Nachtrag zum Thema: „Keine Schwulen im Iran“

Wunderbare Persiflage von SNL auf den New-York-Besuch des iranischen Präsidenten:

Und irgendwie scheint mir dieses kuriose Video über iranische Aerobics dazu zu passen. Guter Musik-Track:

 

Und das ist nicht gut so: Schwulenhass unter Migranten

Ein schwuler Bürgermeister hilft offenbar nicht viel, wenn es darum geht, schwulenfeindliche Einstellungen abzubauen.

Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland hat den Kieler Sozialpsychologen Bernd Simon beauftragt, Berliner Schüler über ihre Meinung zur Homosexualität zu befragen. Von dem Ergebnis zeigte der Verband sich „nicht überrascht“, in der Eindeutigkeit aber doch erschreckt. Die Berliner Zeitung schreibt von einem „tief sitzenden Schwulenhass“:

„So sagten 37 Prozent der jungen deutschen Männer, sie hätten etwas falsch gemacht, wenn ihr Kind homosexuell wäre. Bei den russischen Migranten waren 51 Prozent, bei den türkischen Jugendlichen sogar 71 Prozent dieser Meinung. Gleiche Rechte für Hetero- und Homosexuelle fanden 74 Prozent der deutschen Schüler, 47 Prozent der russischen und nur noch 38 Prozent der türkischen Schüler richtig.“

Und Jan Feddersen kommentiert in der taz:

Entsprechendes sagen auch Sozialpädagogen und andere mit der Betreuung von Menschen befasste Personen: Nichts verdient so sehr Verachtung, mehr noch, Bestrafung wie ein Angehöriger, der homosexuell ist. Und was fällt Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner dazu ein? Sie warnt davor, einen Zusammenhang mit dem Islam herzustellen. „Das wäre hier die grundfalsche Antwort. Ich wünsche mir, dass wir Homophobie nicht mit Islamophobie begegnen.“ Als ob das jemand täte!

In Wahrheit gibt es einen Zusammenhang zwischen der herauskristallisierten Parallelgesellschaft muslimischer Prägung, meinetwegen altpatriarchalischen Formen des menschlichen Zusammenlebens und diesem grassierenden Hass auf Homosexuelles, der mit dem Wort „Homophobie“ nur unzulänglich umrissen ist. Wer diese inneren Verbindungen leugnet, will letztlich auch nichts von den Umständen wissen, denen Homosexuelle gerade in muslimisch geprägten Gemeinschaften ausgesetzt sind. Das Argument, man dürfe nichts gegen den Islam sagen, lebt ohnehin von der Unterstellung, dass auch das Christentum in Sachen Antihomosexualität seine Leichen im Keller habe. Richtig, möchte man sagen – aber die in Berlins Vierteln Neukölln und Wedding, in Hamburgs Billstadt oder in Köln-Mülheim gelebten Arten des Hasses auf Homosexuelle findet sich in altdeutsch (auch christlich) grundierten Milieus nur noch selten: Und wenn, ist man dort seit vielen Jahrzehnten gewöhnt, dass die betreffenden Kinder sich mit Hilfe eines Netzes von Hilfsangeboten aus den homophoben Strukturen lösen können.

Den Alltag in muslimischen Vierteln aber kennzeichnet vor allem dies: Es gibt reichlich Männer mit schwuler Praxis. Sie leben aber in heterosexuellen Ehen – und spricht man sie denn an, was sie davon hielten, wenn ihre Töchter und Söhne auch Nein, wehren sie brüsk ab, die müssten dann verheiratet werden, im übelsten Fall sogar verstoßen oder getötet werden. In diesen Milieus gibt es so viel Ehebetrug gerade mit schwulem Unterfutter – und stets verteidigen die Betrüger ihre familiären Verhältnisse mit dem Hinweis auf den Koran, auf Allah und auf die Familie, die man nicht enttäuschen dürfe.

Weiteres Material hier.

 

Scharia in Aktion: Schwule im Iran ausgepeitscht

Die iranische Homosexuellenorganisation IRQO berichtet folgende Barbarei aus dem Leben zweier junger Schwuler:

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Diese beiden Männer wurden nach Angaben der IRQO im Mai ausgepeitscht, weil sie eine Party für ihre schwulen Freunde gegeben haben.

Farsad is 26 years old and Farnam is 24, (their names have been changed to protect their identities). Their lives, like many, if not all the other Lesbians and Gays in Iran, is miserable. Farsad lost his father at fifteen and his mother re-married a revolutionary guard member (a military organism developed by the Iranian regime), which itself is a bitter story. „since childhood I could not find any attraction to the opposite sex; yes of course I am a homosexual.“ Farsad says.

At 21, in order to meet other people like himself, he set up a successful weblog. The secret police found his address through his IP and arrested him. He spent three weeks in solitary confinement, and then he was accused of obscenity, advocating decadent values and homosexuality. They sentenced him to six month in prison. After completing his sentence he suffered from depression and phobia about revealing his identity and going back to prison, with symptoms so debilitating he was hospitalized. Then his diary was found by his stepfather, who demanded Farsad denounce his homosexuality.

When Farsad resisted, his step-father took him to Qom (a holy city in Iran, and a center of Ayatollahs) to be seen by the grand ayatollahs; He spent a few nights in custody, was humiliated by the security forces there. They threatened him with stoning unless he denounced his homosexuality.

Traumatized by the threats, he was then taken to see a grand ayatollah, where he signed his confession and forgiveness plea. He was then returned to Tehran, where he received 95 lashes before being released. Almost as an afterthought, he was questioned by the supreme leader’s office in the university where he was studying — and was expelled from school, as well.

Last winter, he met Farnam in a gay chat room. After corresponding they moved in together to start life as a couple, in disguise but together. They invited a small group of their friends to celebrate this union. Just fifteen minutes after the party began, the police broke into their house and arrested everyone. They were brutally beaten, says Farsad, and then transported to a police detention center. They spent the entire Persian new year holidays in a prison cell. „We were beaten to the point that my spine hurt permanently; I still feel the pain caused by the fists pounding my face“, Farsad says.

They were accused of advocating decadency, homosexuality and prostitution. Because they were arrested together, the authorities insisted on more details about their relationship. During the police interrogation, they were asked, „Did you have sexual intercourse with each other?“ They did not admit to this question, and eventually they were sentenced for having an improper relationship, for which they received 80 lashes. All other guests were released conditionally and they were ordered to remain in the city and not get in-touch with each other.

Two weeks before the execution of their sentence, the party attendees were arrested again and were sentenced to 60 lashes each, which all received in the same day. Farsad and Farnam were told that 80 lashes was just for holding the party, and that their sentence for the improper relationship would be executed later.

 

Warum der Westen seine Werte vertreten muss

Am vergangenen Donnerstag habe ich in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik diesen Vortrag gehalten – als Antwort auf den Direktor des Thinktanks der DGAP, Professor Eberhard Sandschneider. Angeregt durch unsere ZEIT-Debatte zur Außenpolitik wird die DGAP eine Reihe über das Verhältnis zwischen Werten und Interessen in der deutschen Außenpolitik veranstalten. (Wir werden berichten.) Am Donnerstag war die Auftaktveranstaltung.

Ich muss diesen Vortrag mit einer diplomatischen und menschlichen Unmöglichkeit beginnen. Was ich jetzt gleich tun werde, ist wirklich das Letzte. Ich werde mich selbt zitieren.

Verzeihen Sie, aber hier und heute kann ich es mir nicht verkneifen.

Vor nicht ganz zwei Monaten habe ich in der ZEIT geschrieben:

Wie wenig Stabilität taugt, die auf Kosten von Freiheit und Menschenrecht geht, zeigen heute die Eruptionen in den arabischen Ländern. Die fortschreitende Implosion der Staatenwelt des Nahen Ostens stellt auch einen vermeintlichen Realismus bloß, der sich nicht traute, über die Gewaltherrscher hinauszudenken. Das einflussreiche Milieu der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik wäre eigentlich der Ort für solche Reflexionen.

 

Als Journalist hat man nicht oft einen unmittelbaren Effekt mit kritischen Äußerungen. Um so mehr freue ich mich, dass die DGAP mit Herrn Professor Sandschneider den Ball aufgenommen hat und die Debatte weiterführen möchte, sogar mit einer ganzen Reihe von Vorträgen. Statt mir die DGAP-Mitgliedschaft zu kündigen, hat man mich hier eingeladen. Das ist großzügig und zeugt von Sportsgeist.

Und damit in den Ring:

 

Lieber Herr Sandschneider – einerseits sagen Sie: Es gibt neue Wertekonflikte, die sich aus dem Aufstieg neuer Mächte ergeben – und aus deren Anspruch, ihre eigenen Werte durchzusetzen. Der Westen bestimmt nicht mehr die Regeln.

Zweitens sagen Sie aber, es gibt eigentlich keinen Konflikt zwischen unseren Werten und unseren Interessen, das wird nur künstlich von Moralisten hochgespielt, die von Außenpolitik keine Ahnung haben.

Also was denn nun?

Ich finde, die beiden anfangs zitierten Aussagen passen nicht recht zusammen. Und möchte dagegen stellen: Es gibt tatsächlich einen globalen Wettbewerb, in dem unsere Werte – die der freiheitlichen und offenen Gesellschaften, durchaus nicht mehr nur des klassischen alten „Westens“ – herausgefordert und in Frage gestellt werden. Sie können das auf die einfach Frage reduzieren: Wer kommt besser durch die Krise – die freien Gesellschaften, oder die Gelenkten, die zigfach ausdifferenzierten Formen von Tyrannei, die wir heute sehen können?

Ich sehe eigentlich nicht die von Ihnen so häufig beschworene Gefahr des Predigens und Missionierens durch den Westen – sondern eher die einer Verzagtheit – aufgrund von bererchtigten und unberechtigten Selbstzweifeln. Denn: Ob es eigentlich noch legitim ist und erfolgsversprechend, für unsere Idee der Moderne einzutreten – in der wirtschaftliche und gesellschaftlich-politische Öffnung Hand in Hand gehen –, das ist zweifelhaft geworden.

Und selbstverständlich geraten deshalb in der Außenpolitik immer wieder Werte und Interessen aneinander.

Es kann unangenehm, unbequem, teuer sein, sich der Demokratie, den Menschenrechten, dem Rechtsstaat und den Bürgerfreiheiten verpflichtet zu wissen. Es stört manchmal vielleicht die Geschäfte. Nicht so oft, wie suggeriert wird, übrigens, ich komme gleich drauf. Es stört aber womöglich das außenpolitische Geschäft mit den herrschenden Eliten in manchen Ländern, die ihre Gesellschaften nicht öffnen wollen.

Es wird maßlos und strategisch – mit Absicht – übertrieben, welche negativen Konsequenzen eine Politik klarer Worte hat.

Vor allem von denen, die immer sagen: Bitte nicht so laut, bitte nicht auf dem Marktplatz, nicht in den Medien! Dazu ist zu sagen: natürlich sind Marktplatz und Megaphon nicht die erste Wahl! Allerdings ist das ja erstens auch gar nicht der Alltag deutscher Menschenrechtsdiplomatie. Die findet natürlich im Stillen statt. Manchmal aber – zweitens – muss es laut und deutlich sein.

Nehmen wir das letzte Jahr: Laut Ostausschuss der dt. Wirtschaft das bisher erfolgreichste beim Handel mit Russland. Tolle Wachstumsraten, tolle Zufriedenheit! Zugleich hat Deutschland noch nie zuvor so deutliche Worte gefunden für die undemokratische Tendenzen des Regimes Putin. Das Auswärtige Amt hat zwar versucht, eine Resolution des Bundestages im letzten Herbst abzumildern. Zum Glück aber ist das wegen öffentlichen Drucks nicht geschehen, und der Bundestag hat mit breiter Mehrheit Putins Rückabwicklung von Rechtsstaat und Demokratie scharf gegeißelt.

Dessen ungeachtet sind 80 Prozent der deutschen Unternehmen optimistisch, was das kommende Jahr angeht. Eigentlich sollte das nicht zusammenpassen. Diese Entwicklung widerspricht den Appellen zur Leisetreterei, die immer mit dem Argument daherkommen, wir würden uns Zugänge verspielen, wenn wir uns für Bürgerrechte einsetzen.

Wir sollten uns nicht kleiner machen als wir sind.

 

Was heißt das übrigens, dass der Westen nicht länger „die Regeln“ bestimmt, wie Sie ja auch gerade wieder in Ihrem Vortrag ausgeführt haben, Herr Sandschneider? Das ist eine merkwürdige postkoloniale Polemik, mit der oft blanke Interessen der anderen Seite aufgehübscht werden: Wenn man das Copyright nicht akzeptiert, sich übers Patentrecht hinwegsetzt, wenn die Korruption gedeiht, wenn Minderheiten und Andersdenkende unterdrückt werden, wenn Wahlen manipuliert und Medien behindert werden, dann kommt diese Polemik auffällig oft zum Einsatz. Wir sollten diese Propagandamasche unterdrückerischer Regime nicht mitmachen. Es geht in Wahrheit um universalisierte Normen, zu denen sich – jedenfalls auf dem Papier – nahezu alle Staaten bekennen.

 

Beruhen die UN-Menschenrechtskonventionen auf „westlichen Werten“? Warum werden sie dann so breit ratifiziert? Gerhart Baum hat bei uns in der ZEIT vor einigen Wochen noch einmal klar gestellt: „Niemand diktiert der Welt ihre Werte – weder der Westen noch die deutsche Außenpolitik. Die Werte wurden in einem beispiellosen historischen Akt 1949 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen niedergelegt. Das war eine Reaktion auf die Schrecken der ersten Hälfte des dunklen 20. Jahrhunderts. In der Präambel heißt es: ‚Die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte hat zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben.’“

Betonung: „Gewissen der Menschheit“. Nicht „der westlichen Welt“.

 

Und was soll es heißen, dass die Politik „externer Demokratisierung“ gescheitert sei? Dass deutsche Außenpolitik, wie Sie sagen, zwar besser ist als ihr Ruf, aber immer dann desaströse Ergebnisse zeitigt, wenn sie ihre Wertegebundenheit nach außen kehrt? Mit Sicherheit ist es richtig, die Zielsetzung des Afghanistan-Krieges und des gesamten neuen Interventionismus der letzten 15 jahre einer kritischen Revision zu unterziehen.

Die Politik scheut davor zurück und reagiert mit einer klammheimlichen, nichterklärten Doktrin des Sichraushaltens in Kombination mit einer Lockerung der Waffenexportpolitik – explizit auch an undemokratische Mächte in Spannungsregionen wie Saudi-Arabien.

Ist das die richtige Konsequenz aus einer Ernüchterung beim Interventionismus? Stabilität schaffen mit immer mehr Waffen? Wer kann nach den Ereignissen der letzten Jahre in Arabien noch seine Hand für das Staatsmodell Saudi-Arabien ins Feuer legen?

 

Das neue Selbstbewußtsein der aufstrebenden Länder, das Sie immer wieder betonen, Herr Sandschneider, ist eine gute Sache – da, wo es auf Leistung und Reformbereitschaft mindestens im ökonomischen Bereich beruht, wie vor allem in China, aber auch in Lateinamerika und Afrika. Darüber sollten wir froh sein. Davon haben wir nichts zu berfürchten außer belebender Konkurrenz.

Zu unterscheiden ist davon die postkoloniale Propaganda autoritärer Regime, mit der gesellschaftliche Reformen abgewehrt werden sollen, weil sie schlicht die etablierte Herrschaft gefährden.

Meine Erfahrung ist: Wann immer das kulturrelativistische Argument kommt, dieser oder jener Wert tauge nicht für diese oder jene Kultur, ist meist etwas faul. Es klingt ja nicht grundsätzlich falsch, wenn vom Pluralismus der Lebensformen die Rede ist. Aber es wird natürlich oft strategisch eingestezt, gerade um Pluralismus zu verhindern! Ein Beispiel:

Kürzlich habe ich einen russischen Außenpolitiker getroffen, der im System Putin eine wichtige Größe darstellt. Wir hatten über Syrien, die Eurokrise, das iranische Atomprogramm und die Spannungen mit den USA diskutiert.

Doch richtig lebhaft wurde das Gespräch, als die Rede auf das Gesetz gegen die „homosexuelle Propaganda“ kam, das russischen Schwulen und Lesben ab dem Januar verbietet, über ihre sexuelle Orientierung zu reden.

Sehen Sie, sagte mein Gegenüber, warum regen Sie sich darüber auf? Wir drücken Ihnen in Deutschland doch auch nicht unsere Werte auf? Das ist eine russische Angelegenheit.

Wir haben das Recht, unsere Gesellschaft, unsere Familien, unsere Kinder vor diesen Erscheinungen zu schützen. Das ist nicht gesund für eine Gesellschaft. Wir wollen nicht, dass dieser Lebensstil sich verbreitet, aber wir kommen nicht zu ihnen und greifen Sie an, weil sie ihn dulden.

In Rußland aber haben wir Maßnahmen dagegen ergriffen. Das ist unser Recht. Sehen Sie, der Westen durchläuft gerade eine liberale Revolution – alles wird erlaubt, alle Lebensformen, alle Glaubenssysteme sind gleichwertig. Man kann aber solche Werte nicht importieren. Sie können nicht nach Moskau kommen und uns befehlen, diese liberalen Werte anzunehmen.

Sie im Westen durchlaufen eine liberale Revolution. Russland durchläuft eine konservative Revolution.

 

Das heißt in Wahrheit, ich übersetze das mal, „wir haben das Recht unsere Minderheiten zu unterdrücken, wie es uns passt“.

 

Soll die deutsche Regierung dazu schweigen? Ich glaube, das geht nicht mehr, gerade weil wir immer mehr mit Russland verflochten sind, und weil wir das gerne noch weiter treiben wollen. Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Russland will zu Europa gehören, seine Eliten schicken ihre Kinder hier zur Schule, sie kaufen Häuser und legen Geld in Europa an. Wer die Integration und Verflechtung unserer Gesellschaften befürwortet, kann Menschenrechtsverletzungen nicht ignorieren. Und da ist dieser Fall natürlich nur ein Symptom, aber ein wichtiges. Er ist ein Test dafür, ob wir uns und unsere Werte noch ernst nehmen.

 

Aber treten wir noch mal einen Schritt zurück.

 

Ich möchte hier kurz einige Elemente der Polemik gegen „überzogene Werte- und Moralbezüge“ aufgreifen, wie sie – prominent von Ihnen, Herr Sandschneider – immer wieder vorgebracht werden:

 

Erster Vorwurf: Der Westen hält sich nicht an seine eigenen Werte, darum soll er andere nicht belehren.

Ersteres ist leider sehr oft richtig. Das Zweite geschieht kaum noch. Im Gegenteil greift eine merkwürdige Verzaghtheit um sich, die aus westlichem Selbstzweifel gespeist wird: Es steht in Frage, ob unsere Gesellschaften am Ende die leistungsfähigeren sind. Das ermutigt die andere Seite, die Despotie als effiziente Alternative zu verkaufen. Dem muß man entgegentreten.

 

Zweiter Vorwurf: Der Westen missioniert die Welt mit seinen Werten und gibt sie doch für universale aus. Das ist eine Variante eines alten deutschen Vorurteils gegen den Westen, historisch besonders gegen die Briten: Werte sind nur Cover für Interessen. „Sie sagen Christus und meinen Kattun.“ (Fontane) Diese antiwestliche Tradition hat Deutschland in den Abgrund geführt. Ich verspreche mir nichts davon, daran anzuknüpfen.

 

Im Gegensatz dazu wird behauptet, dritter Vorwurf: Wer öffentlich von seinen Werten redet, will sich eigentlich nur selbst bespiegeln. Das kann natürlich vorkommen. Aber manchmal ist es wichtig zu zeigen, wer man ist und wo man steht – auch um der anderen Seite Ernst genommen zu werden. Ich stelle mir vor, dass der russsiche Präsident Putin eine ziemlich nüchtern-robuste Sicht der deutschen Außenpolitik hat: Ihr kritisiert uns zwar für Pussy Riot und für Chodorkowski und die NGO-Razzien, macht aber weiter „Rechtsstaatsdialog“, als wäre nichts passiert – wie verlogen ist das denn? Und ich soll Euch ernst nehmen? Ihr nehmt euch ja selber nicht ernst.

 

Vierter Vorwurf: Wertebezogene Politik wird nur fürs „Schaufenster“ beziehungsweise „die Medien“ gemacht. Das ist nicht auszuschließen, und es kann natürlich im Einzelfall falsch sein. Es kann dann größerer Schaden entstehen als bei einer leisen Vorgangsweise. Aber: Dass Diplomatie bei uns unter Druck steht, sich vor dem heimischen Publikum zu rechtfertigen, ist einerseits lästig für die Politik, kann aber auch eine Stärke sein.

Es gibt der Regierung ein Argument an die Hand: Wir wollen ein gutes Verhältnis, aber wir können euer Verhalten bei unseren Leuten nicht mehr rechtfertigen. Wenn ihr so weiter macht, kommen wir in ernsthafte Schwierigkeiten zuhause. Wir wollen uns für euch einsetzen, aber wir können das immer schwerer verkaufen….

Anders als in Zeiten des Kalten Krieges braucht in der globalisterten Welt von heute jeder schwierige Partner die Gewogenheit der Öffentlichkeit, auch der Öffentlichkeit hier bei uns, und das ist gut so. Darum wollen alle die Olympischen Spiele und die Fussball WM ausrichten. Und darum geht es einigen Lobbyfirmen hier in Berlin, die den Job der Aufhübschung von Autokraten machen, ziemlich prima.

 

 

Fünfter Vorwurf: Wertegeleitete Politik ist irrelevante „Symbolpolitik“ – im Gegensatz zur harten Realpolitik.

Das hat noch nie gestimmt, und es ist heute erst recht nicht wahr. Symbolik ist wichtig. Wenn Symbolpolitik so irrelevant ist, warum waren die Chinesen so verschnupft wegen der Sache mit dem Dalai Lama? Warum ist die israelische Regierung nachhaltig irritiert über eine deutsche Enthaltung vom letzten Herbst, als es um das Upgrade der Palästinenser in die Uno ging? Symbolpolitik ist eine schwierige, harte Sache.

 

Sechster Vorwurf: Werte lassen sich nicht exportieren/ eins zu eins übertragen/ verpflanzen.

Das ist eine Binsenweisheit. Und damit natürlich richtig – und falsch zugleich. Reeducation in Deutschland war offenbar ein Erfolg, Nationbuilding im Irak scheint eher ein Misserfolg zu werden.

Aus dem letzteren in eine Doktrin der Nichteinmischung zurückzufallen, wäre falsch und unzeitgemäß. Die Überdehnung westlicher Politik unter George W. Bush ist eine fatale Tatsache – aber warum soll dafür Amnesty büßen, oder „Memorial“ in Russland?

 

Siebter Vorwurf: Wir brauchen die Autokraten, Nichtdemokraten und Scheindemokraten zur Lösung internationaler Probleme und wegen der Rohstoffe, darum sollten wir lieber schweigen. Wenn wir zu laut sind, fühlen sie sich zurückgewiesen, vertrauen uns nicht mehr und kooperieren nicht mehr.

Ersteres stimmt zweifellos, das zweite nicht. Wir brauchen sie, aber sie uns auch. Auch die andere Seite hat Interessen, die sie an uns bindet. Es ist legitim, dass wir das nutzen.

 

Achter und letzter Vorwurf: Der Westen und auch Deutschland wenden seine Werte nur selektiv an – da, wo es gerade passt und keine negativen Rückwirkungen zu befürchten sind. Er kritisiert schwächere Länder, die sich nicht wehren können, lässt Saudi-Arabien aber zum Beispiel ungeschoren – wegen des Öls und der Bedeutung als „moderate“ Macht in der Region. Weil westliche Werte immer wieder mit doppelten Standards zur Anwendung kommen, sind sie diskreditiert.

Doppelmoral ist in der Tat ein Problem. Zwar wäre es naiv zu glauben, sie ließe sich ganz vermeiden oder durch reine Moralpolitik ersetzen. Das fordert auch niemand! Außenpolitik hat viele Interesssen abzuwägen – Friedenssicherung, Energiesicherheit, Umweltschutz, Wirtschaftsinteressen. Dabei müssen moralische Bedenken oft zurückstehen.

Aber nichts davon, kein einziges Ziel der deutschen Außenpolitik ist langfristig ohne das Drängen auf gesellschaftliche und politische Öffnung zu sichern. Das ist der harte Kern einer realistischen Moralpolitik, um die wir zum Glück endlich streiten.

 

 

 

Der sinnlose Kampf gegen die Homo-Ehe

Heute musste ich, unter dem Eindruck der CDU-Debatte über die völlige rechtliche Gleichstellung für Homosexuelle, an den „Gesprächsleitfaden“ für Einbürgerungstests denken, den das Land Baden-Württemberg im Jahr 2006 erstellt hatte. Da gibt es diese beiden Punkte:

29. Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie reagieren Sie?

30. In Deutschland haben sich verschiedene Politiker öffentlich als Homosexuelle bekannt. Was halten Sie davon, dass in Deutschland Homosexuelle öffentliche Ämter bekleiden?

Volker Kauder, ein Politiker aus Baden-Württemberg, sagt heute im Spiegel: „Die Union will keine Homo-Ehe, und daran hat sich nichts geändert.“

Gegen die „Homo-Ehe“ zu sein bedeutet nicht notwendigerweise, homophob zu sein (wobei sich das natürlich oft überschneidet). Kauder möchte die Institution der Ehe schützen, die in seiner christlich geprägten Weltsicht einzig und allein für heterosexuelle Paare offen sein darf. So sehen das natürlich auch viele gläubige Muslime, um nicht zu sagen: so gut wie alle. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich meine nicht, dass nur der, der für volle rechtliche Gleichstellung Schwuler und Lesben hierzulande ist, auch das Recht hat, die himmelschreiende Ungerechtigkeit anzuprangern, die Menschen mit solcher Orientierung in islamisch geprägten Ländern (aber weiß Gott nicht nur da, siehe weite Teile Afrikas!) angetan wird. Ich vergleiche auch nicht die letzten Reserven konservativer Politiker hierzulande mit dem Schwulenhass in anderen Teilen der Welt. Das wäre bizarr und würde verkennen, wie weit sich dieses Land bewegt hat.

Aber es ist schon pikant: 2006 fand man es opportun, in einem christdemokratisch regierten Land die einbürgerungswilligen Moslems zu zwiebeln, indem man eine progressiv-liberale Einstellung zu Schwulen und Lesben zum Maß der Zugehörigkeit zur deutschen Wertegemeinschaft machte. Die Verdacht war natürlich, vielleicht auch die Hoffnung, dass viele wegen der endemischen Homophobie im Islam scheitern würden. (Ist nicht so gekommen. 98% bestehen den Einbürgerungstest.) Die Fragen über Homosexualität werden heute übrigens nicht mehr gestellt, und das ist auch gut so. Aber dies ist erst nach öffentlichem Protest so gekommen. Es war eine ziemliche Heuchelei, dass Toleranz gegenüber Homosexuellen zum Maßstab gemacht werden sollte.

Das zeigt die hilflose Unionsdebatte dieser Tage.

Um weitere Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin sehr dafür, eine Debatte über islamisch begründete Homophobie zu führen (und habe das hier auch immer wieder getan). Wenn das aber aus durchsichtigen taktischen Gründen geschieht (weil man das Zurückgebliebene und Hinterwäldlerische am Islam herausarbeiten will, während einem die Schwulen und Lesben herzlich egal oder gar unsympathisch sind), wenn dann noch im Gegenzug das Nein zur „Homo-Ehe“ (welch ein Wort!) zum letzten Alleinstellungsmerkmal des Konservatismus gemacht wird, nachdem Atomkraft und Wehrpflicht futsch sind – dann wirkt das doch reichlich verlogen.

Noch einmal: Ich unterstelle Volker Kauder keine Homophobie, und auch der Kanzlerin nicht, die jetzt ein „Machtwort“ in der Sache gesprochen haben soll. Volker Kauder hat einen ausgesprochenen Sinn für (andere) Minderheiten und ihre Rechte. Ich schätze Kauders Engagement für verfolgte Christen weltweit. Wo immer ich bei meinen Reisen im letzten Jahr hinkam – ob bei bedrängten Christen in der Türkei oder in Ägypten, Kauder war immer schon da gewesen. Das ist keine Kleinigkeit.

Aber er und Merkel führen die Christdemokraten soeben in eine sehr enge und dunkle Gasse, scheint mir. Das Verfassungsgericht wird die volle rechtliche Gleichstellung fordern, spätestens vor der Sommerpause, wenn das Urteil zum Ehegattensplitting erwartet wird. Es gibt einfach kein schlagendes Argument dagegen. Wer homosexuellen, verheirateten (verpartnerten) Menschen die gleichen Pflichten auferlegt wie denen in anderen Beziehungen, der kann ihnen auch die Rechte nicht verweigern, die den anderen zukommen.

Eine Regierung, die sich im Ausland durch einen verheirateten Homosexuellen vertreten lässt, macht sich lächerlich, wenn sie solchen Lebensgemeinschaften, wie sie Guido Westerwelle und Michael Mronz bilden, volle Rechte verwehrt. Kauders Basta-Spruch über die „Homo-Ehe“ ist für Westerwelle und Mronz ein Schlag ins Gesicht.

Offensichtlich geht es hier darum, noch einmal an einer Stelle „Flagge zu zeigen“, ganz egal ob das sinnvoll oder durchhaltbar ist. Das ist deshalb so sinnlos, und zeigt damit die inhaltliche Ausgehöhltheit des deutschen Konservatismus, weil hier ein konservativer Impuls bestraft wird: der Wunsch der Schwulen und Lesben, als Teil derselben Wertegemeinschaft anerkannt zu werden, für die Kauder zu stehen beansprucht. Wir sind genauso verantwortungsvoll, bindungs- und liebesfähig wie ihr. Ja, wir wollen so sein wie ihr, so leben wie ihr. Warum soll man das zurückweisen? I don’t get it.

Was ich nicht verstehe, ist die Blindheit der Union für diese konservative Wende in der Schwulenbewegung: Mit der Öffnung der Ehe für andere Lebensformen wird diese Institution ja nicht geschwächt, sondern bestärkt. Ehe ist offenbar so attraktiv, dass selbst Schwule und Lesben sie wollen. Das ist eigentlich ein urkonservativer Impuls, den die „kulturrevolutionäre“ Fraktion unter den Homo-Aktivisten auch deshalb immer abgelehnt hat. (Die glaubte immer, dass Homosexualität ein Weg aus „Zwangsheterosexualität“ der Gesellschaft ist, eine Art dritter Weg.)

Es gibt keine stichhaltigen Gründe, adoptionswillige schwule oder lesbische Paare anders zu behandeln als heterosexuelle. Selbstverständlich soll deren Zuverlässigkeit geprüft werden, wie es alle anderen auch über sich ergehen lassen müssen.

Es gibt keine Gründe, einer solchen Lebensgemeinschaft das Ehegattensplitting zu verweigern und sie also steuerlich schlechter zu stellen als „normale“ Ehen. Das Splitting sollte ohnehin abgeschafft werden, weil es nicht (oder nur mittelbar) den Kindern zugute kommt, an denen es Deutschland mangelt. Es ist eine überlebte Subvention der Hausfrauenehe, eine Prämie für Gehaltsungleichheit zwischen den Geschlechtern. Es könnte durch ein „Familiensplitting“ ersetzt werden, bei dem die Zahl der Kinder die steuerliche Begünstigung bestimmt.

Die Union hat die Chance verpasst, die wertkonservative Wende der Schwulen und Lesben für sich zu nutzen. Sie verteidigt eine sinnlose Position, von der sie heimlich weiß, dass sie bis zu den Sommerferien geräumt werden muss. Man wird ihr dann zu Recht vorwerfen, den Konservatismus weiter ausgehöhlt zu haben.

 

 

Streitgespräch mit einem Salafisten und einer liberalen Muslimin

Mit der Kollegin Özlem Topçu zusammen habe ich ein Gespräch zwischen einem Salafisten und einer liberalen Muslimin moderiert. Aus der ZEIT von heute, S. 4:

Lamya Kaddor, 35, ist Lehrerin für Islamkunde an einer Schule im niederrheinischen Dinslaken. Sie ist Mitbegründerin des Vereins Liberal-Islamischer Bund und Autorin von Büchern wie »Der Koran für Kinder und Erwachsene« und »Muslimisch, weiblich, deutsch«.
Abdurrahman Malik heißt eigentlich anders, ist Anfang 20, Student und bekennender Salafist. Seinen richtigen Namen möchte er aus Angst vor Morddrohungen aus der extremistischen Salafistenszene nicht nennen. Wir treffen die beiden in einem Duisburger Hotel zum Gespräch. Malik weigert sich, Lamya Kaddor mit Handschlag zu begrüßen.

 

DIE ZEIT: Herr Malik, Salafisten werden mit Intoleranz, Gewalt und Terror in Verbindung gebracht. Warum sind Sie Teil dieser Bewegung?

Abdurrahman Malik: Für mich ist das Wort »Salafist« kein Schimpfwort. Es geht auf die Muslime der ersten Stunde zurück, die im Islam großes Ansehen genießen. Salafisten orientieren sich stark an Koran, der Sunna, der Lebensweise des Propheten Mohammed und Religionsgelehrten, zumeist aus Saudi-Arabien. In der deutschen Debatte assoziiert man den Begriff mit gewalttätigem Extremismus. Diese Pauschalisierung lehne ich ab, genauso wie die radikal-militanten Salafisten und ihre Ideologie.

ZEIT: Warum haben Sie diese rückständigste Form des Islam gewählt?

Malik: Was heißt rückständig? Die Gesetze meiner Religion umzusetzen ist für mich kein Hardcore-Islam. Der Islam ist eine Gesetzesreligion, und ich befolge die Gesetze.

ZEIT: Frau Kaddor, die Salafisten dominieren im Moment das Islambild in Deutschland, sie verteilen Korane und demonstrieren gegen Islamkarikaturen – teilweise gewalttätig. Sie versuchen mit Ihrer Arbeit, ein liberales Islambild zu vermitteln. Stehlen Ihnen die Fundamentalisten die Show?

Lamya Kaddor: Sie machen mir meine Arbeit kaputt. Ich will den Islam weiterdenken und dabei auch zu neuen Schlüssen kommen. Das bedeutet: weniger Dogma und mehr Spiritualität. Die Salafisten machen das zunichte, weil sich dank ihrer Auftritte die Diskussion nun vor allem darum dreht, ob Muslime generell rückständig und gewaltbereit sind. Ich fühle mich um mindestens 20 Schritte zurückgeworfen.

Abdurrahman Malik* (Name geändert) und Lamya Kaddor                     Foto: Michael Dannemann für DIE ZEIT

ZEIT: Sind Salafisten nicht spirituell?

Kaddor: Jede unorthodoxe Form, Gott näherzukommen, sehen Salafisten als Ketzerei an. Sie sagen, es habe mit der »reinen Lehre« nichts zu tun. Das erschreckt mich. Sie tun so, als kennten sie allein die Wahrheit. Doch kein Mensch kann das für sich in Anspruch nehmen – nur Gott. Ich komme aus einem konservativen Elternhaus, aber es gab dort keinen Zwang. Meine Eltern haben meinen beiden Schwestern und mir das Kopftuch empfohlen, aber uns nicht unter Druck gesetzt. Ich kannte als Kind schon etliche Koranverse. Aber mir reichte das nicht, irgendwann kamen die Fragen: Warum machen wir das so? Wozu all diese Regeln? Es fehlten zeitgemäße Antworten. Für Salafisten sind bereits Fragen tabu, sie überlassen alles den Gelehrten. Was Scheich XY sagt, ist Gesetz.

ZEIT: Halten das nicht auch viele Mainstream-Muslime so?

Kaddor: Ja, aber das kritisiere ich eben: Warum soll jemand, der Tausende Kilometer weit entfernt ist, uns in Deutschland sagen, was wir zu tun haben? Die Fixierung auf einen Gelehrtenspruch verhindert, dass man seinen eigenen Verstand einschaltet.

Malik: Moment mal: Auch Salafisten können zu eigenen Schlüssen kommen. Ja, es gibt eine starke Abhängigkeit von den Religionsgelehrten. Das heißt aber nicht, dass wir nicht die Verhältnisse zum Beispiel in Saudi-Arabien kritisieren. Warum darf eine Frau dort nicht Auto fahren, wenn Aischa, die Ehefrau des Propheten, auf einem Kamel geritten ist? Für mich passt das nicht zusammen. Da unterscheiden Frau Kaddor und ich uns nicht wesentlich.

Kaddor: Doch! Weil ihr euch solche Fragen überhaupt noch im Ernst stellt. Der Einfluss dieses engherzigen Verständnisses von Religion macht mir Angst. Warum beispielsweise dürfen Frauen Ihrer Meinung nach nicht vorbeten?

Malik: Die Gelehrten haben so geurteilt – diskutabel ist es aber.

Kaddor: Da sind meine Schüler weiter. Ich habe im Unterricht mal gefragt, ob jemand Probleme hätte, wenn ich ein gemeinsames Gebet leiten würde. Die Jungs meinten: Kein Problem.

Malik: Wenn Sie es theologisch begründen können – o.k. Ich bin auch nicht für eine Geschlechter-Apartheid. Mann und Frau können ganz normal miteinander umgehen, sich beim Gespräch in die Augen sehen. Die Grenze ist die Berührung.

Kaddor: Sie sind ja richtig gemäßigt! Ein strenger Salafist würde eine Frau nicht mal ansehen.

Malik: Ich nenne es reformatorisch-konservativ.

ZEIT: Das müssen Sie unseren Lesern erklären.

Malik: Reformatorisch-konservativ bedeutet: Wir richten uns nach dem Koran und der Sunna, aber wir wählen nicht, anders als die Hardcore-Salafisten, die strengste Variante der Auslegung, sondern versuchen, liberalere Standpunkte zu vertreten, ohne die Rechtsquellen zu ignorieren oder zu um-gehen, was wir Liberalen wie Ihnen vorwerfen.

Kaddor: Sie haben aber einen massiven Missionsanspruch.

Malik: Missionsanspruch, ja, aber zieht das Gewalt nach sich? Die salafistische Szene hat sich kollektiv – mit Ausnahme der Radikal-Militanten – gegen die jüngsten Ereignisse in NRW aus-gesprochen.

ZEIT: Sicherheitsbehörden sehen aber eine besondere Nähe der Salafisten zu Gewalt und Terror. Alle Dschihadisten, die sich von Deutschland aus aufgemacht oder in Deutschland zugeschlagen haben, hatten Kontakt zu salafistischen Netzwerken. Sie selbst werden von Glaubensbrüdern bedroht.

Malik: In der salafistischen Szene gibt es einen klaren ideologischen Bruch zwischen Moderaten und Radikal-Militanten, die Ge-walt gegen Muslime wie Nichtmuslime legitimieren und mit Al-Kaida sympathisieren. Wenn sich moderate Salafisten dagegen-stel-len, werden sie im schlimmsten Fall mit dem Tod bedroht – was auch mir passiert ist. Und wenn ich in letzter Zeit Zorn verspürte, dann nicht wegen liberalen Muslimen oder Nichtmuslimen, sondern wegen der Radikal-Militanten, die mei-ne Religion in den Dreck ziehen. Mit diesen »Brüdern« verbindet mich gar nichts.

ZEIT: Dennoch haben Gewalttäter geistige Führer, die sie anstiften. Ist jemand wie Frau Kaddor in Ihren Augen eine richtige Muslima?

Malik: Es gibt liberale Muslime in Frau Kaddors Verein, die ich aus meinem theolo-gischen Verständnis heraus zu Nichtmuslimen erklären müsste, da sie in einigen Punkten fundamental von der Glaubenslehre abweichen.

Kaddor: Woher nehmen Sie sich das Recht, darüber zu urteilen? Das kann nur der Allmächtige.

Malik: Wenn Positionen vertreten werden, die mit dem islamischen Recht nicht kompatibel sind, ist die Sache klar. Beispielsweise wenn homosexueller Geschlechtsverkehr legitimiert wird, ohne jede theologische Begründung.

ZEIT: In der deutschen Gesellschaft sind gleichgeschlechtliche Beziehungen heterosexuellen gleich-gestellt. Wie lebt man mit der öffentlichen Toleranz der »Sünde« als deutscher Salafist?

Malik: Wir müssen es tolerieren und einen vernünftigen Umgang mit diesen Menschen finden. Zum einen hat die Scharia hier keine staatliche Rechtsgültigkeit, und zum anderen kommen auch die Rechtsschulen des Islam
zu verschiedenen Urteilen, von der Ermahnung bis hin zur Todesstrafe. Der Salafistenprediger Pierre Vogel hat sich in dieser Frage klar zur Ermahnung bekannt. Ich selbst sehe das anders.

ZEIT: Sie plädieren für körperliche Strafe?

Malik: Nach islamischem Recht, ja.

Kaddor: Dafür gibt es im Koran keine Regelung. Es steht noch nicht einmal eindeutig irgendwo geschrieben, dass man als Schwuler in die Hölle kommt. Gott erwähnt auch an keiner Stelle, was mit Frauen passiert, die kein Kopftuch tragen – woher also diese ständige Strafandrohung?

ZEIT: Das ist aber doch das Merkmal des Salafismus hierzulande. Wer kein Muslim wird, kommt in die Hölle.

Malik: Nach der islamischen Glaubenslehre werden Nichtmuslime das Seelenheil nicht -erreichen. Von Teilen der Salafisten wird dies aber als systematische Angstpädagogik verwendet.

Kaddor: Beispielsweise gegen Juden und Christen – für Sie doch Ungläubige, die in Hölle kommen.

Malik: Für mich sind Juden wie auch andere Nichtmuslime Ungläubige.

Kaddor: Warum? Mit welcher Begründung?

Malik: Der Islam erhebt wie jede andere Religion einen Wahrheitsanspruch, der von Andersgläubigen nicht anerkannt wird. Diese Einstellung ist nicht speziell salafistisch.

ZEIT: Wegen solcher Ansichten wirft der Bundesverfassungsschutz Salafisten vor, einen Gottesstaat errichten zu wollen, in dem Grundrechte unserer Verfassung nicht gelten.

Malik: Es sind religiöse Überzeugungen, die un-sere persönliche Meinung darstellen und aus -unserer Sicht besser für die Gesellschaft sind.

ZEIT: Muss nicht jeder Salafist einen islamischen Staat anstreben?

Malik: Nach meinem Verständnis sollte ein Mus-lim das tun, ja. Es beginnt mit der einfachen Arbeit in der Gesellschaft, wie die Muslimbruderschaft es auch getan hat. Wir müssen an der Basis anfangen. Wir können es nicht von oben mit Gewalt durchsetzen. Übrigens ist ein islamischer Staat und die Anwendung der Scharia kein Patentrezept dafür, dass alles besser wird. Siehe Iran.

Kaddor: Da gehen bei mir alle Lampen an, wenn ich so etwas höre.

Malik: Es ist eine Utopie, in Deutschland zumindest.

Kaddor: Utopie? Schauen Sie sich doch die sogenannten islamischen Staaten an – wo bitte fördern die »islamische Werte«? Nicht islamische Staa-ten, die die Menschenrechte achten, sind für mich »islamischer« als die angeblich schariakonformen Staaten, die sie mit Füßen treten.

ZEIT: Herr Malik, müssten Sie mit Ihrem Wunsch nach einem Schariastaat nicht nach Saudi-Arabien auswandern?

Malik: Ja, da ist etwas dran. Aber die Gelehrten sagen: Wenn ihr in einem nicht muslimischen Staat eure Religion frei ausleben könnt, dann müsst ihr nicht zurückkehren. Deswegen wehre ich mich immer dagegen, wenn gesagt wird, in Deutschland gebe es eine Islamhetze. Die Muslime können ihre Religion frei ausleben, wir können hier unsere Moscheen bauen, Frauen können Kopf-tücher tragen, auch wenn es gewisse Repres-sionen im Alltag gibt. Aber wir können hier -wesentlich besser und freier leben als in vielen muslimischen Staaten.

ZEIT: Wäre es dann nicht besser, Ihre Glaubensgenossen würden statt des Korans mal das Grundgesetz verteilen?

Kaddor: … einige Muslime machen das ja schon.

Malik: Ich habe nichts dagegen, denn man muss sich an die Gesetze des Landes halten. Das schreibt die Scharia klar vor.

Kaddor: Das ist ja die Ironie: Nach der Scharia muss er zwar die Demokratie achten – aber nur, weil er hier lebt.

ZEIT: Aber unser Grundgesetz schreibt ja auch vor, dass niemand wegen seiner Rasse, seines Geschlechts, seines Glaubens oder seiner Sexualität diskriminiert werden darf.

Malik: Dementsprechend haben wir uns auch daran zu halten.

Kaddor: Finden Sie nicht, dass wir Muslime Besseres zu tun haben, als über Kopftücher zu diskutieren? Es kann doch nicht bloß darum gehen, die Jugend durch Verbote und Strafen zu besonders frommen Muslimen zu erziehen!

Malik: Es fehlt an Bildung, da stimme ich zu. Aber auch an religiöser Bildung.

Kaddor: Ja, eben. Und da sollten wir uns zu-sammentun. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, die Globalisierung schreitet voran – und wir träumen uns eine kleine, muslimische Welt zusammen, die es so gar nicht gibt und nie gegeben hat.

Malik: Dem kann ich mich klar anschließen.

 

Die Fragen stellten Jörg Lau und Özlem Topçu

 

Das vermeidbare Unglück der türkischen Jungs

Ich habe schon vor einiger Zeit ein Interview mit dem Pädagogen und Männlichkeitsforscher Ahmet Toprak geführt. Es sollte im Rahmen eines Schwerpunkts über den „türkischen Mann“ in der ZEIT erscheinen, der leider aus sekundären Gründen nicht zustande kam. Damit es nun nicht in den Abgründen meiner Festplatte verschimmelt, veröffentliche ich das Gespräch nun hier exklusiv:

DIE ZEIT: Herr Toprak, wer hat es schwerer bei der Integration in Deutschland? Jungen oder Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund?

Ahmet Toprak: Alle Zahlen sprechen dafür, dass Jungs sich schwerer tun – Schulabschluss, Berufserfolg, Sprachniveau. Da liegen Jungs eindeutig hinter den Mädchen.

ZEIT: Aber die Jungen sollen doch die Starken sein, die Vorbilder, die Hüter der Mädchen?

Toprak: Das ist ja auch der Kern des Problems, dass an die Jungs so hohe Erwartungen gestellt werden, dass viele dabei nur auf der Strecke bleiben können. Sie sollen dominant sein, sie sollen die Familie führen und ernähren. Von Mädchen wird viel weniger erwartet. Man freut sich, wenn sie Erfolg haben, aber sie können immer noch die Rolle der Hausfrau und Mutter übernehmen.

Ahmet Toprak Foto: FH Dortmund

ZEIT: Diese traditionellen Rollenvorstellungen geraten in Konflikt mit den Erwartungen, die die deutsche Gesellschaft an beide Geschlechter stellt?

Toprak: Türkische Jungs haben in ihren Familien sehr viel mehr Freiheiten als Mädchen. Ihnen wird eingeräumt, dass sie auch mal Fehler machen dürfen. Das Ansehen der Familie in der Öffentlichkeit hängt sehr viel mehr an den Mädchen. Die Brüder dürfen über die Stränge schlagen. Durch diese Einstellung wachsen die jungen Männer ohne Grenzen auf. Mädchen werden viel mehr reglementiert. Sie dürfen weniger in der Öffentlichkeit präsent sein, sie müssen pünktlich zuhauise sein. Das ist zwar kein angenehmes Leben, aber anders als die Jungen haben die Mädchen Grenzen. Jungen entwickeln so kein Problembewußtsein für ihr eigenes Verhalten. Es würde ihnen gut tun, wenn auch ihnen Grenzen gesetzt würden.

ZEIT: Aber die Jungen werden doch in der Regel ziemlich autoritär erzogen. Der Vater ist unantastbar als Bestimmer in der Familie. Warum gibt das keine Orientierung, keine Grenzsetzung?

Toprak: Es wird viel zu wenig erklärt. Man geht davon aus, dass der Junge durch Imitation des Vaters in seine Rolle hineinwächst. Manche schaffen das, aber diejenigen, die es nicht schaffen, werden dann verhaltensauffällig. Wenn die Eltern merken, dass etwas schiefläuft, wissen sie sich nicht anders zu helfen, als die Söhne zum Militärdienst zu schicken, damit dort ein richtiger Mann aus ihnen gemacht wird und sie Disziplin lernen. Wenn auch das nichts fruchtet, verheiratet man den Jungen, damit er lernt Verantwortung zu übernehmen. Und wenn auch das nicht funktioniert, hofft man dass er durchs Kinderkriegen zur Vernunft kommt und anständig wird. Aber man spricht mit dem Jungen nicht darüber, man geht davon aus, dass das ein naturwüchsiger Prozess ist.

ZEIT: Warum sprechen die Eltern nicht mehr mit den Jungen?

Toprak: Manche haben nicht die verbalen Fähigkeiten das zu tun, die meisten haben es selber so gelernt, und dann gibt es viele Tabus. Über manche intime Dinge mit seinen Eltern zu reden wäre eine Verletzung des Respekts, den man ihnen schuldet.

ZEIT: Wie wird einem türkischen Jungen Männlichkeit vermittelt?

Toprak: In den ersten Jahren sind die Söhne voll auf die Mutter orientiert. Sie begleitet ihn sehr innig, bis er im Grundschulalter von der Mutter abgelöst wird und sich auf sein eigenes Geschlecht, also auf den Vater orientieren soll. Mit der Beschneidung wird das symbolisch unterstrichen. Vorher konnte der Junge problemlos mit der Mutter ein Hamam besuchen. Nach der Beschneidung ist das nicht mehr gerne gesehen, der Sohn hat in dieser Frauenwelt nichts mehr zu suchen. Der Militärdienst ist für die Türken eine wichtige Stude der Mannwerdung. Es gibt keinen Ersatzdienst in der Türkei. Jeder muß da durch, der ein Mann sein will. Wenn ich in Kreisen traditioneller Einwanderer sage, dass ich weder den türkischen noch den deutschen Wehrdienst absolviert habe, gelte ich als schwacher Mann. Drittens und viertens gehört Heirat und Kinderkriegen zum Mannwerden. Erst dann wird das Wort eines Mannes in der Öffentlichkeit für voll genommen. Wer das nicht durchlaufen hat und etwa mit dreißig noch nicht verheiratet ist, gilt als Kind.

ZEIT: Welche Rolle spielt der Islam dabei?

Toprak: Sie wissen ja, dass Türken meist Sunniten oder Aleviten sind. Aleviten halten sich nicht an die Gebote des Islams, sie fasten nicht, pilgern nicht, gehen nicht in die Moschee, und die Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch. Aber auch die alevitischen Männer sind beschnitten. Bei den Männlichkeitsvorstellungen ist Tradition und Religion schwer zu trennen. Es gibt religiöse Begründungen für die Beschneidung, aber in der Praxis ist das ein Männlichkeitsritual – weshalb es zum Beispiel auch wichtig ist, dass es ohne Narkose geschieht, denn der Schmerz gehört nach dieser Vorstellung zum Mannwerden dazu. Aleviten lehnen zwar die Geschlechtertrennung in den Moscheen ab, aber in den Männlichkeitsvorstellungen unterscheiden sie sich nicht sehr von den Sunniten.

ZEIT: Warum ist die türkische Männlichkeitsvorstellung eigentlich problematisch? Man könnte ja auch sagen: Da gibt es wenigstens noch klare Unterscheidungen.

Toprak: Aber sehen Sie: Dieses Konzept wird gelebt in einem Land, in dem es nicht zeitgemäß ist. Es kann nicht funktionieren, weil der soziale Rahmen fehlt, der es hält, auch durch soziale Kontrolle. Übrigens kollidiert es nicht nur hier mit der Wirklichkeit, sondern auch in türkischen Großstädten, wo ebenfalls die Kontrolle durch die peer group wegfällt.

ZEIT: Stützen die Frauen dieses Männlichkeitsbild? Ohne Mütter und Frauen kann es ja nicht aufrechterhalten werden.

Toprak: Die Mütter machen mit, sie haben ja auch einen enormen Einfluss auf die Söhne bis zu einem bestimmten Alter. Aber bei den jungen Frauen sieht es anders aus. Viele von denen finden die in Deutschland aufgewachsenen Jungs einfach nur blöd. Die mögen deren Macho-Art nicht. Umgekehrt können viele von den Männern mit den selbstbewußten Frauen nicht umgehen und suchen sich darum eine einfachere Braut in der Türkei. Man hat Schwierigkeiten, sich wechselseitig attraktiv zu finden und weicht auf das Herkunftsland aus.

ZEIT: Können diese Männer eine partnerschaftliche Ehe führen?

Toprak: Sie dürfen das nach außen projizierte Bild nicht mit der Realität zuhause verwechseln. Viele Frauen haben zuhause erheblich Anteil an Entscheidungen. Die Männer geben sehr viel mehr nach und schließen mehr Kompromisse, als sie nach außen zugeben können. Oft wird, was auf die Frau zurückgeht, dann vom Mann nach außen als seine Entscheidung dargestellt.

ZEIT: Wie sollen deutsche Lehrer mit der türkischen Männlichkeitskultur umgehen, die sie im Klassenraum vorfinden?

Toprak: Ich mache oft Fortbildungen mit Lehrerinnen, die sagen, ich tue mich schwer mit diesen Jungs. Diese Jungen brauchen klare Ansagen, klare Regeln, die auch durchgesetzt werden. Die basisdemokratische Pädagogik des Aushandelns und der Diskussion empfinden sie als Schwäche. Die sehen das als Unsicherheit des Lehrers, wenn er oder sie zuviel fragt. Wenn man klar und deutlich sagt, was man möchte und wo die Grenzen sind, machen die auch mit. Ich habe das Konzept der konfrontativen Pädagogik mit gewalttätigen und straffälligen Jugendlichen erprobt. Es kommt darauf an, sich von Machosprüchen nicht verunsichern zu lassen. Diese Jungs probieren, ob man angesichts ihres dominanten Auftretens Schwäche zeigt. Die zeigen gerne ihr Testosteron, aber wenn man Regeln durchsetzt, werden sie auch schnell handzahm.

ZEIT: Wenn man Schüler zur Selbständigkeit erziehen will, kann man aber nicht immer Frontalunterricht machen?

Toprak: Das ist auch nicht gemeint mit konfrontativer Pädagogik. Es geht darum, einen fairen und transparenten Rahmen für das gemeinsame Handeln zu errichten. Die Jugendlichen sehen, wenn ich mich an die Regeln halte, bin ich angenommen und kann mich einbringen. Dann fällt auch das Totschlagsargument der Ausländerfeindlichkeit weg, dass diese Jugendlichen gerne bringen. Person und Fehlverhalten müssen klar getrennt werden.Wenn klar ist, du bist als Ali oder Mustafa willkommen, wenn du dich an die Regeln hältst, aber wenn nicht, hat es auch Konsequenzen, dann kommen die Jungs damit gut klar.

ZEIT: Woher kommt die höhere Gewaltakzeptanz bei türkischen Jungen?

Toprak: Ich habe jahrelang Anti-Aggressivitätstraining mit auffälligen Jugendlichen gemacht. Das waren junge Männer, die dazu verurteilt worden waren, weil sie selbst gewalttätig geworden waren. Diese Jungs haben uns berichtet, sie haben in der Erziehung Gewalt erfahren – entweder in der Familie oder durch ihre Peergroup. Die sehen es als normalen Teil des Aufwachsens als Mann, dass man irgendwann Schläge bekommt. Vor allem untereinander in der Gruppe ist Gewalt etwas Alltägliches. Tragischerweise.

ZEIT: In der deutschen Gesellschaft ist Gewalt in den letzten Jahrzehnten zunehmend tabuisiert worden. Früher übliche Rüdenkämpfe auf Schulhöfen sind heute verpönt. Da passt die Gewalkultur türkischer Jungs nicht hinein.

Toprak: Ja, aber es wird teilweise überdramatisiert. Auch ganz normale Raufereien, die man früher als ‚typisch Jungs‘ abgetan hat, werden heute sofort therapiert. Das führt zu einer Überpädagogisierung, in der Jungs per se zum Problem werden. Das geht dann zu weit, nicht nur für türkische Jungs.

ZEIT: Warum ist „schwul“ das schlimmste Schimpfwort unter türkischen Jungs? Auch das steht ja im Gegensatz zu der gesamtgesellschaftlichen Enttabuisierung der Homosexualität?

Toprak: Vielleicht ist ja die Präsenz des schwulen Lebens in der Öffentlichkeit ein Mitgrund für diese Gegenreaktion. Im Antigewalttraining haben mir die Jungs klargemacht, es gibt zwei Tabus – man darf die Mama nicht angreifen und die Männlichhkeit, also jemanden schwul nennen. Aber es gab eine interessante Ambivalenz: Ein Junge, der mir gesagt hatte, er hasst Schwule, Homosexualität sei eine Sünde und Homosexuelle seien keine Menschen. Aber dann sah ich, er packte einen anderen an den Hintern. Als ich ihn zur Rede stellte, sagte er: Ich bin nicht schwul, er ist schwul. Ich habe dann erfahren, dass der aktive Partner als der unproblematisch Männliche gilt. Der Schwule ist der – verzeihen Sie das Wort – ‚der sich ficken lässt‘. Das war mir neu. Es gab da Jungen, die sehr homosexuellenfeindlich auftraten und doch zu irgendwelchen einschlägigen Treffs gingen, um ‚Schwule zu ficken‘. Nach dem Motto, wir zeigen denen mal was ein richtiger Mann ist. Homosexuelle werden als Opfer gesehen, und so gab es auch Fälle, bei denen mit den Männern geschlafen wurde, um diese dann anschließend zu verprügeln. Das zeigt die Ambivalenz. Der Mann darf sich auf keinen Fall in die Rolle der Frau begeben, darum sind die Jungs so gegen Schwule.

ZEIT: Das ist eine sehr anstrengende, stressige From von Männlichkeit, bei der es dauernd um die Ehre geht.

Toprak: In einem meiner Kurse habe ich es den Jungs verboten, über Ehre zu reden, weil sie diesen Begriff immer nur als Vorwand benutzt haben und nie mit Inhalt füllen konnten. Die mussten dann in die Bibliothek gehen und recherchieren, was Ehre sein kann. Sie haben angefangen, den Ehrbegriff zu problematisieren, den man ihnen aufgedrückt hat: Du musst deine Frau, deine Schwester beschützen. Die hatten noch nie über diesen zentralen Begriff nachgedacht. Aber dann haben sie angefangen, über ihre Gefühle zu reden, über die Angst zu versagen und dem Ehrbegriff nicht gerecht zu werden.

ZEIT: Ist der deutsche Mann in deren Wahnehmung unehrenhaft und unmännlich?

Toprak: So wird das gesehen. Aber ich muss ihnen sagen, das ist auch nur ein Schein. Viele würden gerne manche Verhaltensweisen vom deutschen Mann übernehmen, aber sie trauen sich nicht, weil sie dann als schwach gelten würden. Einige sehnen sich danach, aber der Druck ist zu groß.

ZEIT: Woher kann Veränderung kommen?

Toprak: Wir haben eine Entwicklung in zwei Richtungen: Die einen sagen, das tue ich mir nicht an und steigen aus. Aber die müssen dann auch in einem anderen Umfeld leben, in einem anderen Stadtteil. Aber diejenigen, die in Quartieren wohnen, wo der soziale Druck groß ist, tun sich schwer da rauszukommen. Bevor man an die Jungs rankommt, muss man zuerst an die Eltern ran. Die wissen oft gar nicht, dass es alternative Erziehungsstile gibt. Sie haben es selber so erfahren, und tragen es weiter.

ZEIT: Stärkt die islamische Religion eigentlich immer nur die konservative Seite? Oder hat sie eine Rolle bei der Reform der Männlichkeit?

Toprak: Das ist nicht so eindeutig. Wir kennen sehr viele selbstbewusste religiöse Frauen mit Kopftuch, auch hier an der Hochschule. Die sind hoch modern und passen nicht zu schlichten Macho-Männern.

Die Fragen stellte Jörg Lau

 

Wie man Hassprediger stoppt

Der Lesben-und Schwulenverband Berlin zeigt wie man’s macht. Mehrere durch besonders homophobe Predigten aufgefallene Prediger wollten am kommenden Samstag im Berliner Schillerkiez ein Seminar abhalten. Der LSVD sieht die Schwulenhetze von radikalen Islamisten mit Sorge. Also hat man angefangen, mit einigen Berliner Moscheen zu diesem Thema Gesprächskanäle zu eröffnen. Als Ergebnis ist nun der Auftritt der Hassprediger abgesagt worden:

Seminar von islamistischen Hasspredigern in Neukölln abgesagt
Muslime und Nicht-Muslime gemeinsam gegen Islamisten
 
Das am morgigen Samstag in Berlin-Neukölln geplante „Islam-Seminar“ der drei radikalsten islamistischen Hassprediger Deutschlands wurde laut Nachrichtenagentur dapd kurzfristig abgesagt. Die Prediger Abu Dujana, Abdullatif und Ibrahim Abou-Nagie hetzen gegen Homosexuelle und legitimieren dabei Gewalt und die Ideologie des bewaffneten Dschihad. In der Bangladesch-Moschee Baitul Mukarram im Neuköllner Schillerkiez sollte das Seminar stattfinden.
 
Ein Großteil der Berliner Moscheen hatte bereits in den vergangenen Wochen einen Auftritt der drei Islamisten abgelehnt. Nach kritischen Berichten in der Tagespresse hat auch der Trägerverein der Moschee Baitul Mukarram die zunächst zugesagte Veranstaltung abgesagt.
 
Hierzu erklärt Jörg Steinert, Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg:
 
„Insbesondere für Homosexuelle sind solche Hasspredigten unerträglich. Muslime und Nicht-Muslime müssen sich gemeinsam gegen den Islamismus wenden. Ein friedliches, respektvolles Miteinander gilt es zu verteidigen.“
 
Der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg befindet sich im interkulturellen Dialog mit mehreren Berliner Moscheen. Dieser Dialog wird in den kommenden Monaten weiter ausgebaut und intensiviert.

 

Deutschenfeindlichkeit an Berliner Schulen

Mein Beitrag aus der Zeit von heute über die Vorfälle an Berliner Schulen und den Versuch der Lehrergewerkschaft, sich einen Begriff von dem Problem des „Deutschenhasses“ türkisch- und arabischstämmiger Schüler zu machen. Es ist nicht meine erste Auseinandersetzung mit diesem Thema:

Es liegt ein Hauch von Panik in der Luft, als die Lehrerin endlich zu sprechen beginnt. Sie schluckt. Sie sagt: »Ich bekomme immer mehr Ehrfurcht und Respekt vor diesem Thema.« Dieses Thema, das ist die »sogenannte Deutschenfeindlichkeit« ihrer türkisch- und arabischstämmigen Schüler.

Kein Wunder, dass die Lehrerin so beklommen ist. Nur zwei Straßen entfernt vom Tagungsort hetzt der Rechtspopulist Geert Wilders (siehe Seite 12/13) gegen Muslime, die angeblich Deutschland durch Masseneinwanderung unterwerfen wollen. Die Lehrerin, die ihr halbes Leben an einer Schule in Neukölln verbracht hat, will mit der politisierenden Islamophobie nichts zu tun haben. Dies hier ist eine Veranstaltung des multikulturellen Ausschusses der linken Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Furcht, eine ohnehin schon hysterische Debatte noch weiter anzuheizen, füllt den Raum.
Zwei Mitglieder des GEW-Ausschusses für multikulturelle Angelegenheiten, Andrea Posor und Christian Meyer, hatten in einem Artikel für die Berliner Lehrerzeitung Alarm geschlagen, in den zunehmend segregierten Schulen verstärke sich das Mobbing gegen deutsche Schüler. Dieser bereits vor einem Jahr erschienene Hilferuf löste so heftige Diskussionen unter den Lehrern aus, dass man sich, wenn auch unter großen ideologischen Bauchschmerzen, entschloss, eine Tagung zum Thema einzuberufen. Alles selbstverständlich hochseriös, abgesichert mit Rassismusexperten, Migrantenvertretern, Bildungsforschern. Zu groß ist die Angst, selbst unter Rassis­mus­verdacht zu geraten.
Aber am Ende schaut dann eben alles auf diese Frau, die von der Pöbelei berichtet, der deutsche Schüler – und Lehrer – ausgesetzt sind. Sie lehrt seit mehr als zwanzig Jahren an der Otto-Hahn-Gesamtschule im Stadtteil Neukölln und heißt Mechthild Unverzagt.
»Ist ja irre, dass die auch noch diesen Nachnamen hat«, flachst ein Lehrerkollege in der hintersten Reihe vor lauter Anspannung. Dann redet Frau Unverzagt, und sofort wird es leise im vollen Tagungsraum des Berliner GEW-Hauses.
Sie spricht von »Ghettoisierungstendenzen« in Neukölln, einem sogenannten »A-Bezirk« (»A« für Alte, Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende). An ihrer Schule seien über 80 Prozent der Kinder »nichtdeutscher Herkunftssprache«, die große Mehrheit davon türkisch- oder arabischstämmig. Fast alle Familien seien arm, viele zerrüttet. Die türkischen und arabischen Schüler seien tonangebend in ihrer Respekt­losig­keit gegenüber Lehrern. Sie bekämen dafür Anerkennung unter ihresgleichen und stärkten so ihr Selbstwertgefühl: »Wenn es bei uns mal sogenannten Unterricht gibt, erleben sie Misserfolge. Also tun sie alles, um ihn zu sabotieren.« Die deutschen Kinder hätten als kleine Minderheit »alle Qualitäten, die ein Opfer haben muss«. Sie müssten lernen, »sich unsichtbar zu machen«. Sie wollten während der Pausen nicht mehr auf den Schulhof, weil draußen nur ein Spießrutenlauf mit Beschimpfungen und Drohungen auf sie warte. Nicht nur deutsche, auch leistungsbereite türkische und arabische Schüler würden von den Wortführern niedergemacht. Ein türkischer Junge, der zu den guten Schülern zähle, werde als »schwul« beschimpft: »Jeder, der irgendwas erreichen will in der Schule, ist der Gegner. Es wird alles gemobbt, was anders ist.« Auch sie selber ist in demütigender und sexistischer Weise angemacht worden.
Es dauert eine Weile, bis die Teilnehmer sich nach Unverzagts Schilderungen fangen. An diesem Samstagmorgen kann man erleben, wie schwer es manchen Linken immer noch fällt, offen von den Konflikten des Einwanderungslandes zu reden. Eine Professorin für Rassismusforschung versucht nachzuweisen, dass die »strukturell benachteiligten Schüler« türkischer oder arabischer Herkunft per definitionem nicht zum Rassismus fähig seien, weil sie ja eine machtlose Minderheit darstellten. Nach dem Bericht von Mechthild Unverzagt wirkt das einigermaßen bizarr. »Diese Kinder waren noch nie in einer Minderheitensituation«, erwidert die Lehrerin.
Vielleicht liegt ja darin das Problem. Chris­tian Meyer, selber Lehrer an der Hector-Peterson-Gesamtschule in Kreuzberg und einer der beiden Autoren des Artikels, der die Debatte ins Rollen brachte, spricht von der »doppelten Segregationsfalle«: Nicht nur die Deutschen ziehen aus den »A-Bezirken« weg, sondern auch die bildungsbewussten Migranten. Die verbliebenen Schüler »kompensieren Frustrationen und Per­spek­tiv­losig­keit durch Macho-Gehabe«. Sie definierten sich stolz als Nichtdeutsche und blickten verachtend auf Deutsche als Ungläubige, »Schweinefleischfresser« und – wenn es sich um Mädchen handelt – »Schlampen«. Die trotzige Selbstausgrenzung von Losern, die sich an noch Schwächeren abarbeiten, ist für sich nichts Neues – nur dass die Schwächeren jetzt in manchen Berliner Kiezen Deutsche sind. Jagen nicht anderswo deutsche Rechtsradikale Juden, Linke und alles irgendwie Fremde?
Mancher bei der Tagung neigt dazu, die Sache allzu schnell wegzuerklären. Bei dem Verhalten der Jugendlichen müsse es sich wohl um die »Rückgabe erlebter eigener Diskriminierung« handeln, sagt ein Teilnehmer. Sofort sind Beispiele zur Hand, bei denen Mädchen mit Kopftüchern diskriminiert und arabische Jungs nicht in die Disco gelassen werden. Ein Teilnehmer fordert daraufhin mehr »Lehrer mit Migrationshintergrund«, andere verlangen eine Nachschulung der Pädagogen in »interkultureller Kompetenz«, ergänzt um die Möglichkeit für »ausgebrannte Kollegen, sich früh pensionieren zu lassen«. Und auf einmal wendet sich der Verdacht gegen die Lehrer, die von ihrer Ohnmacht erzählt hatten: Sind sie einfach zu wenig »kultursensibel«?
Christian Meyer lässt das nicht auf sich sitzen. Seit über 30 Jahren ist er an der Schule in Kreuzberg, und er hat einen »interkulturellen Kalender« produziert, der die Feste aller Religionen verzeichnet: »Wir haben Türkischunterricht, wir machen Fahrten in die Türkei, Lehrer haben Türkisch gelernt. Gegen die Segregation kommen wir aber mit mehr Interkulturalität alleine nicht an.«
Meyer macht sich Sorgen, dass neuerdings die religiöse Differenz zunehmend zur Selbststigmatisierung benutzt wird. Und er möchte, dass gerade diejenigen verstehen, wie alarmierend das ist, die sich für die Integration des Islams einsetzen. Wenn die Religion zum Mittel der Abgrenzung wird, spielt das am Ende gerade denjenigen in die Hände, die sich darin einig sind, dass der Islam mit westlichen Werten unvereinbar sei: Hasspredigern und Islamophoben.
Das Unbehagen, Deutsche als Opfer von Diskriminierung zu thematisieren, bleibt bei der Tagung bis zum Ende. Mechthild Unverzagt sagt schließlich fast reumütig, sie wolle den politisierten Begriff der Deutschenfeindlichkeit »nicht mehr hören«. Sie will sich nicht vor den Karren der Demagogen spannen lassen, die auch ohne Kenntnis der Verhältnisse per Ferndiagnose schon »den Islam« als Ursache ausgemacht haben. Aber sie möchte doch, dass man zur Kenntnis nimmt, dass ausgerechnet sie, die engagierte Lehrerin, den Hass der Verlierer abbekommt, der dieser Gesellschaft im Ganzen gilt.
Was tun? Gewerkschafter sind nie lange verlegen, Rezepte gegen Benachteiligung zu formulieren. Eine bessere Schule, ganztags und mit mehr Ausstattung, wurde dann auch gefordert, neue Unterrichtsformen, interreligiös ausgebildete Lehrer, eine größere soziale Mischung. Also genau das, was an der einst als hoffnungslos geltenden Rütli-Schule die Wende gebracht hat. »Es ist ein Verbrechen, wie das Potenzial dieser Kinder verschwendet wird«, sagte Mechthild Unverzagt, so als müsse sie noch einmal klarstellen, dass die Schüler nicht ihre Gegner sind. »Wir brauchen eine Lobby«, sagt sie fast flehend.
Für Lehrer wie Mechthild Unverzagt und Christian Meyer ist es wichtig, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Sie fühlen sich alleingelassen. Sie brauchen keine Belehrung über die sozialen Ursachen des Mobbings, dem sie und andere ausgesetzt sind. Sie brauchen die Anerkennung, dass bestimmte Verhaltensweisen inakzeptabel sind, auch unter schlimmsten Bedingungen. Und so sind sie am Ende erleichtert, dass die Gewerkschaft die Angst vor der eigenen Courage überwunden hat.
Den Kampf mit der neu erstarkenden Rechten in Deutschland und Europa kann man auch so sehen: Wenn dieses Land eine Linke hat, die den öffentlichen Raum gegen jeden Rassismus verteidigt – auch den von Nichtdeutschen –, haben Rechtspopulisten ein Thema weniger.

 

Warum Deutschland eine (andere) liberale Partei braucht

Soeben ist das Sonderheft der Zeitschrift Merkur erschienen. Ich habe dort über den real existierenden Liberalismus der FDP nachgedacht. Auszug:

Ohne Zweifel: Es gibt in Zeiten wie diesen Bedarf für eine vernünftige staatsskeptische Partei. Sie müsste einen zweiten Blick auf jene staatlichen Interventionen werfen, die Konsequenzen für kommende Generationen haben können, wie etwa die zahlreichen Milliarden-Rettungspakete. Aber nicht nur das ganz große Staatshandeln, auch das staatliche Hereinregieren im Kleinen verdient skrupulöse Aufmerksamkeit. Wir haben uns an das Mikromanagement der Lebensführung durch Instrumente des Nanny-State schon sehr gewöhnt − vom Rauch-, Kopftuch- und (demnächst vielleicht) Burkaverbot über Ehegattensplitting, Vätermonate bis zum Glühbirnenbann. Es käme darauf an, auf beiden Ebenen nicht von vornherein ideologisch dagegenzuhalten.

Es geht gewissermaßen um Staatsskepsis für Erwachsene, für Menschen, die den etatistisch-planerischen Überschwang der Siebziger ebenso hinter sich gelassen haben wie den gegenläufigen Optimismus der Thatcher und Reagan (auf sozialdemokratischer Seite: Clinton, Blair und Schröder), mit einem geordneten Rückzug des Staates würde schon von selber alles besser.
Von Ronald Reagan ist das Apercu überliefert, die neun schrecklichsten Worte der englischen Sprache lauteten: »I’m from the government, and I’m here to help.« Das würden wir wohl kaum mehr so sagen, spätestens seit dem Moment nach der Lehman-Brothers-Pleite, als staatliches Handeln eine große Depression verhindern musste. Nun muss die liberale Staatsskepsis sich auf die Höhe dieses geschichtlichen Ereignisses begeben, will sie nicht als Endmoräne des Reaganismus gelten.

Nicht erst der mit Mühe und Not verhinderte Crash des Herbstes 2008, sondern zuvor schon der 11. September 2001 hatte den Staat neu ins Blickfeld der Bürger gerückt. Anders als bei früheren Terrorwellen, die einzelnen Vertretern der Elite gegolten hatten, trat hier ja ein nichtstaatliches Netzwerk gegen die Bürger der freienWelt an und nahmsie direkt insVisier. Dieser neue Terror − in New York, London,Madrid und Bombay − war eine Herausforderung der Staatlichkeit als solcher. Die Bürger erwarteten Schutz vom Staat und erkannten scheiternde Staatlichkeit in Teilen der Welt als Mitursache der neuen asymmetrischen Konflikte.
Die deutschen Liberalen hatten dazu keinen Gedanken beizusteuern. Man erschöpfte sich in der Kritik der Schilyschen Sicherheitsgesetze, doch ohne zu reflektieren, dass dem angegriffenen und herausgeforderten Staat im Auge der Bürger eine neue Legitimation zugewachsen war. Es war, was auch immer man von den Sicherheitsgesetzen halten mag, nicht mehr zunächst der Staat, vor dessen Übergriff man den Bürger schützen musste. Diesen Staat musste man nun stärken gegen einen äußeren nichtstaatlichen Feind, und darum gestanden die Bürger dem Staat auch so viele erweiterte Rechte zu. Das Thema ist nicht damit erledigt, dass man hier die Exzesse zurückführt. Eigentlich ist das ein großes, klassisches Thema für Liberale: die Neudefinition des Staates in einer Welt, in der nicht bloß andere Staaten oder supranationale Institutionen, sondern nichtstaatliche Akteure − von den Taliban bis zu den Hedgefonds-Managern − ihm das Leben schwer machen.
Der FDP bietet sich in der Gesellschaftspolitik ein dankbares Thema an: die gefährdete Mitte, von der ja auch der Parteivorsitzende Westerwelle so häufig spricht. Nur findet er nicht den Ton, in dem diese Mitte gerne angesprochen wird. Es ist wahr: Die Mitte schrumpft in Deutschland, wenn auch noch nicht dramatisch. Dabei geht es aber nicht einfach nur um die mittleren Einkommen, sondern um eine Lebensform− um jene schwer fasslichen Milieus von Facharbeitern, Akademikern, Beamten und freien Berufen, die in Deutschland ein erstaunlich homogenes Wertemuster ausgebildet haben, in dem gute Ausbildung, Verantwortungsgefühl und bürgerliche Umgangsformen immer noch hochgehalten werden.

Was hat man nicht über die Mitte gespottet! Es ist aber mittlerweile eine gut durchlüftete Bürgerlichkeit, die in diesen Milieus gepflegt wird, und parteipolitisch ist sie nicht gebunden. Sie ist durch die Sozialdemokratie eines Helmut Schmidt ansprechbar, durch die Merkel-CDU, aber auch durch pragmatische Grüne, die schon in Teilen der Republik die Bürgermeister stellen. Liberale Bürgerlichkeit ist in Deutschland keineswegs mehr an eine nominell liberale Partei gebunden. Im Gegenteil: Zwischen Teilen dieser freiheitlich gesinnten Gesellschaftsschichten und den Liberalen gibt es geradezu ein Abstoßungsverhältnis. Statt dies als Indiz für eine untergründige, unkurierbare Illiberalität des deutschen Wesens zu nehmen, sollte sich die FDP fragen, woran es liegen mag, dass viele Herzensliberale sich außer Stande sehen, sie zu wählen.

Die deutsche Gesellschaft von heute ist so weitgehend durchliberalisiert, dass zum Beispiel ein schwuler Außenminister auch in konservativen Kreisen kein Grund zur Aufregung ist, eher noch zum heimlichen Stolz auf die Liberalität des eigenen Landes. Die Deutschen sind so tief imprägniert mit liberaler Staatsskepsis, dass es manchmal schon zu hysterischen Abwehreaktionen kommt − so etwa bei der beabsichtigten Sperrung von Kinderpornoseiten, die sofort eine Kampagne gegen »Zensur« hervorrief.

Was bleibt da den Liberalen noch zu tun? Wie redet man in einer solchen Gesellschaft − und vor einem solchen breiten Zielpublikum − einnehmend von der Freiheit? Sie muss heute und hierzulande nicht mehr gegen das Spießertum, auch nicht in erster Linie gegen einen übergriffigen Staat und schließlich kaum noch gegen totalitäre Ideologien verteidigt werden. Diese Schlachten sind geschlagen, wenn auch Nachhutgefechte immer wieder nötig sein werden.

Wie aber soll man dann im heutigen Deutschland von der Freiheit reden, der inneren wie der äußeren? Die Freiheit zur persönlichen Entfaltung muss nicht mehr lauthals verteidigt werden. Selbstverwirklichung als hoher Wert ist bis tief in konservative Milieus hinein durchgesetzt (wie die öffentlich debattierte Affäre des Gesundheitsministers Seehofer eindringlich bewiesen
hat). Die Kosten der Freiheit hingegen werden überall sichtbar, zum Beispiel in zerstörten Ehen und in den Kämpfen, die Alleinerziehende zu bestehen haben. Auf der großen politischen Bühne ist nach dem Ende der totalitären Diktaturen kein Erbe in Sicht, der die Ordnung der Freiheit im Westen gefährden könnte. Der Islamismus bleibt ein Problem, hat aber nicht das Zeug zum Nachfolger für Faschismus und Kommunismus.

Während die private Freiheitsmaximierung also an gewisse Grenzen
stößt, ist der Kampf der freien Gesellschaften gegen äußere Feinde zugleich eine komplizierte Sache geworden, man denke nur an die erfolgreiche Kombination von ökonomischer Liberalisierung und rigorosem Autoritarismus in China. Und schließlich ist der Markt nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr einfach als reine Quelle der Freiheit zu reklamieren. Er zeigt in Gestalt des Kasinokapitalismus auch Züge einer Gefahr für die Freiheit − als großer Gleichmacher, als Vernichter von Lebenschancen.

Wie also soll die FDP von der Freiheit sprechen, damit sie von der Mitte unter diesen Umständen gehört wird? Wie verteidigt man die Freiheit unter Bedingungen der Freiheit? Nicht mit hohlem Pathos und geborgten Gegnerschaften aus dem Weltbürgerkrieg.
Westerwelle kann es nicht lassen, überall »Sozialismus« zu riechen, und auch sein junger Adlatus Christian Lindner, ein möglicher Nachfolger, erkennt in Vorschlägen der Linkspartei gerne »Sowjets«. Eine heimliche Sehnsucht nach den übersichtlichen Achtzigern und der Blockkonfrontation scheint die Déjà-vu-Gefühle dieser beiden zu treiben.

Damit korrespondiert eine Art Gutmenschentum der Freiheit, das immer das Positive sehen will und die Schmerzen derjenigen herunterspielt, die in der Multioptionsgesellschaft nicht zurechtkommen. Ein Markt, der für viele Menschen kein Freiheitsquell mehr ist, kommt im FDP-Weltbild nicht vor.
(…)

Der Niedergang der FDP in der Regierung ist kein Grund zur Genugtuung. Zwar gibt es heute Liberale in allen Parteien, aber nur der Partei des real existierenden Liberalismus stellt sich die Frage, was es heißt, unter Bedingungen der Freiheit liberal zu sein, in aller Direktheit und Grundsätzlichkeit. Darum würde sie eigentlich gebraucht. Freiheit braucht Tugenden. Eine freiheitliche Ordnung ist ja mehr als jede andere darauf angewiesen, dass ihre Akteure sich, orientiert an Werten, selber steuern. Liberale sollten also auch etwas dazu zu sagen haben, welche Ausübung der Freiheit heute die Freiheitschancen künftiger Generationen gefährdet: durch Verschuldung, Ressourcenverschwendung und andere Formen der Optionenvernichtung.
Allgemeiner gesagt: Es werden Liberale gebraucht, die in der Lage sind, über die moralischen Voraussetzungen einer freiheitlichen Ordnung nachzudenken, die auch der beste Markt nicht bereitstellen kann, und die sich auch nicht scheuen darüber zu reden, wenn die ungeordnete Freiheit sich selbst gefährdet. Falls es solche Liberale in der FDP gibt, wäre jetzt kein schlechter Moment, aus dem Versteck zu kommen.