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Was der Herbst bringt

Den treuen regelmäßigen Besuchern dieses Blogs schulde ich eine Erklärung.

Ich habe wenig posten und auch selten auf Kommentare reagieren können, weil ich zur Zeit viel unterwegs bin. Die letzten Tage zum Beispiel habe ich auf einer sehr interessanten Tagung in Tel Aviv verbracht (bin noch dort), mit deutschen und israelischen Experten der Region. Weil die Gespräche nicht öffentlich sind, kann ich daraus leider nicht berichten. Die Einsichten der Gesprächspartner werden aber in die Meinungsbildung für künftige Berichte und Kommentare eingehen.

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Tel Aviv, landeinwärts

Die Woche zuvor war ich in Warschau, auch dort bei einer Tagung mit Thinktankern und Diplomaten. Es ging um Deutschland, Russland, Europa und die „sicherheitspolitische Kakophonie“ des Kontinents.

Außerdem – und auch das hat meine Aufmerksamkeit in den letzten Wochen vom Bloggen abgezogen – wird sich für mich beruflich Entscheidendes verändern. Ab dem kommenden Winter werde ich in Hamburg die Koordination der außenpolitischen Berichterstattung der ZEIT übernehmen.

Die meisten Korrespondentenstellen werden neu besetzt, und ich werde die Freude haben, das neue Team zu koordinieren.

Das ist eine herausfordernde neue Aufgabe, von der ich noch nicht weiß, wie sehr sie meine Präsenz hier betreffen wird. Ich habe aber vor, das Blog weiterzuführen, wenn es irgend geht.

Jetzt aber werde ich mich erst einmal für drei Wochen in den Urlaub verabschieden, denn das erste Halbjahr war schön und anstrengend, und ich brauche neue Ideen und Kraft. Dann kommt die Wahl, und danach geht es auf zu neuen Ufern.

Ich wünsche allen einen schönen Sommer, eine frische Brise, springende Fische und krachende Wellen!

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Sonnenuntergang auf der Terasse des Herod’s Hotel, Tel Aviv

 

Der Krieg gegen den Terror ist vorbei, der Terror geht weiter

Mein Leitartikel aus der ZEIT vom letzten Donnerstag:

Der Schrecken des Anschlags von London rührte weniger von den blutbefleckten Händen und Hackebeilen der Attentäter als von dem banalen und doch ungeheuren Satz: »Ihr könnt uns filmen.« Der Soldat Lee Rigby lag noch in seinem Blut auf der Straße, da forderten seine Mörder Passanten auf, sie mit ihren Smart-phones aufzunehmen. Das Archaische eines Ritualmords hat sich in der Londoner Tat kurzgeschlossen mit der Allgegenwart neuester Medien. Das Böse will jetzt auch auf You Tube, Facebook und Twitter erscheinen, in Echtzeit.

Das ist die aktuelle Muation des Terrorismus, und es gibt keinen Anlass, zu hoffen, dass sie die letzte sein wird. Und doch hat der amerikanische Präsident, nur einen Tag nach dem barbarischen Anschlag, den »Krieg gegen den Terror« in einer großen Rede für beendet erklärt. Wie passt das zusammen?

Dieser Krieg müsse enden, sagte Obama, »wie jeder andere Krieg auch«. Es sei ein Fehler ge-wesen, so Obama, dass der Westen sich vom Terrorismus habe definieren lassen: Wir müssen das Wesen des Kampfes gegen die Terroristen neu bestimmen, damit dieser Kampf nicht uns bestimmt.

Das bedeutet: Rückzug aus Afghanistan (wie schon aus dem Irak), weniger Drohnenangriffe in Pakistan, Schließung von Guantánamo und statt Bushs entgrenztem »globalem Krieg gegen den Terror« künftig nur gezielte Aktionen gegen konkrete Netzwerke. Außerdem mehr Diplomatie und Entwicklungshilfe. Obama zieht mit seiner Rede einen Strich, selbstkritisch, ernüchtert: Es gibt keine totale Niederlage des Terrorismus. Dieser Krieg endet ohne Siegesfeier.

Der Abschied von der Kriegsrhetorik ist die richtige Strategie. Die neuen Mutationsformen des Terrorismus locken ihre Rekruten mit der Idee eines Kriegs zwischen dem Islam und dem Westen. Es hat sich eine Instant-Ideologie herausgebildet, und alle Attentäter der letzten Zeit haben sie übernommen. Auch die Londoner Mörder gaben sie in die Handys der Passanten zu Protokoll: Ihr besetzt unsere Länder, ihr stützt unsere Diktatoren, ihr tötet Zivilisten mit euren Drohnen.

Das ist eine extrem verzerrte Sicht der Welt. Heute sterben mehr Muslime durch die Hand anderer Muslime als durch »westliche Kreuzzügler«. Sunniten kämpfen in Syrien und im Irak gegen Schiiten. Sufis werden in Pakistan von Salafisten massakriert. Nigeria ächzt unter der mörderischen Islamistensekte Boko Haram, Somalia unter der Al-Kaida-Franchise Al-Shabaab. Aber es hilft alles nichts. Wer den Glutkern der heutigen Radikalisierung treffen will, muss sich mit der Parole auseinandersetzen: Eure Außenpolitik rechtfertigt unsere Taten. Wir schlagen nur zurück. Obama hat das getan. Seine Kriegsabsage unterläuft diese Logik.

Das hilft am Ende denen, die den eigentlichen Kampf gegen die Radikalisierung führen müssen: den friedliebenden Muslimen. Der Londoner Horror hat auch bei ihnen Lernprozesse offenbart. Vorbei die apologetischen Töne, der Terror sei eigentlich nur Gegenterror: Diesmal ließen islamische Verbände sich nicht lange bitten, die Tat angewidert zu verdammen – auch im Namen der Religion.

Anstelle nachträglicher Distanzierung wäre allerdings eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Radikalismus gefordert. Die wird immer noch gemieden, auch weil man fürchtet, Klischees über eine ohnehin ungeliebte Religion zu bestätigen. Die Erkenntnis, dass so die Extremen gewinnen, setzt sich offenbar durch.

Zwei scheinbar widersprüchliche Entwicklungen müssen zusammengedacht werden: Al-Kaidas Führung ist schwer getroffen, nicht zuletzt durch Obamas Drohnenkrieg. Ihre lokalen Gruppen können zwar großen Schaden anrichten, in Mali, im Jemen, im Irak und in Syrien. Im Westen haben sie seit Jahren keinen großen Anschlag mehr vollbracht. Zugleich erfasst eine neue Welle des Radikalismus die Ränder islamischer Gemeinden hier und zieht die Gescheiterten, Entfremdeten und Instabilen an: Dschihadismus als Weg zum schnellen Ruhm, wenn es zum Rapper oder Boxer nicht reicht.

Schon am Samstag wurde aus Paris eine Nachahmungstat gemeldet, eine Messerattacke, die das Opfer, wieder ein Soldat, überlebte. Wenige Wochen nach dem Attentat von Boston wurden deutsche Geheimdienstler von russischen Kollegen gewarnt, Tschetschenen seien nun mit Anschlagsabsichten nach Deutschland gereist. Letzte Woche schlug die Religionslehrerin Lamya Kaddor Alarm, fünf ihrer ehemaligen Schüler seien aus Deutschland zum »Dschihad« nach Syrien gezogen. Nicht einmal deren Freundinnen hätten die Radikalisierung bemerkt.

Neodschihadisten, die sich selbst rekrutiert haben, sind der Albtraum der Sicherheitsbehörden. Die Täter fanatisieren sich schnell und selbsttätig mithilfe radikaler Prediger und des Internets. Sie haben nur flüchtige Kontakte zu Terrornetzwerken und verwenden keine auffälligen Materialien: Schwarzpulver und Kochtöpfe wie in Boston; Auto, Messer, Handy – mehr brauchten sie in London nicht zu ihrer Gewalttat.

Was tun? Zensurmaßnahmen gegen radikale Websites, Vereinsverbote gegen Extremisten, Überwachungskameras – jetzt werden wieder die üblichen Maßnahmen debattiert. Gegen die neuen Tätertypen bringt das wenig.

Ihre Radikalisierung kann nur die Diskreditierung und Isolation des Dschihadismus verhindern. Muslime müssen diesen Sieg erringen. Sie können jede Hilfe gebrauchen.

 

Der Bundestag muss Waffengeschäfte kontrollieren können

Mein Kommentar aus der ZEIT von dieser Woche:

Es ist ein bisschen peinlich für ein Parlament, wenn die Regierung den Abgeordneten großmütig neue Kontrollmöglichkeiten anbietet. Da liegt der Gedanke nahe, dass die Volksvertreter selbst nicht genügend Druck machen. Sie sollten doch eigentlich die Regierung treiben – statt auf Entgegenkommen zu warten.

Außenminister Guido Westerwelle stellt nun in Aussicht, dass der Bundestag künftig früher über deutsche Rüstungsexporte informiert werden könne. Man könne sich auch ein parlamentarisches Gremium vorstellen, in dem – geheim – über Waffenlieferungen geredet wird.

Verkehrte Welt: Normalerweise trotzen Parlamente ihren Regierungen Mitsprache ab – besonders in der heiklen Frage, welche Waffen wohin geliefert werden dürfen. Der Bundestag begnügt sich mit einer eher kommentierenden als kontrollierenden Rolle. Solange nur an Freunde und Partner geliefert wurde, reichte das. Doch seit Jahren nehmen Deutschlands Rüstungsexporte zu, auch in Spannungsgebiete. Die Bundesrepublik ist nach Berechnungen des schwedischen Instituts SIPRI drittgrößter Waffenhändler weltweit. Die Regierung behauptet zwar, noch »restriktiv« zu handeln, in Wahrheit hat sie einen klammheimlichen Strategiewechsel vollzogen: Stabilität schaffen mit immer mehr Waffen.

Der Bundestag muss die Debatte darüber endlich an sich ziehen. Wie wichtig seine Kontrollfunktion bei Rüstungsgeschäften sein kann, zeigt gerade das Debakel um die Drohne Euro Hawk. Ohne den Bundestag wäre es längst noch nicht ans Licht gekommen. Der SPD-Verteidigungspolitiker Hans-Peter Bartels hat den Minister Thomas de Maizière mit Nachfragen so sehr unter Druck gesetzt, dass der das Scheitern eingestehen und das Projekt beenden musste.

Wenn Deutschland Waffen kauft, kann der Bundestag sehr wohl mitreden – über das Budgetrecht. Wenn Deutschland jedoch Waffen verkauft, wird das Parlament erst nachträglich informiert. Die Entscheidungen fällt der geheime Bundessicherheitsrat, ein Kabinettsausschuss.

Wie für den Import, gilt auch für den Waffenexport: Geheimniskrämerei schützt Geschäftsinteressen, nicht die nationale Sicherheit, auch wenn die Regierung das behauptet. Sie kann die nationale Sicherheit sogar gefährden. Die Öffentlichkeit erfährt immer erst nachher von Panzergeschäften mit zweifelhaften Partnern wie Saudi-Arabien, Katar oder jüngst Indonesien – allesamt Regierungen, die deutsche Waffen dereinst gegen ihre Opposition einsetzen könnten.

Der Bundestag sollte das Angebot der Regierung nutzen, auch wenn es nicht ohne Hintergedanken ist: Westerwelles Initiative dient im Kern dem Zweck, die Geheimhaltung zu retten. Die Abgeordneten sollen nur früher darüber eingeweiht werden, was weiterhin anderswo entschieden wird. Und dies fände auch wieder in einem Geheimgremium statt, ähnlich wie bei den Nachrichtendiensten.

Das wäre immerhin ein Anfang. Aber das Parlament muss sich eigentlich für drei grundlegende Änderungen einsetzen. Erstens: Für die Genehmigung von Waffenexporten sollte künftig das Außenministerium zuständig sein, statt wie bisher das Wirtschaftsministerium. Schließlich geht es hier um strategische Fragen deutscher Außenpolitik, nicht um Wirtschaftsförderung. Statistiken über die Ausfuhren müssen – zweitens – monatlich oder vierteljährlich veröffentlicht werden, statt wie bisher jährlich. Das Argument, dies sei nicht machbar, zieht nicht: Viele Nato-Partner halten es schon so. Und schließlich drittens: Das künftige Rüstungskontrollgremium braucht ein Vetorecht bei Voranfragen aus heiklen Ländern – wenn es sich bei den Interessenten nicht um Nato-Partner oder sonstige Alliierte handelt.

Die Regierung hält dagegen, zu viel Transparenz schade der nationalen Sicherheit. Zu wenig aber auch: Die Debatte über Panzerlieferungen findet ja bereits statt – wenn wieder mal ein Deal enthüllt wurde. Das umgibt alle Waffenexporte mit einer Aura von Immoralität.

Und das ist auch wieder falsch: Rüstungsexporte sind eine Form der außenpolitischen Intervention. Dabei kann man ebenso viel richtig und falsch machen wie bei jeder anderen Einmischung. Ist es richtig, dass Deutschland keine Waffen an die moderate syrische Opposition gibt – wohl aber Panzer an die Saudis, die Syriens radikale Islamisten beliefern?

Die Debatte darüber gehört ins Parlament. Sie wird umso besser, je genauer die Volksvertreter über die Kriterien der Regierung im Bilde sind. Und wer weiß, am Ende werden dadurch auch deren Entscheidungen besser.

 

Warum es keine Intervention in Syrien gibt (und wohl auch so schnell nicht geben wird)

Letzte Woche habe ich in Zürich an einem „NZZ Podium“ bei der Neuen Zürcher Zeitung teilgenommen. Die Debatte wurde eingeleitet vom Reporter und ehemaligen NZZ-Korrespondenten Kurt Pelda, der oft in Syrien und anderen Teilen der arabischen Welt unterwegs war.

Auf sein leidenschaftliches Plädoyer für eine Einmischung in Syrien antworteten die ägyptische Theaterautorin und Dramaturgin Laila Soliman – und ich. Moderiert wurde das Gespräch von dem Leiter des Feuilletons der NZZ, Martin Meyer.

Ich konnte meine vorgefassten Überlegungen nicht alle unterbringen, daher stelle ich sie hier zur Debatte. Den Text von Kurt Pelda kann man hier als Podcast hören.

Es folgen meine Notizen:

Das Plädoyer von Kurt Pelda bringt mich in eine schwierige Position. Ich stimme nämlich weitgehend mit ihm überein.

Da spiele ich lieber den Advocatus Diaboli und versuche zu erklären, warum der Westen nicht interveniert. Ich will erklären, was – jedenfalls aus deutscher Sicht, zu der Haltung führt, die Kurt Pelda beklagt.

Das Wichtigste an seinem Vortrag scheint mir die Pointe: Nichtstun ist nicht kostenfrei.

Nichtintervention ist auch eine Art der Intervention. Sie hat Folgen, die unter Umständen die Folgen einer Intervention in den Schatten stellen können.

Die deutsche Haltung im Libyen-Krieg haben wir in der ZEIT harsch kritisiert. Wir haben auch im Fall Syrien für eine Einmischung plädiert.

Die Regierung und die deutsche Öffentlichkeit hat das allerdings nicht beeindruckt.
Sie lehnen eine Intervention in Syrien mit breiter Mehrheit ab. Und sie sind auch skeptisch gegenüber allem, was unterhalb dieser Schwelle getan werden kann – Bewaffnung von Oppositionellen etwa. Warum?

Ich glaube, dass man die deutsche Positionierung in einem größeren Zusammenhang sehen muss – und das ist die Desillusionierung über den Interventionismus.
Diese Entwicklung überschneidet sich mit dem amerikanischen Rückzug nach der Überdehnung unter George W. Bush.
Und mit der Enttäuschung im gesamten Westen über den Arabischen Frühling. Man hat die Sache eigentlich abgeschrieben: man sieht, wie gesagt, nur neue Formen der autoritären Herrschaft heraufziehen, diesmal islamisch begründet, statt eines erhofften Völkerfrühlings.

Das sind alles gewissermaßen interne Gründe: Revisionen eigener Positionen. Mit einer geostrategischen Abwägung hat das alles noch nichts zu tun. Aber die Wendung nach Innen, die Positionierung aufgrund von Desillusionierung und Erschöpfung im Zeichen der ökonomischen Krise und der außenpolitischen Überdehnung: das ist das Symptom einer Selbstbewußtseinskrise des Westens. Obama ist ihr Repräsentant. (Nicht ihre Ursache, wie manche glauben.)

Sehen Sie sich die amerikanische Haltung im Syrienkrieg an. Obama hattte offenbar gehofft, seine Formulierung von den chemischen Waffen als „game changer“ würde schon per se so viel Druck entfalten, dass eine Eskalation verhindert würde. Aber das war offensichtlich eine Fehlanalyse. Das syrische Regime ist zu der Einschätzung gekommen, dass die Amerikaner nicht handeln werden – es verschiebt die Grenzen darum immer weiter in Richtung Massenvernichtungsmittel. Es setzt sogar Giftgas ein. Es bombardiert ganze Flächen. Die Botschaft an die Aufständischen: Ihr seid ohne Schutz.
Hat Assad vielleicht die richtige Folgerung aus dem Libyen-Einsatz gezogen? Dass dies die letzte Grenze war für den westlichen Interventionismus – von Amerika schon nur noch zögerlich – leading from behind – angeführt?
Dass er also mit keiner Intervention würde rechnen müssen? Obamas Reaktion auf das Überschreiten der „Roten Linie“ legt das nahe: wie ein Anwalt begann er zu relativieren, was er mit dem Wort „game changer“ gemeint habe: nicht Giftgas per se, hieß es jetzt, sondern erst seinen systematischen und massenhaften Einsatz.
Und dass auf die Giftgasnachrichten sofort eine diplomatische Initiative mit Russland folgte, kann man auch in diesem Zusammenhang verstehen: Amerika und der Westen brauchen jetzt die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung, um den Druck zur Intervention herauszunehmen.
Das ist der wahre Grund für diese Initiative, glaube ich. Wer kann im Ernst an einen russischen Willen zum Frieden glauben – nachdem Putin ganz offen bekennt, Assad mit Waffen zu beliefern?
Ich verstehe die israelische Bombardierung mitten in Damaskus auch als Versuch, diese syrische Einschätzung zu durchkreuzen: Fühlt Euch nicht allzu sicher. Amerika und Europa mögen kriegsmüde sein, doch unser Kalkül beeinflusst das nicht, wir werden auch alleine für unsere Sicherheit sorgen. Das Signal geht natürlich auch an Teheran und die Hisbollah, beides Parteien im syrischen Krieg.

Das sind die innerwestlichen Gründe für die Nichtintervention. Andere, in der regionalen und globalen geostrategischen Lage verankerten Gründe, kommen hinzu:
Libyen war geradezu ideal für eine Bombenkampagne – wenig besiedelt, alle Siedlungsräume konzentriert an der Küste, Rebellen- und Regime-Gebiete gut geschieden. Syrien aber ist dichtbesiedelt und grenzt an Libanon, die Türkei, Israel, Irak und Jordanien.
Und anders als im libyschen Fall stehen hier Russland, China und Iran auf der einen Seite, Katar und Saudi-Arabien und die Arabische Liga auf der anderen. Eine Intervention unter UN-Mandat (wie auch in Mali) mit der Begründung der Schutzverantwortung (R2P) wird es also nicht geben. Und das, obwohl es hier noch dringender wäre. Man bräuchte also einen politischen Willen wie seinerzeit im Kosovo, und den gibt es derzeit nicht.
Die ganze Geschichte der Interventionen seit dem Kosovo-Krieg ist mittlerweile als Schlag ins Wasser abgespeichert. Was Kosovo betrifft, ist das ungerecht. Aber es fällt der Schatten der späteren Interventionen darauf – Afghanistan und Irak –, die heute beide als Beispiele westlicher Hybris gelten. Regime stürzen ist schnell gemacht, aber dann beginnen erst die Probleme. Aus dem Kalten Krieg und dessen Ende in Osteuropa hatte man die Vorstellung mitgebracht, wenn die „schlechte Herrschaft“ erst weg ist, komme die „gute Gesellschaft“ darunter zum Vorschein. Doch in Irak und Afghanistan zeigte sich, dass Stammesverbände und religiös-ethnische Konfliktlinien stärker sind als die importierten neuen demokratischen Strukturen.
Hat man das in diesen beiden Fällen erst schmerzhaft lernen müssen, so scheint es im syrischen Fall von vornherein auf der Hand zu liegen. Niemand traut sich zu, für eine Nachkriegsordnung in diesem komplizierten Land Verantwortung zu übernehmen. Die Konsequenz davon ist, dass man dieses Land in einem ganz wörtlichen Sinn ausbluten lässt. Ob die jüngsten Gräuel das ändern werden, da habe ich meine Zweifel.

Was die Kämpfer der Nusra-Front betrifft, kann ich nur hoffen, dass Sie, lieber Herr Pelda, mit Ihren Beobachtungen Recht behalten.
Ich bin allerdings skeptisch ob man daraus, dass Ihnen zum Glück nichts angetan wurde, auf die wahre Natur dieser Gruppe schließen kann. Vielleicht sind diese Leute ja auch einfach klug genug zu wissen, wann sie eine gute Presse im Westen brauchen – oder jedenfalls keine schlechte brauchen können, damit Geld und Waffen weiter fließen?

Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass diese Kräfte nach einem Sturz des Regimes die Oberhand behalten werden. Das passt nicht zur Mehrheit in Syrien, auch nicht unter den Sunniten. Aber ich kann mir ebenfalls nicht vorstellen, dass diese Leute nach getaner Arbeit nicht die Dividende einstreichen wollen in Form einer Herrschaft nach ihrem islamischen Vorstellungen.
Und sie werden eine hohe Legitimität haben, durch ihre Opfer im Kampf gegen Assad. Ihre Idee einer Wiedererrichtung des Kalifats wird sie zu Feinden jeder moderaten, inklusiven neuen Regierung machen. Das heißt, der wahre Bürgerkrieg könnte noch kommen. Er wird einer sein zwischen Vertretern eines moderaten, inklusiven Islams und den Kalifatskämpfern.

Und das ist vielleicht eine der interessantesten Folgerungen des „Arabischen Frühlings“: Er hat einen Kampf um die Vormacht innerhalb des politischen Islams entfacht. Nicht zwischen Säkularen und Religiösen, sondern zwischen Muslimbrüdern und Salafisten, zwischen Salafisten und Dschihadisten, zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen national-islamischen Befreiungsbewegungen wie Hamas und globalen Terrorgruppen wie Al-Kaida, zwischen staatsbasiertem Islamismus mit Öl und Gas wie in Saudi Arabien und Katar und mittelständischen Bewegungen wie Nahda, Muslimbrüdern und der türkischen AKP.
Es hängt auch für uns einiges davon ab, wer gewinnt. Darum plädiere ich nicht fürs Raushalten. Aber Einmischung ist auch eine verdammt komplizierte Sache geworden.

 

Dicke Bretter, dünne Bohrer

Eigentlich freut man sich ja immer über Reaktionen auf eigene Blogposts. Aber das hier ist dann doch leider ein zwiespältiges Vergnügen. Die jungen Wissenschaftler von der Frankfurter Uni, die sich in ihrem Forschungsprojekt mit den „transnationalen Eskalationsmechanismen gewaltsamer Dissidenz“ befassen, haben auf meinen Post über die Zarnajews (und auf Yassin Musharbashs Reaktion darauf in seinem Blog) reagiert.

In guter (deutscher) akademischer Manier beginnen die Kollegen mit einer Definition. Wovon ist überhaupt die Rede, „was ist Terrorismus“?

Wir folgen Daase/Schindler und definieren Terrorismus als „Situation in der ein nicht-staatlicher Akteur gezielt manifeste Gewalt gegen Zivilisten einsetzt, um Angst und Schrecken zu verbreiten und einen Staat zur Veränderung seiner Politik zu zwingen“. In diesem Sinne ist terroristische Gewalt eine variabel angewendete Form politischer Gewalt unter anderen, wenn auch eine besonders verwerfliche.

Eigentlich könnte man an dieser Stelle dann gleich die Debatte abbrechen. Was auch immer die Zarnajews mit ihrem Akt erreichen wollten, „einen Staat zur Veränderung seiner Politik zu zwingen“ ist nach meinen bisherigen Erkenntnissen nicht Top-Priorität. Selbst wenn sie das in einigen kolportierten Äußerungen so nahelegen – es stellt sich doch wohl die Frage, wie ernst diese Rationalisierungen in diesem Fall zu nehmen sind.  In anderen Worten: Wenn die obige Definition zugrunde gelegt wird, dann handelt es sich hier nicht um Terrorismus. Case closed?

Nein, die Enge der Definition ist das Problem. Sie betreibt erstens – in kritischer Absicht – die Rechtfertigung terroristischer Gewalt, weil sie Motivationsfaktoren ausblendet, die einer Deutung im Wege stehen, an deren Ende jeder Terrorismus „eine variabel angewendete Form politischer Gewalt unter anderen“ ist. Ich meine „irrationale“ Motivationsfaktoren wie Ressentiments, privates Unglück, Depressionen, religiös oder sonstwie verstärkten Gruppenhass, Gruppendruck etc. Bei der Rekrutierung /Selbstrekrutierung von Terroristen spielen diese Faktoren eine große, variable Rolle, je nach Umstand. Wer Terrorismus als immer „variabel angewendete Form politischer Gewalt“ verstehen will, blendet das gerne aus.

Es ist m.A. nach zu unterscheiden zwischen Formen des Terrorismus, die diese Definition erfüllen (bspw. Zionisten gegen  Britisches Mandat, teilweise auch die im Post erwähnten Anarchisten) – und anderen Formen von Terrorismus, die keine „politische“ Gewalt sind, sondern apokalyptische, eliminatorische Gewalt zur Beendigung, Durchkreuzung und Verunmöglichung von Politik (verstanden im Sinn von Vertrag, Kompromiss, Aushandeln).Sie richten sich nicht an einen Staat, sondern gegen Staatlichkeit per se. Selbstmordattentate z, B. haben die anti-hobbesianische Botschaft in sich, dass die Grundlage aller rationalen Politik, die Angst vor dem Tode und der Wunsch zur Selbsterhaltung, nicht mehr gilt. Sie richten sich gegen den Kern jedes Gesellschaftsvertrages, das macht sie zu einer so fürchterlichen Waffe. Die Barbarisierung der anderen Seite wird bewusst mit in Kauf genommen, es geht nicht nur darum, den Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen, sondern um die Zerstörung jedes Vertrauens beim Gegner. Ziel ist seine Vertreibung, besser noch Elimination. (Siehe z. B. die Attentate auf schiitische Moscheen im Irak.)

Wenden sich die Zarnajews an den amerikanischen (oder russischen) Staat, den sie zur Veränderung seiner Politik zwingen wollen? Ich kann nicht sehen, wie das Marathon-Attentat damit erklärt werden kann. Sind die Medien nicht vielmehr der Adressat? Twitter, Facebook, CNN, und auch wir hier, die wir uns jetzt darüber beugen. Ist die Tat nicht vielmehr (auch!) einzuordnen in einer Celebrity-Kultur mit Versprechen von Instant-Ruhm? Der ältere Zarnajew hat, wie man heute weiß, von großem Ruhm durch sportliche Erfolge geträumt. Auch Rapper wollte er zeitweise werden. Der Zusammenbruch der Familie ist offenbar sehr bedeutsam für seine zunehmende Entgleisung. Wie dann die Politik – und welche Politik – ins Spiel kommt, um „das große Loch zu füllen, das man Seele nennt“ (R. Musil), das ist die interessante Frage. Was sagen die Frankfurter Forscher dazu?

Zu glauben, man könne hier „Psychologisierung“ von der „politischen Gewalt“ abtrennen, ist naiv. Es ist eine Gratis-Geste, Worte wie „Herrschaftsverhältnisse“ und „Machtverhältnisse“ in die Runde zu werfen: Was ist damit gemeint? Amerikas globale Dominanz? Der Finanzkapitalismus? Der „Krieg gegen den Terror“? Ein fragiles Patriarchat in tschetschenischen Familien? Die wahrgenommene Niederlage „des Islam“?

Ich habe den Eindruck, ohne dass die Autoren das aussprechen, es soll gezeigt werden, dass Terror wie der der Zarnajews eine irgendwie falsche Antwort auf die richtige Frage ist, eine  fehlgehende Reaktion auf Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Ich will nicht ausschließen, dass es terroristische Akte gibt, die man so deuten kann. Dieser gehört nicht dazu, glaube ich. Ist das „blinde Verteufelung“?

 

 

Wer bezahlt eigentlich Lau?

Heino Wiese von „Wiese Consult“ ist sauer wegen meiner Berichterstattung zum Thema deutsche Außenpolitik und Russland. So sauer, dass er in einem Editorial seiner Hauspublikation „Hauptstadt-Insider“ gegen mich ausholt und dabei ein paar große Löcher in die Luft schlägt. (Siehe unten.)

Wir haben führenden Sozialdemokraten überhaupt nichts „unterstellt“, sondern schlicht öffentlich zugängliche, unbestrittene Fakten über deren berufliches Engagement für russische Firmen zusammengetragen. Wenn die Aufzählung von Fakten in den Augen von Herrn Wiese  bereits eine „diffamierende“ Wirkung entfaltet, dann wirft das ein Licht auf die Fakten – und auf Herrn Wiese.

Wer hätte je behauptet, dass Russland einen kurzen und leichten Weg zur Demokratie hätte? Niemand glorifiziert die Jelzin-Jahre. Staatlichkeit und soziale Sicherung sind wichtig, hat ebenfalls niemand je bestritten. Aber wenn all das zur Rechtfertigung von heutiger  Regression und Repression herangezogen wird – und das nicht nur vom Regime, sondern auch von vermeintlichen deutschen Russlandfreunden – dann ist was mächtig faul. (Und da bin ich dann doch sehr froh, dass wir begonnen haben, ein wenig drin zu stochern.)

Dass der NSU-Skandal und selbst noch Stuttgart 21 (?) zur Entlastung der russischen Regierung herangezogen werden, wirkt da schon ein bisschen verzweifelt.

Dass deutsche Unternehmen in Russland einen Mittelstand mit hervorbringen, habe ich nie bestritten. Das ist ja auch höchst begrüßenswert. Ich habe immer für mehr Verflechtung geworben. Allerdings bedeutet diese auch automatisch mehr Einmischung und, daraus folgend, eine klare Sprache bei Rückschritten in Sachen Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte. Solche Rückschritte sind übrigens auch nicht im Interesse der deutschen Industrie, scheint mir. Mehr Rechtssicherheit, weniger Korruption, mehr Verantwortlichkeit wären auch gut für die deutsche Wirtschaft, ganz abgesehen davon, dass diese Dinge um ihrer selbst willen erstrebenswert sind.

Den Schluss finde ich putzig. Eine Firma, die damit wirbt, beste Kontakte zum russischen Establishment zu haben, fragt, „wer eigentlich“ Lau für seine „permanente  Negativberichterstattung über Russland“ bezahlt. Das nenne ich Chuzpe.

Hier das Editorial aus dem aktuellen Hauptstadt-Insider:

 

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Heino Wiese (rechts) von Wiese Consult bei der Arbeit. Foto: Wiese Consult

 

Was die Geschichte der Ostpolitik über den Umgang mit Diktaturen lehrt

Dieser Text, den ich zusammen mit Matthias Geis verfasst habe, erscheint in der ZEIT von heute – ein Versuch, die Debatte über Interessen und Werte in der deutschen Außenpolitik in einen historischen Kontext zu stellen:

Die drei Worte fallen ganz am Ende. Der Redner hat sie fett markiert. Er weiß schon, dass sie die Sprache der deutschen Außenpolitik verändern werden. Die Bundesrepublik müsse gegenüber Moskau einem neuen Leitgedanken folgen: statt Abgrenzung, Druck und Konfrontation – »Wandel durch Annäherung«.
Bald ist das fünfzig Jahre her. Am 15. Juli 1963 hielt Egon Bahr in Tutzing an der Evangelischen Akademie die Rede, die zur Grundlage der »Neuen Ostpolitik« Willy Brandts wurde. In seinen drei Worten schnurrte die Entspannungsphilosophie zusammen, der die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel von 1969 an im Umgang mit der Sowjetunion und dem kommunistischen Ostblock folgte. Keine andere außenpolitische Idee der jüngeren deutschen Geschichte war so folgenreich.
Sie ist es bis heute: Die aktuelle Debatte über den richtigen Umgang mit Diktatoren und Gewalt-herrschern, über Werte und Interessen, Menschenrechte und Geschäfte ist ohne die Vorgeschichte der Entspannungspolitik nicht zu verstehen. Deutsche Außenpolitiker haben in Zeiten der Blockkonfrontation gelernt, wie man mit »schwierigen Partnern« umgeht. Bis heute stehen sie unter dem Bann dieser Zeit. Ihre diplomatischen Begriffe leiten sich daher ab – Varianten und Schwund-formen der Bahrschen Erfindung: Wandel durch Handel, Wandel durch Verflechtung, Modernisierungspartnerschaft.
Was mussten Brandt und Bahr sich von konservativen Politikern nicht für böswillige Angriffe gefallen lassen – Verfassungsbruch, Ausverkauf deutscher Interessen, ja selbst Landesverrat. Erst in den Neunzigern hat sich überall die Einsicht durch-gesetzt, dass es auch die Neue Ostpolitik war – von den Kanzlern Schmidt und Kohl fortgesetzt–, die den Kalten Krieg überwand, die Mauer durchlöcherte und die Wiedervereinigung ermöglichte.
Heute wollen alle die Idee beerben. Allerdings findet dabei eine klammheimliche Umdeutung statt. Die beiden Elemente werden entkoppelt: An der Annäherung wird festgehalten, selbst wenn kein Wandel in Sicht ist, ja selbst noch dann, wenn einer zum Schlechteren stattfindet. Bahrs Formel fällt verdächtigerweise immer dann, wenn be-gründet werden soll, warum eine offensichtliche Demütigung, ein Vertragsbruch, eine Menschenrechtsverletzung durch einen Partner ohne Konsequenzen bleibt. Eine ursprünglich trickreich-subversive Idee ist in Gefahr, zum Alibi zu werden.
So etwa, wenn Außenminister Guido Westerwelle erklärt, warum man mit Russland trotz Razzien in deutschen Stiftungen unverändert weiter auf Dialog-Programme setzt: »Wandel ist nur über weitere Annäherung und Hinwendung möglich.« Als die Chinesen vor einigen Jahren ein Delega-tionsmitglied Westerwelles, den Schriftsteller Tilman Spengler, zur Persona non grata erklärten, flog er trotzdem hin und erklärte auch dies mit Bahrs Formel. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau beschwört die Notwendigkeit einer Partnerschaft mit Putins und Medwedews Regime allen Rückschritten zum Trotz unter der Überschrift »Wandel durch Annäherung«. Ganz gleich, ob es um Gasgeschäfte mit Aserbaidschan, Panzer für Saudi-Arabien oder um Dialog mit der ägyptischen Muslimbruderschaft geht – für alles muss Bahrs Slogan herhalten. Weiter„Was die Geschichte der Ostpolitik über den Umgang mit Diktaturen lehrt“

 

Warum Syrien nicht in die Hände der Radikalen fallen wird

Letzte Woche war Sadiq Jalal al-Azm in Berlin bei einem Kongress der Ebert-Stiftung. Ich hatte ihn seit Jahren schon sehen wollen. Nun gab der Krieg in Syrien seiner Rede einen besonderen Hintergrund.

Al-Azm ist vielleicht der wichtigste lebende Vordenker der arabischen Liberalen, ein Aufklärer und Streiter gegen autoritäre Herrschaft und gegen die arabische Selbstviktimisierung. Der Sohn einer syrischen Bürgerfamilie, der den „Damaszener Frühling“ von 2000 mit begründete, lebt heute in Beirut. Wie würde er die Rolle des politischen Islams angesichts der jüngsten Ereignisse in der arabischen Welt, und angesichts des Krieges in Syrien beschreiben? Ich gebe im folgenden meine Notizen wieder.

Er begann mit dem Rückgriff auf die Ereignisse seit dem Januar 2011 in Tunesien und Ägypten. Die Revolte bedeutete die Rückkehr der Politik zu den Menschen, und zugleich die der Menschen zur Politik. Denn unter den autoritären Herrschern hatte es keine wirkliche Politik geben können. Die Macht wurde durch die Revolte „aus den Händen der Söhne“ gerissen. Es sollte keine Vererbung der Herrschaft mehr geben, es ging um die Rückkehr des öffentlichen Lebens zum Volk.

Die perfektionierte Unterdrückung in Syrien durch das Sicherheitssytem Assads machte es unmöglich, den Weg der anderen arabischen Länder zur Selbstbefreiung zu gehen.

Aber durch den „Damaszener Frühling“ von 2000-2001, so al-Azm, „haben wir eine Vorbildrolle gespielt, unsere kritischen reformerischen Ideen waren einer der Samen des Wandels“. (Al-Azm war Erstunterzeichner der „Erklärung der 99“ und der „Erklärung der 1000“, in denen syrische Intellektuelle Demokratie und Rechtsstaatlichkeit forderten.)

Aber erst auf dem Tahrir-Platz konnte die arabische Öffentlichkeit die Erfahrung machen, dass wir „nicht mehr einen Führer brauchen, dass die Massen es alleine schaffen können“, die Herrschaft der Autokraten zu stürzen.

Anfangs gab es eine intensive Beteiligung von Frauen am Protest, und es gab keine sexuelle Belästigung, die sonst den Alltag in Kairo vergiftet. In einem kreativen, karnevalistischen Klima stürzte das Regime. Christen waren auch mit dabei, und sie zeigten ihre Kreuze, während daneben muslimische Prediger zum Gebet riefen.

All das wurde angefeuert von den Neuen Medien, die nicht kontrolliert werden konnten vom Geheimdienstsystem.

In Syrien aber war eine solche Entwicklung nicht möglich, weil das Regime mit aller Härte auf die ersten Demonstrationen reagierte.

Es ist irreführend, von einem „Bürgerkrieg“ in Syrien zu sprechen, anders als seinerzeit im Libanon, wo der Begriff treffend war.

In Syrien stehen nicht Kurden gegen Christen, Drusen gegen Sunniten, Sunniten gegen Ismailiten. Dort stand von Beginn an das Regime gegen die Bürger, die sich nicht mehr bevormunden lassen wollen.

Der Extremismus des Assad-Regimes ist unvergleichbar mit der Reaktion der anderen betroffenen autoritären Herrscher der Region. Und die Revolution reagiert darauf ihrerseits extrem.

Es ist wichtig, die Rechte der Minderheiten im Blick zu behalten. Aber im syrischen Fall sind es vornehmlich die Städte, Viertel und Dörfer der sunnitisch geprägten Mehrheit, die beschossen und zerstört werden.

Man tut den sunnitischen Syrern Unrecht, wenn man ihnen unterstellt, sie würden im Zuge der Revolte die Minderheit entrechten.

Syrien droht geopfert zu werden auf dem Altar der Geopolitik. Große Mächte wie Russland und Iran, Saudi-Arabien und Katar spielen ihre Machtspiele. Die arabischen Linken sind ein Teil davon, wenn sie die Rhetorik des „Arabischen Herbstes“ oder „Winters“ übernehmen, der angeblich den „Frühling“ abgelöst habe. Das verzerrt die Wahrheit über die syrische Revolution.

Die Islamisten wollen heute die Gelegenheit nutzen, die Oberhand zu erlangen.

Der politische Islam ist eine entscheidende mobilisierende Kraft. Man muss ihn als politische Ideologie unterscheiden von einer normalen religiösen Praxis.

Es gibt heute eine Mehrzahl von Strömungen, zwischen denen ein Ringen um Deutungshoheit entbrannt ist. Drei Kräfte sind grob zu unterscheiden. Da ist „der Islamismus der Petrodollars“ aus dem Iran und den Golf-Staaten.

Zweitens gibt es die Dschihadisten ohne eigenen Staat (wenn auch mit Unterstützung aus Ölstaaten).

Das ist der Islamismus, der die einst Kaaba besetzt hielt und Saddat ermordete, und der für den 11. September verantwortlich ist. Es predigt einen „nihilistischen Islam“, einen „Islam der Exkommunikation und Explosion“. Von ihm zu unterscheiden, wenngleich auch gewalttätig, ist der Islamismus von Hisbollah und Hamas, in dem Restbestände der (früher säkularen) nationalen Befreiungsbewegungen enthalten sind. Doch haben beide Bewegungen auf der Grundlage ihres Konfessionalismus (schiitisch die Hisbollah, sunnitisch die Hamas) das Motiv der Befreiung ad absurdum geführt.

Drittens gibt es einen politisierten Islam der Mittelklasse, des Basars, der Banken, der Bourgeoisie. Einen Islam der Zivilgesellschaft, der konservativ, aber gemäßigt ist. Er will sozialen Frieden und Stabilität für die Geschäfte der aufsteigenden Klassen. Dieser Islam gibt Grund zu Optimismus, weil er „Exkommunikation und Explosion“ ablehnt. Am deutlichsten sichtbar ist seine Wirkunsgform bisher vor allem in der Türkei, in Form der AKP. Der Verzicht dieser Partei, die frühere islamistische Formationen beerbt, auf zentrale Elemente der Ideologie – keine Wiedererrichtung des Kalifats, keine Schariaherrschaft – ist etwas Neues.

Ob das türkische Modell sich auch in Tunesien durchsetzen wird, unter Führung von Raschid Ghannouchi, wird interessant zu beobachten sein.

Was wir derzeit erleben, ist der Kampf zwischen den drei Linien des politischen Islams. Für die Muslimbrüder wird es entscheidend sein, wie sie sich mit den beiden anderen Islamismen – dem Islam der Petrodollars und dem von „Explosion und Exkommunikation“ auseinandersetzen.

Al-Azms Heimat Syrien, sagte er in Berlin, werde nicht islamistisch. Nach einer Phase des Chaos, ist er sich sicher, werden sich „bei uns die Moderaten durchsetzen“. Der Business-Islam der Bourgeoisie wird sich gegen Dschihadisten und Petro-Islam durchsetzen: „In Syrien hat ein Islam, der Schulen und Universitäten schließt und Frauen die Arbeit verbietet keine Chance.“

Der Moderator schloß mit den Worten an: „Ihr Wort in Gottes Ohr, verehrter Professor.“

 

Die große Leere im Herzen des Terrors

Erst wollte ich gar nichts schreiben, jetzt musste es doch sein.

Es kostet mich Überwindung, etwas zum Bostoner Terrorakt zu sagen. Das hat erstens folgenden Grund: Ich liebe diese Stadt, seit ich vor vier Jahren ein Semester dort verbracht habe. Täglich bin ich damals an den Stellen vorbeigekommen, an denen sich erst ein versuchter Massenmord, dann eine gespenstische Jagd auf die Täter ereignete. Boston und Cambridge, Gründungsorte Amerikas, stehen für das große Versprechen der Vereinigten Staaten an die Welt: Freiheit, Unabhängigkeit, ungebremste Gelehrsamkeit. Es gibt dort an den 50 Colleges und Universitäten ein unvergleichliches Klima der Neugier und Offenheit, das die ganze Welt anzieht. Die klügsten jungen Leute des Globus sind dort, aus Asien, aus Europa, und auch aus der arabischen Welt.

In gewisser Weise ist es nur logisch, genau dort eine Tat des Hasses und des Ressentiments zu begehen, wie die Brüder Zarnajew es am Marathon-Montag getan haben.

Aber eben darum habe ich es – zweitens – satt, mich mit solchen Typen weiter zu beschäftigen.

Mehr als ein Jahrzehnt halten uns die mörderischen Loser von den Rändern der islamischen Welt nun schon in Atem. Immer wieder beugen wir uns über ihre Familiengeschichten, ihre Identitätsprobleme, ihre Zerrissenheit, ihre verbrecherischen Mentoren und ihren kaputten Glauben, um zu verstehen, ach zu verstehen, warum, warum nur, sie tun was sie tun. (In der ZEIT von morgen macht der Kollege Yassin Musharbash einen sehr guten Versuch.)

Immer wieder wägen wir ab, ob ihre mörderische Wut etwas mit „dem Islam“ zu tun hat, und wenn ja wie viel. Oder ob das alles nur ein Vorwand ist für eine kleine miese Wut, die ganz woanders herrührt. Irgendjemand fordert dann, die friedliebenden Muslime sollten sich bitte distanzieren (habe ich früher selber getan). Worauf jemand anders sagt, das sei nun wirklich Schwachsinn, und im übrigen sei es bereits geschehen (habe ich auch schon festgestellt, in Korrektur meiner ersteren Forderung).

Ich habe es jetzt wirklich satt. Mir reicht’s. Ich weiß genug – mehr als ich je wissen wollte – über die Attas, die Merahs, die Al-Awlakis, und jetzt eben über die Zarnajews. Ich muss sagen, es kommt nichts menschlich Interessantes dabei heraus.

Immer derselbe Befund: gekränktes Machotum, kulturell-religiöser Phantomschmerz nach Verlust der alten Heimat/des traditionellen Islam, Nicht-Ankommen in der modernen Gesellschaft, Verschwörungstheorien über den Westen/die Amis/die Juden, Unterlegenheitsgefühle wegen des katastrophalen Zustands weiter Teile der islamischen Welt, eine Opfermentalität wegen der Lage Palästinenser/der Tschetschenen/der Araber, Hass auf Frauen, Hass auf Juden, Hass auf alles Moderne/Westliche, nicht zu vergessen: Testosteron, Testosteron, Testosteron.

Es interessiert mich nicht mehr. Als ich heute in der New York Times las, der Onkel von Tamerlan Zarnajew habe gesagt, Tamerlan hätte darunter gelitten, „dass dem Islam das Image anhaftet, eine gewalttätige Religion zu sein“, musste ich laut lachen. Was für ein Idiot!

Aber er ist nicht allein. Die ganze Familie macht bei der Rechtfertigung eines Massenmordes mit: Mutter und Vater, die ihre Kinder im Stich gelassen haben, decken nachträglich alles zu mit Verschwörungstheorien über das FBI und Lügen über die Nettigkeit und Vorbildlichkeit ihrer Söhne. Abgründig.

Die Sache mit dem Islam ist dabei eigentlich nicht sehr kompliziert: Überall da, wo der Islam die Religion einer Verlierergesellschaft ist (große Teile der arabischen Welt, Teile Afrikas von Nordnigeria über Mali bis Somalia, Afghanistan, Pakistan und eben auch Tschetschenien/Dagestan), gibt es die Neigung zu extremer Gewalt. Dort liefert der Islamismus dann eben die Rechtfertigung für Massenmord, so wie es historisch schon alle möglichen anderen Ideologien getan haben. Wo der Islam Teil einer Aufsteigerkultur ist, zeigt sich seine zivilisatorische Seite – wie etwa heute in der dynamischen Türkei, in erfolgreiche Teilen Asiens wie Malaysia und Indonesien (natürlich nicht ohne Kämpfe und Rückschläge). Man kann sich das Suren-Pingpong mit friedlichen/kriegerischen Stellen sparen: Entscheidend ist die soziale/historische Einbettung der Religion. Sie bestimmt die Auslegung.

Es ist – seien wir ehrlich – nach all den Jahren eine öde und trostlose Sache, sich damit zu beschäftigen. Trotzdem müssen es natürlich die Profiler tun, damit man Anschläge verhindern kann (ist ja auch oft genug gelungen).

Aber: Der Terrorismus der radikalen Verlierer wird weitergehen, auch wenn der Krieg gegen ihn längst gewonnen ist. Er wird sich eines Tages totlaufen, wie die fürchterliche Welle des Anarchismus an der Wende zum 20. Jahrhundert. Ruhigbleiben und weitermachen ist die Parole. Die gern gestellte Frage, „warum sie uns hassen“, lege ich für meinen Teil ad acta.

Leider haben die Zarnajews mit ihrem Massenmord/Amoklauf das Maximum erreicht: eine ganze Region für eine Woche lahmgelegt, eine ganze Nation pausenlos über ihre Bildschirme gebeugt. Unberatene Kommentatoren (leider auch in der ZEIT), die gleich von Al-Kaida raunten, als sie noch nichts wissen konnten. Zwei verachtenswerte Menschen wurden durch Twitter, den 24-hour-newscycle und eine hysterische Polizeiaktion ins übermenschlich Böse hinaufskaliert. Mehr geht nicht. Glückwunsch. Operation gelungen.

Ich habe das dumpfe Gefühl, die nächsten radikalen Verlierer schon zu kennen, die Tamerlan und Dschochar nacheifern werden.

 

 

Wandel braucht Stabilität. Ein Zwischenruf zur Russland-Debatte

Ilja Kalinin ist Doktorand der Politischen Wissenschaft an der Heidelberger Universität. Er schickt mir diesen Beitrag zu unserer Debatte über Werte und Interessen in der der deutschen Außenpolitik.

Sehr geehrter Herr Lau,

Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass Interessen nicht von Werten zu trennen sind, da sich unsere Interessen dann am effektivsten durchsetzen lassen, wenn man sich mit seinen internationalen Partnern auf ein gemeinsames Wertefundament stützen kann. Ich möchte dieses Argument um eine Perspektive ergänzen, nach der Interessen immer auch „Ideen von Interessen“ sind. Was eine Gesellschaft als ihre Interessen definiert, hängt stark von der Kultur dieser Gesellschaft ab. Interessen sind somit oft keine objektiven Gegebenheiten, sondern können sich je nach Gesellschaft unterscheiden. Die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft, mit der wir Jahrzehnte des Wohlstands, aber auch Friedens in Freiheit assoziieren, basiert unter vielem anderen auf Rechtsstaatlichkeit, Effizienz und Innovationsfähigkeit, die wiederum nicht von sich aus existieren, sondern in unterschiedlichsten Bereichen des Lebens unserer Gesellschaft hervorgebracht und gestützt werden müssen: Bildung, Religion, Politik, Wirtschaft und weitere. Diese Werte stabilisieren und konstituieren unseren liberalen Rechtsstaat. Sie geben aber auch die Optionen für die Außenpolitik vor, aus denen wir überhaupt erst wählen können. Die Wertegebundenheit unserer wirtschaftlichen Interessen beschränkt sich nicht auf den Nationalstaat, sondern sensibilisiert die an der Förderung des Außenhandels interessierte deutsche Außenpolitik auch für die Notwendigkeit der Verbreitung dieser Werte im Ausland. Das Phänomen der gesellschaftlichen „Entbettung der Wirtschaft“ gaukelt die scheinbare kulturelle Voraussetzungslosigkeit des wirtschaftlichen Erfolgs nur vor.

Der heutzutage in Deutschland vorhandene weitgehende Konsens über zentrale Werte darf jedoch nicht die parteipolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit um die „richtige“ Auslegung der Verfassungsnormen und der identitätsstiftenden Werte vergessen machen (Frauenrechte, Hundertfünfundsiebziger usw.). Diese legen ein Zeugnis davon ab, dass die auf dem Papier geschriebenen Normen und Werte immer erst mit Inhalten gefüllt werden müssen und einer permanenten gesellschaftlichen Aushandlung unterworfen sind. So sprach Gustav Heinemann in seiner Rede zum 25-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes: „Diese Ordnung ist kein Heilsplan, sondern wie alles irdische Tun nur unvollkommenes Menschenwerk. Ihre Würdigung kann auch nicht verschweigen, dass außerdem zwischen Verfassungsaussage und Verfassungswirklichkeit ein Graben klafft. […] Die Einheit von Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat bedarf ständiger Bemühung.“ Wenn aber selbst die im Grundgesetz niedergeschriebenen Normen und Werte eine permanente Interpretation erfordern, wie kann man dann auf internationaler Ebene von der Universalität von Werten ausgehen?

Ein Bewusstmachen der Historizität und Prozeduralität von Werten bedeutet kein kulturrelativistisches Plädoyer für eine rein pragmatische, allein an der Mehrung des wirtschaftlichen Nutzens orientierte Außenpolitik. Beide Ebenen, Interessen und Werte, sind zwei Seiten einer Medaille. Sie bedingen einander und sind stetem Wandel unterworfen. Es wäre vor diesem Hintergrund problematisch, wenn man den äußerlichen Ist-Zustand von autoritär regierten Staaten pauschal als einen von den dortigen Eliten gewünschten Endzustand stilisiert. Man läuft dadurch Gefahr, alle, auch die sinnvollen Schritte zur Stabilisierung des politischen Systems als negativ zu verurteilen. Dabei braucht jede Entwicklung zunächst einmal Stabilität. Nur auf einem stabilen Fundament kann ein stabiles Haus errichtet werden.

Neben der notwendigen Verhältnisbestimmung von Werten und Interessen gibt es zwei weitere Begriffe, deren außenpolitisch relevantes Verhältnis zueinander näher bestimmt werden sollte: Kultur und Politik. Es gibt dazu ein weises Zitat von Daniel Patrick Moynihan: „Die zentrale konservative Wahrheit lautet, dass Kultur, nicht die Politik, den Erfolg einer Gesellschaft bestimmt. Die zentrale liberale Wahrheit lautet, dass Politik eine Kultur verändern und vor sich selbst retten kann.“ Diese beiden Wahrheiten treffen wir einerseits im Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, und andererseits in Kants „Volk von Teufeln“, dessen Bürger mit Hilfe der Politik in Frieden koexistieren können. Wenn man der Politik dieses domestizierende Potential zutraut, dann mag man auch zu der von Ihnen getroffenen Aussage gelangen, wonach Eliten in manchen Staaten ihre Gesellschaften schlichtweg nicht öffnen wollen. Diese Sichtweise legt also die Verantwortung allein auf die politischen Eliten und blendet aus, worauf diese Eliten ihre Macht stützen (es ist nicht überall Gewalt, Manipulation von Wahlen geht auch nicht immer und allein von den Eliten aus). Eine Außenpolitik des Drucks auf die autoritären politischen Eliten bis hin zu einer Außenpolitik des Regimewechsels ist die Folge dieser liberalen Wahrheit. Oft ist die Nachhaltigkeit einer solchen Politik zweifelhaft, da der Einfluss der Kultur auf die Politik unterschätzt wird. Wäre die politische Kultur des postkommunistischen Russlands demokratiestützend gewesen (was vor dem Hintergrund der Jahrzehnte währenden kommunistischen Diktatur ein Wunschdenken war), hätte Russland die wirtschaftliche Krise der 1990er Jahre möglicherweise ohne Hinwendung zum gewohnt autoritären Paradigma überstanden. Nach einer kurzen Phase demokratischer Euphorie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ging die russische Gesellschaft, einer totalen Ideologie überdrüssig, zum ebenso totalen Pragmatismus über. Eine wertebewusste westliche Außenpolitik muss diesen Wandel akzeptieren. Diese gewisse Akzeptanz der russischen Verhältnisse bedeutet aber weder Resignation noch ein Sich-abfinden. Akzeptanz hat lediglich die Funktion, die russische Wirklichkeit präzise und unvoreingenommen wahrnehmen zu können, um die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zu Ausgangspunkten für Veränderungsprozesse werden zu lassen.

Den Demokratisierungsprozess einer Gesellschaft kann man mit der Vorbereitung von Leichtathleten zum Hochspringen vergleichen. Es bringt den Sportlern nichts, wenn der Trainer den Stab zu niedrig ansetzt. Sie werden nicht besser und lernen auch nicht, miteinander zu wetteifern. Logischerweise kann der Trainer auch nicht per Vertrag mit anderen Mannschaften garantieren, dass seine Leichtathleten eine bestimmte Leistung erbringen werden. Mit der Demokratie verhält es sich nicht anders als mit einem sportlichen Wettkampf. Dabei kann und soll der in dieser Sportart erfahrene Westen Russland ermutigen, mehr Demokratie zu wagen. Insofern war Frau Merkels Hinweis an Wladimir Putin, kritikfähiger zu sein, in der Perspektive richtig. In der Tat bildet sich in Russland nur langsam eine gesellschaftliche Nachfrage nach Beachtung von Werten der Verfassung durch die Politik heraus. Diese Nachfrage ist noch relativ gering und lokal begrenzt. Der mittlerweile in Deutschland etablierte Verfassungspatriotismus in seiner Funktion als individueller Verfassungsschutz ist dem Gros der russischen Gesellschaft noch fremd. Auch scheint die Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Wertewandels eher unsicher zu sein, da Russlands „Wirtschaftswunder“ einzig und allein auf Rohstoffexporten basiert. Die konkrete Unterstützung Russlands beim Aufbau eines breiten Mittelstandes wäre eine nachhaltige Investition in die russische Demokratie, die aber freilich von Russland gewollt und gefördert werden muss. Ich bin sicher, dass westliches, insbesondere deutsches, Engagement in diesem Bereich mehr als willkommen wäre und die russische Führung zu Zugeständnissen etwa im Bereich der gemeinsamen Korruptionsbekämpfung bereit wäre.

Es sollte nicht darum gehen, auf der Ebene der Eliten um Werte und Worte zu streiten. Eine ritualisierte Form der Kritik wird mit der Zeit als Instrument der Einflussnahme wirkungslos, so dass die wirklich berechtigte Kritik an tatsächlichen russischen Fehlentwicklungen im Rauschen des Kritikrituals untergeht. Die russische Autokratie hat sich seit Jahrhunderten u.a. durch den Mythos des Mongolenjochs (und der Rolle westlicher Staaten dabei) gegen externe Einmischungen immunisiert. Die orthodoxe Kirche spielt dabei keine unwesentliche Rolle, ist sie es doch gewesen, die Russland seit je her geeint hat. Westliche Kritik an einer zu konservativen Linie kann mit Leichtigkeit als Versuch einer Schwächung des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalts zurückgewiesen werden. Die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit ist bei einer so existentiell gestellten Frage mehr als sicher. Besser wäre es, ein gemeinsames Werteverständnis durch Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene zu schaffen. Ein Politikwandel wäre die zwangsläufige Folge des Wertewandels. Durch Kooperation wird man die ungünstige Dialektik des gleichzeitigen Ungleichzeitigen zwischen westlichen Staaten und Russland überwinden können. Kritik an Russland sollte nicht dem Zweck der Selbstvergewisserung über eigene Werte dienen. Dazu ist Russland viel zu europäisch, da es selbst seit Jahrhunderten auf die europäischen Werte ausgerichtet ist. Eine Dogmatisierung und Verabsolutierung unserer Werteverständnisse birgt wiederum die Gefahr von Glaubenskriegen. Was uns Russland vor Augen führt, ist die Voraussetzungsfülle einer werdenden Demokratie.