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Hoder: Ein Jahr in Haft

Ich kann mir die großen Worte sparen zu diesem traurigen Anlass: Der Kollege Niklas Hofmann hat in der Süddeutschen Zeitung einen gründlich recherchierten Artikel zum Fall des inhaftierten iranischen Bloggers Hossein Derakhshan geschrieben. Ich werde darin ein paar Mal mit Einschätzungen zitiert. Die maßgebliche Arbeit aber hat Niklas Hofmann alleine getan. Er hat im Gespräch mit Freunden, mit der Familie Hosseins und auch mit seinen Gegnern das bisher komplexeste Bild des traurigen Falles gezeichnet:
Wie jemand, der sich vom reformerisch gesinnten Abweichler zum loyalen Systemfreund gewandelt hatte, dennoch von eben diesem System eingebuchtet wurde. Das ist nur eines der vielen iranischen Rätsel in diesem denkwürdigen Jahr.
(Hier meine zahlreichen Beiträge zum Thema.)

 

Warum der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist

Erstmals hat ein höherer amerikanischer Beamter in Afghanistan seinen Job hingeschmissen, weil er den Sinn des Krieges nicht mehr sieht. Matthew Hoh, ein ehemaliger Marine-Soldat, der den zivilen Aufbau in einer Provinz im Süden verantwortete, hat einen vierseitigen Brief an das State Department geschrieben, der sofort Aufsehen erregte. Richard Holbrooke, der Sonderbotschafter der amerikanischen Regierung für Afghanistan und Pakistan, versuchte Hoh zu halten, doch der blieb bei seiner Kündigung.

Sein zentrales Argument ist, dass die Vereinigten Staaten zu einer Partei in einem 35jährigen Bürgerkrieg geworden seien.

Aus der Washington Post:

„I’m not some peacenik, pot-smoking hippie who wants everyone to be in love,“ Hoh said. Although he said his time in Zabul was the „second-best job I’ve ever had,“ his dominant experience is from the Marines, where many of his closest friends still serve.

„There are plenty of dudes who need to be killed,“ he said of al-Qaeda and the Taliban. „I was never more happy than when our Iraq team whacked a bunch of guys.“

But many Afghans, he wrote in his resignation letter, are fighting the United States largely because its troops are there — a growing military presence in villages and valleys where outsiders, including other Afghans, are not welcome and where the corrupt, U.S.-backed national government is rejected. While the Taliban is a malign presence, and Pakistan-based al-Qaeda needs to be confronted, he said, the United States is asking its troops to die in Afghanistan for what is essentially a far-off civil war.

Hier ein Interview aus Al-Jazeera:

 

Westerwelle in Washington

Ich bin für anderthalb Tage mit dem neuen Außenminister in Washington. (Ein größerer Bericht wird folgen.) Westerwelle stellt sich nur zwei Tage nach dem großen Auftritt der Kanzlerin der amerikanischen Führung vor. Obama trifft er nicht – was protokollarisch auch sehr merkwürdig wäre. Aber Hillary Clinton hat immerhin eine dreiviertel Stunde Zeit für ihn.

Der Neue tastet sich noch sehr vorsichtig durch die Themen – Afghanistan, Iran, Klimagipfel von Kopenhagen, Weltwirtschaftskrise  – und natürlich Opel/GM. Merkwürdige Ironie: Westerwelle, der immer gegen die Opelretterei war, muss nun hier in Washington den Anwalt des deutschen Steuerzahlers geben, der von GM das Geld zurückfordert, das die Vorgängerregierung ohne seine Zustimmung zur Verfügung gestellt hat.

So richtig Spaß macht das Regieren da erst mal nicht, auch wenn Westerwelle sehr freundlich aufgenommen wird und der Himmel über dem Capitol, wo er wichtige Senatoren trifft, in schönstem Blau strahlt.

Merkels Besuch hier und ihre große Rede vor beiden Häusern des Kongresses wirkt jetzt im Licht des erneuten Opel-Debakels ziemlich neben der Spur. Da redet die Kanzlerin von Dankbarkeit und dem Geschenk der Freiheit, von ihren Sehnsüchten als DDR-Bürgerin nach Jeans und Reisen – und dabei platzt gerade der Deal zwischen GM und Magna, für den sie ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen hat. Sie darf sich schon ein wenig verschaukelt vorkommen.

Allerdings beharren amerikanische Regierungskreise hier darauf, dass die Obama-Administration nicht über das Platzen des Deals informiert war, als sie Merkel am Dienstag empfing. Und wenn man davon gewußt hätte, so heißt es in Washingtoner Kreisen, dann hätte man das sicher nicht an eben jenem Tag publik gemacht, als Merkel ihre Rede hielt.

Wie dem auch sei: Merkels großer Auftritt ist vollkommen ramponiert.

Allerdings muss sich die Regierung auch fragen, ob sie nicht einen Riesenfehler gemacht hat, als sie sich derart auf den Magna-Deal und das Retten von Arbeitsplätzen bei Opel festgelegt hat.

Jetzt ist sie extrem verwundbar: Die Nordrhein-Westfalen-Wahl darf nicht verloren gehen, also wird man alles tun, um das Bochumer Opel-Werk zu retten. Das wissen die GM-Manager natürlich auch, und sie werden den Preis rauftreiben. Wie das vor allem die FDP mit ihrem Vizekanzler Westerwelle und dem Wirtschaftsminister Brüderle vertreten wird, die doch beide immer die Ordnungspolitik hochgehalten haben, wird interessant zu beobachten sein.

Über Guido Westerwelles Aussenpolitik ist einstweilen nur zu sagen, dass sie sehr von der deutschen Innenpolitik überformt wird.

 

Thilo Sarrazin antwortet

Dr. Thilo Sarrazin schreibt mir in einem Leserbrief zu meiner Analyse des Streits um seine Äußerungen:

Martin Spiewak und Jörg Lau mögen bitte „Die fremde Braut“ von Necla Kelek, „Der Multikulti-Irrtum“ von Seyran Ates und Arab Boy von Güner Balci lesen. Necla Kelek und Seyran Ates haben übrigens meinen Aussagen öffentlich zugestimmt.

Im übrigen hatte ich gar nicht das Gefühl, als ich das Interview gab, eine besondere Zivilcourage zu besitzen, insofern gebe ich Jörg Lau recht. Im Nachhinein bin ich allerdings über meine Naivität erstaunt.

Zum „Fall out“ des Interviews zählen: Der Versuch mich aus der Bundesbank zu drängen, ein Vergleich mit Hitler und Goebbels durch den Generalsekretär des Zentralrats der Juden, ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung, ein Parteiausschlussverfahren aus der SPD, Kübel voller Häme aus Teilen der liberalen Presse, bis die massive Leserbriefreaktion zu Besinnung führte. Das halte ich aus, weil ich ausreichend in mir selbst ruhe, materiell gesichert bin und keine weiteren Ämter anstrebe. Wer sonst hält das aus oder setzt sich dem freiwillig aus?

Nachdenklich sollte stimmen, dass ich offenbar ein weitverbreitetes Artikulationsbedürfnis angesprochen habe, das von den Medien und der Politik bisher nicht bedient wurde. Ich sehe hier durchaus einen Systemmangel. Kein Wunder, dass viele „demokratische Diskurse“ über die Köpfe der Beteiligten hinweg gehen.

Mit freundlichen Grüßen,

(Unterschrift)

 

Sorry

Wegen diverser Dienstreisen wird es in den kommenden Tagen kaum Input geben. Es folgen aber Berichte mit dem unvergleichlichen Flair des Peter-Stuyvesant. Versprochen.

 

Wie das Amt sich auf Westerwelle vorbereitet

Mein Stück aus der ZEIT von morgen, Nr. 45, S. 5:

Am Werderschen Markt in der Mitte der Hauptstadt haben sie für den Neuen schon seit Wochen großräumig Platz geschaffen. Steinmeiers Sprecher Jens Plötner ist nun Botschafter in Colombo, sein Politischer Direktor Volker Stanzel vertritt Deutschland ab sofort in Tokyo, sein Staatssekretär Reinhard Silberberg in Madrid. Die Regale sind leer, die Familienfotos entfernt: Raum für neue Gedanken, Gelegenheit für überraschende Karrieren!
Kaum jemand hier hatte nämlich Zweifel, dass Guido Westerwelle als vierter FDP-Mann in der Geschichte der Bundesrepublik das Auswärtige Amt in Beschlag nehmen würde. Und selbst jene Berliner Diplomaten, die nicht so recht an Westerwelles außenpolitische Sendung glauben, wären wohl ein bisschen beleidigt gewesen, wenn er doch lieber Finanz- oder Superminister geworden wäre, statt sich in die Ahnenreihe der Scheel, Genscher und Kinkel zu stellen. Unterdessen arbeiten die Fachabteilungen seit Wochen daran, für den Neuen Dossiers zu erstellen, die ihm die Welt erklären – eine Art Gebrauchsanweisung für den Globus. »Wir sind jederzeit in der Lage«, sagt ein führender Diplomat, »Herrn Westerwelle von null auf hundert zu bringen.«
Bei null müssen sie zwar nicht anfangen. Westerwelle hat sich als Oppositionsführer im Bundestag immer wieder in außenpolitische Debatten eingeschaltet – zu Afghanistan (für den Einsatz), zum amerikanischen Raketenschild (dagegen), zu Iran (für harte Sanktionen), zum Nahen Osten (gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon). Und er hat das ganze letzte Jahr damit verbracht, vorauseilend dem Verdacht entgegenzuwirken, es fehle ihm das staatsmännische Stresemann-Gen. Er hat kluge außenpolitische Interviews gegeben und eine ausgefeilte Rede vor Berliner Diplomaten gehalten. Hans-Dietrich Genscher hielt währenddessen seine segnende Hand über ihn, damit auch der Letzte merkte, dass dieser Guido sein geliebter Sohn sei, an dem er Wohlgefallen habe. Weiter„Wie das Amt sich auf Westerwelle vorbereitet“

 

Erdogan: „unser Freund Achmadinedschad“

Wow. Was der türkische Premier Erdogan dem Guardian in einem Interview sagte, ist ein Knaller.

Machmud Achmadinedschad sei „ohne Zweifel unser Freund“. Dafür werden die führenden Nationen der EU, Frankreich und Deutschland, mit Kritik nicht geschont für ihre abwartende Haltung gegenüber der Türkei. Der Guardian fasst zusammen:

Friendly towards a religious theocratic Iran, covetous and increasingly resentful of a secular but maddeningly dismissive Europe: it seems the perfect summary of Turkey’s east-west dichotomy.

Erdogan wirbt folgendermassen für die türkischen EU-Aspirationen:

„Being in the European Union we would be building bridges between the 1.5bn people of Muslim world to the non-Muslim world. They have to see this. If they ignore it, it brings weakness to the EU.“

Der türkische Präsident Abdullah Gül und Erdogan gehörten zu den ersten Staatsführern, die Achmadinedschad zu seiner „Wahl“gratulierten:

Erdogan hat sein Gastgeschenk schon vorher im Guardian ausgepackt:

He poured cold water on western accusations that Iran is seeking a nuclear weapon, saying: „Iran does not accept it is building a weapon. They are working on nuclear power for the purposes of energy only.“

Das muss man sich schon auf der Zunge zergehen lassen. Unser Nato-Partner Türkei vertritt die offizielle iranische Position. Selbst die Russen sind um mehr Distanz bemüht, obwohl sie oft genug Sanktionen verschleppt und verwässert haben.

Wenn das der versprochene „Brückenbau“ zur islamischen Welt sein soll, dann wollen wir darauf lieber verzichten.

 

Lob des Internets

Ich verfüge dank dem Relaunch der ZEIT-Blogs über ein wunderbares Instrument namens Blog Stats, mit dem ich Euch, liebe Mitblogger, komplett durchleuchten kann. Ich sehe zum Beispiel, welche Suchbegriffe euch hierher geführt haben.

Und da ergibt sich heute diese Rangliste des gestrigen Tages, die mich denn doch  sehr zum Grübeln bringt. sarrazin, jörg lau, schwuler außenminister, auspeitschung, schwuler aussenminister, ausgepeitscht, vietnamesen + gewalt??? Wow.

Bild 2

 

Hassprediger lobt Religionsfreiheit

Na bitte. Erstaunlicher Wandel eines Hasspredigers aus Hamburg, den der SPIEGEL dokumentiert:

Mohammed al-Fasasi hat offenbar der Gewalt abgeschworen. Der marokkanische Prediger, der in seiner Heimat wegen der Anschläge in Casablanca 2003 zu 30 Jahren Haft verurteilt wurde, wendet sich in einem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt, an alle Muslime in Deutschland und bekennt darin, er habe sich „vergaloppiert“ und sei „über das Ziel hinausgeschossen“.

1999 und 2000 hatte er als Imam in der Hamburger Kuds-Moschee (heute Taiba-Moschee) noch dazu aufgerufen, „die Herrschaft der Ungläubigen zu beseitigen, ihre Kinder zu töten, ihre Frauen zu erbeuten und ihre Häuser zu zerstören“. Er gehörte zu den Bekannten von drei Todespiloten des 11. September 2001.

Nun schreibt Fasasi: „Deutschland ist kein Kampfgebiet“. Jeder Einwanderer habe einen Vertrag mit dem deutschen Staat, den es einzuhalten gelte. In Deutschland herrsche „tatsächliche Religionsfreiheit, wie es sie in vielen islamischen Ländern nicht gibt“. Dass allein „in Hamburg 46 Gebetsräume“ existierten, sei ein Beweis für die Toleranz des deutschen Staates gegenüber den Muslimen, „weil es in keinem islamischen Land eine vergleichbar große Zahl von Kirchen in einer Stadt gibt“.

Im Hinblick auf das deutsche Engagement in Afghanistan mahnt Fasasi, die Ablehnung der deutschen Politik dürfe nur mit friedlichen Demonstrationen betrieben werden, „die Stärke des Arguments liegt nicht in der Gewehrkugel“.

Er fordert die Muslime auch dazu auf, nicht von staatlichen Zuwendungen zu leben. „Es ist besser, dass der Muslim von seiner Hände Arbeit und seiner Stirne Schweiß isst, denn dieser Bissen ist schmackhaft und süß“, schreibt der Prediger.

 

Neues aus der Parallelgesellschaft

Allerdings nicht aus der unsrigen, sondern aus der chinesischen Community New Yorks. Dort wird das traditionelle Kantonesisch abgelöst durch Mandarin, den Dialekt der Mehrheit der Neu-Einwanderer aus China.

Nun lassen selbst Kantonesisch sprechende Eltern ihre Kinder in Mandarin unterrichten, damit diese sich in den New Yorker chinesischen Zirkeln verständigen können.

Alteingesessene Sino-Amerikaner finden sich in ihrem eigenen Viertel nicht mehr zurecht, weil dort Mandarin dominant geworden ist.

Und niemand findet diese Parallelgesellschaft problematisch.

“I can’t even order food on East Broadway,” said Jan Lee, 44, a furniture designer who has lived all his life in Chinatown and speaks Cantonese. “They don’t speak English; I don’t speak Mandarin. I’m just as lost as everyone else.”

Now Mandarin is pushing into Chinatown’s heart.

For most of the 100 years that the New York Chinese School, on Mott Street, has offered language classes, nearly all have taught Cantonese. Last year, the numbers of Cantonese and Mandarin classes were roughly equal. And this year, Mandarin classes outnumber Cantonese three to one, even though most students are from homes where Cantonese is spoken, said the principal, Kin S. Wong.

Some Cantonese-speaking parents are deciding it is more important to point their children toward the future than the past — their family’s native dialect — even if that leaves them unable to communicate well with relatives in China.

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