte sich bestürzt: „Wir verurteilen diesen schrecklichen und unmenschlichen Anschlag auf das Schärfste. Wer Menschen so hinterhältig und grausam Schaden zufügt und ermordet, kann sich auf keine Religion oder eine andere Weltanschauung berufen. Der Koran fordert den Schutz des Lebens und den Schutz von Gotteshäusern.“
Sure 22, 40: „Und wenn Allah nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt hätte, so wären fürwahr Mönchsklausen, Kirchen, Synagogen und Moscheen zerstört worden, in denen Allahs Name häufig genannt wird.“

Der „Liberal-Islamische Bund“ schreibt:

Der Liberal-Islamische Bund verurteilt diesen heimtückischen Angriff auf das Schärfste. Dabei sehen wir uns an der Seite vieler Musliminnen und Muslime in Deutschland und in aller Welt. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Möge Gott ihnen allen die Kraft und Stärke geben, die nötig ist, um das Erlebte zu ertragen. Wir trauern in der Hoffnung, dass sich alsbald niemand mehr finden wird, dieses blutige Werk fortzuführen.

Im Internet kursieren Bekennerschreiben von al-Qaida nahen Gruppierungen. Sollten die Täter ihre mörderischen Pläne unter Berufung auf den Islam durchgeführt haben, so möchten wir hier klarstellen, dass es dafür keine theologische Rechtfertigung gibt. Der schreckliche Anschlag ist die Tat von feigen Fanatikern, die den rechten Weg längst verlassen haben.

Es liegt an uns allen, unmissverständlich klarzustellen, dass niemand im Auftrag Gottes handeln kann, wenn er andere Menschen ermordet. Es liegt an uns allen, solche Verbrechen beim Namen zu nennen und die Täter aus unserer Gemeinschaft auszuschließen. Es liegt an uns allen, den Tätern deutlich zu machen, dass sie keine Sympathie und keine Solidarität für ihr Handeln erfahren werden.

Die Antwort auf den Terror und auf das Schüren von religiösem Hass kann jetzt nur sein, dass sich Christen und Muslime gemeinsam wehren und sich nicht spalten lassen. Wir appellieren an die ägyptische Regierung, ernsthafte Schritte zu unternehmen, um die strukturelle Diskriminierung von Kopten und anderen religiösen Minderheiten in ihrem Land zu überwinden.

Das „Forum für Interkulturellen Dialog e.V.„, das dem türkischen Prediger Fethullah Gülen nahesteht,

„verurteilt den Bombenanschlag von Alexandria auf das schärfste. Es gibt keine im Islam begründete, theologische Rechtfertigung für eine solche Tat. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen.
Fethullah Gülen zu Terror im Islam:

Muslime sollten sagen: „Im wahren Islam gibt es keinen Terror.“ Niemand darf einen Menschen töten. Niemand darf einen Unschuldigen töten, selbst im Krieg ist das verboten. Niemandem steht es zu, zu diesem Thema ein Urteil zu erstellen. Niemand darf sich als Selbstmordattentäter betätigen. Niemandem ist es erlaubt, mit Bomben am Körper in eine Menschenmenge zu stürmen. Völlig unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Menschen in jener Menge verbietet dies die Religion. Selbst im Kriegsfall ist das nicht erlaubt. Der Islam ist eine gerechte Religion, die auch richtig gelebt werden sollte. Es wäre definitiv falsch, auf dem Weg zum Islam von sinnlosen Ausreden Gebrauch zu machen. Wenn das Ziel, das man verfolgt, ein gerechtes Ziel ist, dann sollten auch die Mittel zur Erreichung dieses Ziels gerecht sein. Aus dieser Perspektive betrachtet, kann niemand dadurch ins Paradies eingehen, dass er einen anderen tötet. Kein Muslim kann sagen: „Ich werde einen Menschen töten und dann ins Paradies eingehen.“ Die Akzeptanz des Willens Gottes verdient man sich nicht dadurch, dass man andere Menschen tötet. Ein wahrer Muslim, der den Islam in all seinen Aspekten versteht, kann kein Terrorist sein. Jemand, der sich an terroristischen Aktivitäten beteiligt hat, kann kaum ein Muslim bleiben. Die Religion billigt es nicht, einen Menschen zu töten, um ein Ziel zu erreichen.

Der Penzberger Imam Benjamin Idriz schreibt zum gleichen Thema:

Als Imam und Vorsitzender des „Zentrums für Islam in Europa – München (ZIE-M)“ habe ich immer und immer wieder bekräftigt,
– dass Terror durch nichts auf der Welt zu rechtfertigen ist,
– dass diejenigen, die Anschläge verüben, Verbrechen gegen Gott und gegen die Menschheit begehen,
– dass das Ansehen unserer Religion, die den Frieden im Namen führt, durch die sinnlosen und verbrecherischen Taten verblendeter Gewalttäter geschändet und entstellt wird.
Mit den Mitgliedern des ZIE-M bin ich entsetzt und fassungslos, was unseren christlichen Brüdern und Schwestern in Alexandria angetan wurde.
Wir rufen denjenigen zu, die in Hass und Gewalt involviert sind, oder die dazu neigen, solche Verbrechen zu verharmlosen anstatt sie in aller
Schonungslosigkeit beim Namen zu nennen: Hört auf mit Eurem Tun und hört auf, Euch dabei auf Gott und auf unsere Religion zu berufen! Terror ist niemals eine Lösung, aber immer eine Sünde. Jeder Angriff auf eine Kirche – oder eine Synagoge – ist wie ein Angriff auf eine Moschee: eine Sünde und ein Verbrechen.
Im Namen Gottes und der Menschen:
denkt nach, glaubt an die wahre Botschaft des Islam und verbreitet Frieden! Wer sich bei solchem Tun auf Gott und auf unsere Religion beruft, stellt sich
in Wahrheit gegen Gott und gegen den Islam. Deshalb rufen wir auch alle Glaubensbrüder und -schwestern auf, keinesfalls aus falsch verstandener Solidarität potentielle Täter zu schützen oder ihr Tun zu verharmlosen! Der Islam gebietet uns, für die Sicherheit der Menschen in jedem Land, in dem wir leben, einzustehen. Deshalb ist für uns gemeinsame Wachsamkeit mit allen friedliebenden Menschen ebenso wie mit den zuständigen Behörden eine Selbstverständlichkeit. Gemeinsam müssen wir gegen Extremismus, gegen Gewalt wie gegen radikale Gesinnungen eintreten, egal gegen wen sie sich richten.

Der Koptisch-Orthodoxen Gemeinde in München drücken wir unsere Solidarität, unsere Betroffenheit und unser tief empfundenes Mitgefühl aus.
Wir wünschen Ihnen und Ihren Brüdern und Schwestern in Ägypten, dass Sie trotz des Entsetzens und der Trauer eine friedvolle Weihnacht feiern können und mit Gottes Segen ein Jahr der Aufrichtigkeit, des Miteinanders und der Überwindung von Konflikten gelingen wird!

Und schließlich, this just in, schreibt die Religionsgemeinschaft des Islam Baden Württemberg:

Als Religionsgemeinschaft des Islam verurteilen wir die Anschläge auf Christen und andere Minderheiten in muslimischen Ländern aufs Schärfste. Es ist höchst bedauerlich und inakzeptabel, dass Menschen aufgrund ihres Glaubens diskriminiert werden und dass ihnen sogar das Lebensrecht abgesprochen wird.
Nach islamischem Glauben stehen Menschen, die unschuldigen Menschen nach dem Leben trachten, außerhalb des Islam. Sie sind durch Gehirnwäsche manipulierte Menschen, die alle anderen als Feinde sehen, die nicht wie sie denken und glauben.
Der Islam verbietet solche intolerante, inhumane Aktionen und Auffassungen. Kein aufrichtiger gläubiger Muslim würde sich jemals zu einer solchen Untat  hinreißen lassen.
Wir kennen solche Menschen mit verzerrtem Glaubensbild zu genüge. Daher ist unser Anliegen die Aufklärung der Muslime hier wie dort.

 

Verfolgte Christen in Ägypten

Auch Muslime müssen den Kampf für die Unversehrtheit der Christen in der arabischen Welt aufnehmen

(Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen, Nr. 2, 2011, S. 1)

Jetzt nennt man sie eine „Märtyrerin“. Doch Maryouma Fekry hatte anderes vor mit ihrem noch jungen Leben. Minuten bevor sie zur Neujahrsmesse aufbrach, speicherte die 22jährige ein Update auf ihrer Facebook-Seite: „2010 ist vorbei…Dieses Jahr ist das beste in meinem Leben…Ich habe so viele Wünsche für 2011…Bitte Gott, bleibe bei mir und hilf mir, sie wahr zu machen“. Kurz nach Mitternacht explodierte die Bombe vor der St Markus und Peter Kirche der ägyptischen Hafenstadt Alexandria. Maryouma und 20 weitere koptische Christen starben, mehr als hundert wurden verletzt.
Maryoumas Facebook-Seite gibt es noch. Unter dem Bild der strahlenden jungen Frau, die Harry Potter und Linkin Park mochte, tragen sich Hunderte ein, die sich dem Irrsinn des islamistischen Terrors entgegenstellen wollen. Es sind auch Muslime unter Ihnen.
Sie haben offenbar verstanden, dass es um mehr als nur einen weiteren beklagenswerten Terrorakt geht: Es droht die kulturelle Selbstverstümmelung der islamischen Welt durch schrittweise Vernichtung des orientalischen Christentums. Alexandria ist kein Einzelfall. Erst vor wenigen Wochen traf es die Gemeinde der Kirche „Maria Erlöserin“ in Bagdad: Ein Selbstmordkommando stürmte am 31. Oktober den Sonntagsgottesdienst und massakrierte mit Bomben und Maschinengewehren 58 Menschen. Al-Kaida im Irak bekannte sich zu dem Massenmord.
Das Christentum im Zweistromland, darunter einige der ältesten Gemeinden weltweit, ist in den letzten Jahren bereits um die Hälfte geschrumpft. Wer es sich leisten konnte, ging in den Westen, die Armen suchten Zuflucht im ruhigeren und toleranteren kurdischen Norden und in der Türkei. Nach der Gräueltat von Bagdad hat nun eine weitere Fluchtwelle eingesetzt. Die Welt schaut hilflos zu, während das Christentum der Chaldäer und Assyrer, in deren Gottesdiensten teils noch das biblische Aramäisch vorkommt, zugrunde geht. Welch grausame Ironie: Dem Irakkrieg wurde »Kreuzzüglertum« unterstellt. Doch nun ist es denkbar geworden, dass das Christentum in ihrem Gefolge von einigen seiner frühesten Stätten vertrieben wird. Die Ureinwohner Ägyptens und Iraks, deren Gemeiden viele hundert Jahre vor dem Islam schon dort beheimatet waren, sind Sündenböcke geworden. Fanatiker erklären sie zu Fremdkörpern und fünften Kolonnen, die es auszumerzen gelte.
Die radikalen sunnitischen Islamisten der Kaida haben sich die religiöse „Säuberung“ der muslimischen Welt auf die Fahne geschrieben. In ihrer Vision eines neuen Kalifats zwischen Bagdad und Marrakesch gibt es keinen Platz für Christen und Juden. (Aber auch nicht für die Schiiten, die ihnen ebenfalls als Häretiker gelten.) Der Neujahrsanschlag, der die Handschrift der Kaida trägt, ist auch ein Schlag gegen das ägyptische Regime von Hosni Mubarak. Im September nämlich soll in Ägypten ein neuer Präsident gewählt werden. Mubarak will seinen Sohn installieren und unterdrückt brutal den Widerstand, ganz gleich ob säkular oder islamistisch. Wer die Kopten schlägt – mit mehr als 8 Millionen die größte christliche Minderheit in Nahost – trifft zugleich das prowestlichste Regime der arabischen Welt.Der »Pharao« Mubarak spielt sein eigenes Spiel: er versucht, die erbärmliche Lage der Kopten ganz auf die Taten der Extremisten zu reduzieren. Doch sein Regime hat die schleichende Islamisierung der Gesellschaft zugelassen und Bigotterie gegen Andersgläubige geschürt. Kopten werden am Kirchenbau gehindert und haben kaum Aufstiegschancen im korrupt geführten Staat. Vor einem Jahr, am koptischen Weihnachtsfest, erschossen muslimische Attentäter sieben Christen vor der Kathedrale von Nag Hammadi. Sie waren Ägypter. Der Präsident ließ sich zwei Wochen, bis er die Tat verdammte.

Die Vertreter des Islams in Deutschland muss niemand mehr lange bitten, sich zu positionieren: Nur Stunden nach dem Massaker hat der »Koordinationsrat der Muslime« den »feigen und schrecklichen Anschlag auf das Schärfste« verurteilt. Ein Lernprozeß: Muslime haben verstanden, dass die radikalen Islamisten mit dem Vertrauen auch die Grundlage des Zusammenlebens hierzulande zerstören wollen. Es ist absurd, von unbescholtenen Muslimen nach jedem Anschlag die Distanzierung von Gewalttaten zu fordern, die sie niemals gebilligt haben. Leider geschieht das auch jetzt wieder. Mit solchen kenntnisfreien Forderungen macht man die Wohlwollenden indirekt zu Geiseln jener Dschihadisten.
Das ist fatal, weil die eigentliche Kampflinie nicht zwischen den Religionen verläuft, wie es die Weltenbrandzündler gerne hätten. Sie verläuft zwischen denen, die in einer multireligiösen Gesellschaft leben wollen und den Fanatikern der Reinheit – heute vor allem: innerhalb des Islams. Die größte Provokation für die Mörder im Namen der Reinheit ist die angstfreie Vermischung, auf der die Stärke der freien Gesellschaften beruht. Denn jeder Muslim, der friedlich und gut nachbarschaftlich im Westen lebt, ist eine wandelnde Widerlegung Bin Ladens. Wir sehen das oft nicht mehr in unserer erregten Islamdebatte. Mit jedem Christen hingegen, der Ägypten oder Irak verläßt, kommen die islamistischen Träumer des Absoluten ihrem Ziel näher. Darum müssen die Muslime – auch im Westen – den Kampf für die Rechte der Christen des Orients mit führen: Es ist auch ihr Kampf, die Differenz zwischen dem Islam und der aggressiven Ideologie deutlich zu machen, durch die Maryouma Fekry zur Märtyrerin wider Willen wurde.

 

Kann man den Islam vom radikalen Irrsinn befreien?

Die Palestinian Authority, also die Fatah-Regierung in der Westbank, geht seit einiger Zeit sehr hart gegen radikale Prediger vor.

Der neue Minister für Religiöse Angelegenheiten, Mahmoud Habbash, hat die Kontrolle über die Moscheen übernommen. Der Hintergrund: Über radikale Prediger hat die Hamas im Westjordanland einen erheblichen Einfluss ausgeübt.

Jetzt ist Fatah offenbar entschlossen, diesen Kanal zu schließen. Die Washington Post schreibt, die Freitagspredigten würden von Habbash zentral verfasst und den Moscheen übermittelt. Die Imame müssen diese Texte als grundlage ihrer Predigten nehmen. Wenn sie davon abweichen, werden sie von Sicherheitsdienst gemeldet.

Die Imame müssen auch durch die Moscheen rotieren, um „Gedenkenkontrolle“ der Gläubigen durch einzelne Prediger zu verhindern. Das System erinnert stark an das türkische Modell des Staatsislams (Diyanet) oder auch an den Zugriff des ägyptischen Staates auf die Religion. Die Zentralisierung der Religion stellt aber für die Westbank eine Novität dar – und die Gegenpropaganda der Hamas lässt auch nicht auf sich warten:

The firm grip on mosques is the latest element in a long effort to curb the strength of Hamas that has included widespread arrests and bans on Hamas media and gatherings. On Tuesday, when 70,000 people gathered in Gaza to mark the 23rd anniversary of the founding of Hamas, there were no rallies in the West Bank to mark the occasion.

The United States has pushed the Palestinian Authority to put an end to the vitriolic sermons that the United States and Israel say undercut peace efforts. But it has been careful not to overtly praise the latest effort. While seen as helpful to U.S. goals, the crackdown also reveals an authoritarian streak in a Palestinian leadership routinely hailed by American officials for its governance.

Such central government control of clerics is not uncommon in the Arab world. But it is disappointing to those who had expected greater tolerance from the Palestinian Authority, which rules parts of the Israeli-occupied West Bank. As part of its clampdown, the ministry has banned Hamas-affiliated imams from preaching. Those who are authorized to preach are paid by the Palestinian Authority.

„The Palestinian Authority’s plan is to combat Islam and the religious trend within it,“ said Sheikh Hamid Bitawi, a well-known Islamic religious authority in Nablus who delivered sermons for four decades before the Palestinian Authority banned him three months ago.

Bitawi estimates that dozens of other imams have been prevented from preaching since the crackdown started, leading to a preacher shortage at many mosques. „I’m sure the popularity of Fatah [Abbas’s party] and the Palestinian Authority is going down,“ Bitawi said. „They will be punished for their behavior.“

Ein Problem könnte sein, dass die Repression der Extremisten als Verbeugung vor den Forderungen der USA und Israels gesehen wird. Aber Habbash wehrt sich gegen solche Vorwürfe. Der Kampf gegen den Antisemitismus, führt Mahmoud Habbash, selber islamischer  Theologe,  als Kampf um die Seele seiner eigenen Religion. Ein mutiger Mann.

Habbash insists his goal is to advance Palestinian unity, not to appease the United States or Israel. So far, the Palestinian Authority has focused most of its attention on the mosques and responded quickly when it sees a problem.

After an imam urged Muslims to kill Jews in a sermon broadcast on a Palestinian government-run television station earlier this year, U.S. officials complained. Habbash apologized, said the imam had been a last-minute substitute, and ordered the next Friday’s sermon at all mosques to be about tolerance among followers of Islam, Judaism and Christianity.

Habbash, 47, taught Islamic law and wrote a newspaper column before being forced to flee the Gaza Strip after Hamas seized control of the territory in 2007. Today, he is one of the government ministers closest to Abbas. His policy also makes him one of the most endangered: While most ministers travel with two bodyguards, he has six.

„My main message is, we need to liberate Islam from this madness, from this extremism and wrong understanding of Islam,“ he said. „Islam does not incite to hate.“

Khalil Shikaki, chief pollster at the Palestinian Center for Policy and Survey Research, said the overall crackdown on Hamas, including the mosque policy, has clearly weakened Hamas in the West Bank. „They have no media – no newspapers or magazines“ in the West Bank, he said. „No doubt they have lost the mosques as a key platform.“

Liberate Islam from this madness.

Starke Worte. Wer so etwas sagt, begibt sich in Palästina in Lebensgefahr.

 

Die schleichende Vernichtung der irakischen Christen

Ich hatte heute Besuch von vier irakischen Christen, die dieser Tage auf Einladung des Goethe-Instituts in Deutschland sind.

Was sie mir über ihre Lage erzählt haben, ist sehr aufwühlend. Sie hatten auch Bilder dabei, die ich wohl so schnell nicht vergessen werde. Auf ein solches Grauen war ich nicht vorbereitet. Ein wenig bin ich immer noch unter Schock, vielleicht hilft es da, ein paar Eindrücke aufzuschreiben.

Nabeel Qaryaqos ist Journalist in Baghdad. Er sagt, wenn er schreiben würde, was er denkt und was er für richtig hält, würde er umgebracht. Über die grassierende Korruption kann er nicht ohne Lebensgefahr berichten. Seine Tochter, auch sie Christin, wird in der Schule gezwungen, den Koran zu lernen. Seine Frau, eine Ingenieurin, kann nicht mehr an der Uni unterrichten, weil sie sich weigert, ein Kopftuch anzulegen. (Auch sie ist Christin.) Abends klopfen Leute an die Tür und rufen: Haut ab! Sie hinterlassen auch Zettel mit Drohungen. Die Christen sollen aus Bagdad, aus dem ganzen Land verschwinden. Über so etwas kann er nicht schreiben, sonst bringen sie ihn gleich um. Herr Qaryaqos erzählt von einer Familie, die sich nach jahrelanger Einschüchterung entschlossen hatte, auszuwandern. Sie verkauften ihr Haus, allerdings zu einem viel zu geringen Preis – weil ja bekannt war, dass sie unter Druck standen wegzugehen. Nach dem Verkauf wurde die Familie überfallen und ermordet. Das Geld aus dem Hausverkauf wurde gestohlen.

Aziz Emanuel Al-Zebari ist Sprecher des „Chaldean Syrian Assyrian Popular Council“, einer Dachorganisation der chaldäischen Christen im Irak, einer der ältesten christlichen Gemeinschaften weltweit. Christen hätten keine Rechte im Irak, sagt der exzellent englisch sprechende Herr Al-Zebari, der in Erbil Englisch lehrt. Sie werden bestenfalls als „Dhimmis“ behandelt und müssen oft die islamische Kopfsteuer (Jiziya) an islamistische Gruppen bezahlen, die wie Mafiosi ihnen gegenüber auftreten. Man versuche systematisch, Christen aus ihren Häusern und Wohnvierteln zu verdrängen und ihnen ihr Eigentum wegzunehmen. Moscheen werden in Christengegenden gebaut, um den Machtanspruch des Islams zu demonstrieren. Iran und Saudiarabien, sonst verfeindet, würden beide jene Gruppen unterstützen, die den Irak vom Christentum reinigen wollen. Ein halbe Million Christen hat den Irak bereits verlassen, eine weitere halbe Million hält sich noch, vor allem im kurdischen Norden. Aber viele seien als Binnenflüchtlinge dorthin gekommen und hätten keine Lebensgrundlage. Das chaldäische Christentum, so schildert es Herr Al-Zebari, steht vor dem Aus. Die einzige Lösung wäre eine autonome Region, sagt er, so wie die Kurden eine haben. Ohne einen sicheren Hafen sei die Jahrtausende alte christliche Kultur, die lange vor dem Islam in Mesopotamien zuhause war, in wenigen Jahren am Ende. Seine eigene Familie ist schon teils im Ausland.

Dr. Samir S. Khorani, ein (christlicher) arabischsprachiger Professor für Literaturkritik an der Salahadeen Universität von Erbil, schließt sich dem Plädoyer an. Die Welt solle den Christen lieber im Irak helfen, statt sie zu Flüchtlingen zu machen. Nur dort könnten sie auf Dauer ihre Kultur bewahren. Mit Saddam Husseins Förderung des politischen Islams in seiner späten Phase habe das Elend angefangen. Christen, die Ureinwohner des Landes, wurden schon unter Saddam zunehmend zu „Ungläubigen“ umdefiniert. Nach der Invasion von 2003 wurden sie zur Zielscheibe des Hasses vor allem der Sunniten auf den Westen, auf Amerika. Die einheimischen Christen, sagt Herr Khorani, haben den Preis für den Krieg bezahlt, weil man sich an ihnen ohne Risiko schadlos halten konnte. Sie wurden als Verräter gebrandmarkt, weil man automatisch annahm, sie hätten die Amerikaner gerufen. Weil im Irak seit 2005 die Scharia als Maßstab der Gesetzgebung gilt, sie die institutionelle Diskriminierung von Christen programmiert. Was den Christen im Irak angetan werde, sei ein „Genozid in Zeitlupe“. Täglich würden Christen in Mossul und Bagdad ermordet.

Abdulla Hermiz Jajo Al-Noufali ist Chef der staatlichen Stiftung für „Christen und andere Religionen“ in Bagdad. Er sagt, die Christen seien das Ventil für den innerislamischen Hass zwischen Sunniten und Schiiten. Das ist die einzige Sache, über die sich die Extremisten in beiden muslimischen Lagern einig seien: der Hass auf die Christen. „Hier bei euch in Europa verlangen Muslime die Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften, selbst wenn die Muslime nicht Bürger dieser Länder sind. Wir aber sind die Ureinwohner des Irak und haben keine Rechte. Alles, was wir verlangen, ist folgendes: Behandelt uns in unserem eigenen Land so, wie die Muslime in Europa behandelt werden. Das würde uns schon reichen.“ Schiiten, sagt Herr Al-Noufali, seien etwas weniger schlimm als die radikalen Sunniten, deren Agenda von Al-Kaida bestimmt werde. Und dies deshalb, weil die Schiiten selber jahrhundertelang von den Sunniten verfolgt und unterdrückt wurden. Auch theologisch seien die Schiiten wesentlich gesprächsbereiter als die Sunniten, bei denen die Salafiten den Ton angeben. Trotzdem: das Ende des Christentums in Mesopotamien stehe bevor, wenn die internationale Gemeinschaft nicht bald handele.

Und dann holt er ein Album hervor. Er will mir zeigen, was in der Kirche „Maria Erlöserin“ in Bagdad am 31. Oktober passiert ist. (Ein Massaker, das bei uns kaum Reaktionen ausgelöst hat.) Ein Al-Kaida-Kommando hatte das Gotteshaus am Sonntagabend überfallen, die Gottesdienstbesucher als Geiseln genommen. Am Ende des Gemetzels waren 58 Menschen tot, mehr als 70 verletzt.

Ich blättere: Blutspuren an allen Wänden, an der Decke, zwei tote Priester im Ornat, eine Mutter mit einem totem Baby, noch eine Mutter mit totem Baby, ein Leichenfetzen hängt im Kronleuchter, ein Stück Fleisch liegt zwischen Kirchenbänken, und dann: Tote, Tote, Tote. Eine Gruppe von Menschen, erklärt Herr Al-Noufali, hatte sich in einen hinteren Raum zurückgezogen und diesen mit Regalen verrammelt. Zwei Islamisten sprengten sich am Eingang des Raumes in die Luft, um den Weg freizubekommen. Dann warfen andere aus dem Kommando Granaten in die betende Menge.

Die Zeit ist um, die vier Herren ziehen weiter, um anderen Journalisten und Abgeordneten von der Lage ihrer Leute zu erzählen.

Herr Al-Zebari sagt, er werde noch einen Abstecher nach Schweden machen, bevor er in den Irak zurückkehrt. Dort wohnt ein Teil seiner Familie. „Haben Sie von dem Anschlag in Stockholm gehört?“ fragt er mich. Natürlich, sage ich, und verweise auf den irakischen Hintergrund des Täters. „Wir fühlen mit Ihnen, wenn dieser Wahnsinn jetzt nach Europa kommt“, sagt Herr Al-Zebari.