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Kurz und klein (4): Assange-Chat, Open Channel und Wikileaks-Teetassen

+++Assange-Chat+++

Die Entscheidung des britischen Gerichts war noch ganz frisch. Julian Assanges Auslieferung nach Schweden wurde für zulässig erklärt. Da chattete der Wikileaks-Gründer bereits live mit der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet. Das englische Transkript des Chats gibt es bei WLCentral. Unter anderem wurde er gefragt, wie er mit der Gerichtsentscheidung umgehen wird, ob er sich als Freiheitskämpfer definiert, welche weiteren Veröffentlichungen bevorstehen, inwieweit er sich und Wikileaks in die arabischen Aufstände involviert sieht. Assange beteuerte seine Sorge vor einer Auslieferung an die USA und wiederholt: Wikileaks wird weiter existieren, auch wenn er persönlich an seiner Arbeit gehindert werden sollte.

Assange hat sich aber natürlich nicht nur in Chats, sondern auch vor den Kameras der Weltöffentlichkeit geäußert und klar gestellt, dass er die Entscheidung nicht akzeptieren werde:


Unterdessen hat der britische Telegraph noch eine ganz praktische Timeline der Vorwürfe zusammengestellt. Wann Assange was wo und wie verbrochen haben soll. Angeblich jedenfalls.

Auch empfehlenswert in diesem Kontext: Der Blogger und Rechtsanwalt Glenn Greenwald von Salon.com äußerte sich bei Democracy Now! zur Gerichtsentscheidung. Democracy Now! ist das US-Politmagazin im nicht kommerziellen Rundfunk.  Der Talk mit Greenwald beginnt etwa ab Minute 14. Es geht allerdings nicht nur um die Entscheidung zur Auslieferung, sondern auch um den HBGary-Skandal, den wir hier schon unter dem Titel Guerillakrieg im Netz diskutiert haben.

+++Open Channel+++

Die Zahl der Whistleblowing-Portale wächst weiter. New York Times und Spiegel denken über eigene Angebote nach. WAZ und Al Jazeera haben unlängst eigene Seiten gestartet. Jetzt hat auch der amerikanische Fernsehsender MSNBC nachgelegt.

Mit Open Channel auf msnbc.com ist eine weitere Whistleblowingstruktur eines großen Medienhauses am Markt. Unser Whistleblowing-Index der letzten Woche, mit einer aktuellen Übersicht aller verfügbaren Angebote, wird es hier in Kürze als Update geben.

+++Wikileaks-Teetassen+++

Vor wenigen Tagen ging die Tabelle mit den erfolgreichsten europäischen Fußballclubs rum. Vorne lagen erwartungsgemäß der FC Barcelona, Real Madrid, Manchester United und der FC Bayern München. Es ging allerdings nicht um Tore und Punkte, sondern um Merchandising, also den Verkauf von Clubdevotionalien wie Trikots, Schals, Bettwäsche mit Vereinslogo oder Wimpeln für den Autospiegel. Die Vereine verkaufen ihre Stangenware mittlerweile von Ecuador bis Iserlohn, von Bangkok bis Bernau. Und machen damit jede Menge Geld.

Auch Wikileaks ist jetzt in das Merchandising Business eingestiegen. Nachdem es ja bereits wiederholt Mutmaßungen über eine finanzielle Misere bei Wikileaks gab, scheint man sich neue Ertragsfelder erschließen zu wollen. Ab sofort gibt es die Revolution also hautnah. Der Subversive von Welt kann im Wikileaks-T-Shirts joggen gehen oder aus Teetassen mit Assange-Konterfei Tee Marke Umsturz Second Flash oder Earl Grey als Top Secret Mischung trinken.

 

Die Familie des Diktators

Die Lage in Libyen eskaliert. Der seit Jahrzehnten herrschenden Diktator Muammar al-Gadahfi verliert die Kontrolle. In Tripolis und anderswo brennen Regierungsgebäude. Einer der vielen Söhne des Diktators droht im Staatsfernsehen mit einem Kampf bis zum letzten Mann.

Der britische Guardian hat nun zahlreiche Depeschen zusammengestellt, die einen Einblick in die Diktatorenfamilie Gadahfi geben. Wer nach Abgründen sucht, ist hier richtig. Allen sei noch mal in Erinnerung gebracht, dass die EU-Staaten noch vor Tagen mit dem libyschen Staat über die sogenannte Flüchtlingsproblematik verhandelten. Man hatte dem Herrscher weitere Millionen bereit stellen wollen. Ihr Verwendungszweck: Das Wegfischen von afrikanischen Flüchtlingen auf ihrem Seeweg nach Europa.

Heute Abend wurden offenbar Demonstranten aus Flugzeugen beschossen. Die Europäische Union diskutierte gleichzeitig Sanktionen. Eine Entscheidung gab es nicht.

 

Wikileaks ist tot! Es lebe das Whistleblowing

Vor wenigen Wochen machte ein Kondom die Runde. Es war ganz offenbar gebraucht. Jemand hatte es dennoch aufbewahrt. Später wurde es dann fotografiert, jetzt ist es ein Beweisstück und zirkuliert durch die Presse. Weltweit. Eine eher seltene Karriere für ein Präservativ. Aber die sexuellen Praktiken eines gewissen Julian Assange machen es möglich.

Weltberühmtes Kondom

Soweit kolportiert wurde, soll jener Julian Assange dieses Kondom vorsätzlich beschädigt haben, um einen gefühlsechteren Geschlechtsverkehr ausüben zu können. Was, so wurde weiter kolportiert, nicht ganz im Sinne der temporären Partnerin war.

Ein Drama biblischen Ausmaßes jedenfalls, das sich da vor wenigen Monaten in Schweden ereignete. Vollkommen klar, dass umgehend Titelseiten freigeräumt wurden. Was könnte es Wichtigeres geben, als über jenes shakespear’sche Dramoulette zu berichten?

Und der Mann mit dem zerrissenen Kondom spielte mit, bediente die Mechanismen des Boulevards, schwadronierte von einer Einkerkerung in Guantanamo oder gleich von der drohenden Exekution durch die US-Regierung.

Soweit, so uninteressant. Angereichert von Insiderauskünften, die die Ränkespiele des ehemaligen Zweimann-Betriebs Wikileaks in ein neues Licht rücken wollen, lenkt dieses Boulevardgetöse nur noch ab.

Es ist längst an der Zeit, wichtigere Fragen zu diskutieren. Wird es eine dauerhafte Whistleblowingkultur geben? Was kommt nach Wikileaks? Welche Erben sind in Sicht? Was wird sie von Wikileaks unterscheiden? Können sie dazu beitragen, eine lokale oder regionale, eine nationale oder internationale Leakingkultur zu etablieren? Welche Gefahren drohen? Wie stellen die unterschiedlichen Plattformen den wichtigen Quellenschutz sicher? Wer trennt bedeutende Dokumente, die auf politische oder wirtschaftliche Verbrechen hinweisen von hinterhältigen Denunziationen?

In den nächsten Wochen werden hier ausgewählte Plattformen ausführlicher vorgestellt. Hier schon mal eine erste Übersicht.

Eine herausragende Bedeutung kommt natürlich OpenLeaks.org zu. Allein schon weil das Portal des Wikileaks-Dissidenten Daniel Domscheit-Berg momentan internationale Aufmerksamkeit erfährt. Es unterscheidet sich in seinem Ansatz fundamental von Wikileaks, da es keine eigenständige Publikation der eingehenden Whistleblowing-Dokumente beabsichtigt. OpenLeaks versteht sich als Mittler zwischen Geheimnisverrätern und anderen Organisationen – von Menschenrechtsgruppen über Gewerkschaften bis hin zu konventionellen Medien. Die Organisationen können sich bei OpenLeaks akkreditieren. Der Whistleblower kann im Gegenzug nicht nur Dokumente anonym hinterlegen, sondern auch Wünsche äußern, welcher Organisation seine Dokumente zuerst zugehen sollen.

Auch die Transparency-Unit des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera wurde in den vergangenen Wochen international bekannt. Gemeinsam mit dem britischen Guardian hatte die Transparency Unit geheime Dokumente der Nahost-Friedensverhandlungen veröffentlicht. Überraschende Verhandlungspositionen und -strategien der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde kamen ans Licht. Al Jazeera ist der bisher eindeutigste Beleg für Aktivitäten größerer Medien auf dem Gebiet des Whistlebowings.
Die New York Times und der Spiegel sollen jedoch ebenfalls über eigene Whistleblowingstrukturen nachdenken.

Einen Schritt weiter ist da bereits die WAZ-Mediengruppe mir ihrem Angebot derwesten-recherche.org. Das Angebot zielt vor allem auf die Verbreitungsregion der meisten WAZ-Zeitungen in Nordrhein-Westfalen. Ein attraktiver Ansatz, da viele Informationen oft nur eine regionale Relevanz besitzen und bei einem weltweiten Player wie Wikileaks unter Umständen untergehen würden.

Lokales Leaken ist auch das Thema der Seite BayernLeaks.de. Auch Brusselsleaks.com verfolgt den Ansatz einer regionalen Spezifizierung – allerdings im weltpolitischen Maßstab. Die Seite will sich auf Themen der europäischen Union fokussieren.

Portale wie RuLeaks, TuniLeaks, BalkanLeaks, KanariLeaks und IndoLeaks sind ebenfalls auf Regionen oder Länder spezialisiert. Allerdings beschränken sie sich teilweise auf die Auswertung bekannter Dokumente wie etwa bereits veröffentlichte US-Botschaftsdepeschen.

Einen ganz anderen thematischen Kontext bedient dagegen die Seite GreenLeaks. Dokumente, die Umweltzerstörungen oder Klimagefährdungen belegen, sollen auf GreenLeaks publiziert werden können.

Bleiben noch Portale mit einem breiteren Profil. Zum einen das bereits seit einigen Jahren existierende Cryptome.org. Die Macher von Cryptome arbeiteten anfangs mit Julian Assange zusammen, distanzierten sich dann aber nach diversen Konflikten. Bekanntheit erlangte Cryptome unter anderem mit der Veröffentlichung geheimer MI6-Dokumente.
Ebenfalls ohne thematische Spezifizierung arbeitet das Portal GlobaLeaks.

Neben den originären Leakingsportalen gibt es eine ganze Reihe weiterer Portale und Blogs, die im Umfeld von Wikileaks und Co arbeiten. Crowdleak.net gehört zu den bekanntesten Beispielen. Hier soll die Crowd nach unentdeckten News in bekannten Leaking-Dokumenten recherchieren. Auch die Depeschensuchmaschine Cablegatesearch.net will die Schwarmintelligenz nutzen, um die Auswertung der Depeschen ertragreicher zu gestalten.
Seiten wie WLcentral.org oder Leaknews.de verstehen sich dagegen eher als Nachrichtenseiten zu Whistleblowingthemen.

Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang das deutsche Whistleblowing-Netzwerk. Theorie und Praxis des Leakens werden dort umfangreich diskutiert.

Natürlich gibt es mittlerweile auch haufenweise Onlinespiele und jede Menge Trash mit Unterhaltungswert zum Thema Whistleblowing im Netz. Dazu in Kürze mehr.

Bleibt am Schluss noch ein erstes Zwischenfazit. Die Vielzahl entstehender Portale deutet auf wachsende Relevanz des Whistleblowings hin. Den Beleg ihrer Bedeutung sind alle Portale noch schuldig. Viele Fragen sind dagegen noch offen. Hat Wikileaks dem Thema Whistleblowing zum Durchbruch verholfen? Oder werden sich Staaten und Unternehmen zukünftig noch massiver schützen? Und – wer ist er eigentlich, der Whistleblower und was sind seine Motive?

Antworten und Ergänzungen gerne und jederzeit!

 

Tage des Zorns

In Libyen ist für heute der Tag des Zorns ausgerufen. Inspiriert von den Umstürzen in Tunesien und Ägypten haben die Initiatoren via Internet zur Großdemonstration gegen den selbsternannten Revolutionsführer Muammar al-Gadhafi aufgerufen. Wer sich über die Gründe des Zorns in Libyen informieren will, kann hier in diversen Depeschen stöbern. Die Depeschensuchmaschine Cablegatesearch.net macht’s möglich.

Unter anderem erklärte diese Depesche, warum die Bevölkerung in Libyen in weiten Teilen frustriert ist. Allerdings kamen die Autoren 2009 noch zu dem Schluss, dass es der Bevölkerung vor allem um ökonomische Reformen geht und nicht um politische Veränderung. Es könnte sich dabei allerdings um einen gewaltigen Irrtum handeln, wie wir vielleicht in wenigen Wochen feststellen werden. Der Brotpreis war schon häufiger Auslöser von Aufständen.

Und momentan bebt ja die gesamte arabische Region vor dem Zorn der jungen, oft perspektivlosen Jugendlichen. Wie die Beispiele Tunesien, Ägypten und momentan Bahrain beweisen. Über die dortige Situation und die Einschätzung der US-Regierung gibt ein Blogartikel des amerikanischen Nachrichtensenders ABC Auskunft, der die entsprechenden Depeschen zusammengetragen hat. Der Titel: The Cozy US-Bahrain Relationship. In Bahrain ist es heute allerdings weniger gemütlich. Während eines Polizeieinsatzes gegen friedliche Demonstranten gab es in Bahrains Hauptstadt Manama mehrere Tote.

 

Kurz und klein (3): Talkrunden, Schlammschlachten, Mitschnitte

+++Talkrunden+++

Debatten für Kurzentschlossene. In Berlin gibt es heute gleich zwei öffentliche Diskussionen zum Thema Wikileaks:

Um 17 Uhr diskutieren Mitchell Moss, Pressesprecher der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, Frank Rieger, Chaos-Computer-Club und Dr. Konstantin von Notz, MdB, netzpolitischer Sprecher der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unter dem originellen Motto „Wikileaks und die Folgen“ im Bundestag miteinander.

Um 18.30 Uhr kann man dann gleich zur Humboldt Universität rüberhasten, um Marcel Rosenbach und Holger Stark, Redakteure des Spiegel, im Gespräch mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière und dem Publizisten Jakob Augstein zuzuhören.

+++Mitschnitte+++

Bereits am Dienstag gab es in der Heinrich-Böll-Stiftung eine Wikileaks-Diskussion (MP3) mit dem Titel “Whistleblowing, WikiLeaks und die neue Transparenz“. Zu den Diskutanten zählten unter anderem OpenLeaks-Gründer und Wikileaks-Dissident Daniel Domscheit-Berg und CCC-Mitglied Constanze Kurz.

+++Schlammschlachten+++

Am gleiche Tag waren Auszüge des noch unveröffentlichten Buchs von Domscheit-Berg auf cryptome.org unautorisiert erschienen. Danach hatte eine Schlammschlacht zwischen Aassange und Domscheit-Berg eingesetzt. Es ging um eine wiederum nicht autorisierte Datenentwendung Domscheit-Bergs. Er hatte bei seinem Wikileaks-Abgang Whistleblower-Dokumente an sich genommen, da sie aus seiner Sicht in der Wikileaks-Struktur nicht mehr sicher waren. Die Debatte läuft aktuell auf der Seite Netzpolitik.org.

Fortsetzung folgt.

 

Weltmacht Wikileaks

Am Mittwochabend zeigt die ARD die Dokumentation „Weltmacht Wikileaks„. Selbstredend strahlt das Erste den Film zu einer kundenfreundlichen Zeit kurz vor Mitternacht aus. Später als 23.45 Uhr ging es aber leider nicht. Um 0.50 Uhr war bereits der Gassenhauer Breakfast of Champions geplant und die Wiederholung der 1242 Folge der Serie Sturm der Liebe um 2.40 Uhr war auch nicht mehr zu verschieben.

Am Donnerstag berichtet das ARD-Magazin Panorama alerdings bereits um 22.15 Uhr (vermutlich ein Planungsfehler) unter dem Titel Todesschützen frei, Enthüller in Haft über die Haftbedingungen der vermeintlichen Wikileaks-Quelle Bradley Manning. Der US-Gefreite sitzt seit Monaten in Untersuchungshaft. Manning wird verdächtigt, Wikileaks unter anderem die US-Botschaftsdepeschen zugespielt zu haben. Zu dem wird er beschuldigt, der Whistleblowingplattform auch das Cockpit-Video eines US-Kampfhubschraubers zugespielt zu haben. Wikileaks hatte das Video unter dem Titel Collateral Murder veröffentlicht. Es zeigt einen unbegründeten Angriff auf Passanten im Irak im Jahr 2007. Panorama berichtet morgen nicht nur über die umstrittenen Haftbedingungen Mannings, sondern auch über die Piloten des damaligen Hubschraubereinsatzes. Die schmutzige Pointe: Während Manning seit Monaten in Isolationshaft sitzt, sind sie auf freiem Fuß. Laut Untersuchungsbericht haben sie sich an die US-Kriegsregeln gehalten.

 

Kurz und klein (2): Beleidigte, Gefürchtete, Verhörte, Zaudernde

+++Beleidigte+++

Die Liebe war intensiv, aber schon damals nicht ohne Probleme. Jetzt ist sie erloschen und die Verschmähten schmähen einander.

So muss man die mittlerweile erkaltete Beziehung zwischen Wikileaks und den ehedem exklusiv berichtenden Medien New York Times und The Guardian beschreiben. Bill Keller, Chefredakteur der New York Times hatte erst vor wenigen Tagen in einem längeren Essay mit Wikileaks-Gründer Assange abgerechnet. Der Guardian brachte am Wochenende den Netzkritiker Evgeny Morozov in Stellung, um die Bedeutung von Wikileaks zu relativieren. Auch Ian Katz, Deputy Editor des Guardian, breitete am Samstag seine Version der beendeten Kooperation aus. Sensationeller Weise verwies er ausführlich auf die Bedeutung der journalistische Kompetenz des Guardian und seiner Partner, ohne die die publizistischen Erdstöße des letzten Jahres nicht denkbar gewesen wären. In ihrem Artikel Übernachtet und unrasiert beschreibt ZEIT-Autorin Khue Pham übrigens ausführlich, wie die Redakteure der ehemals exklusiven Medienpartner nun in Büchern ihre Versionen der Wikileaks-Saga erzählen.

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Neue Medienlandschaft

Wenn die Geschichte der Gegenwart geschrieben sein wird, wird in eine Zeit vor und in eine Zeit nach Wikileaks unterschieden werden. Dieser Ausspruch Assanges ist zwar wenig bescheiden, dazu auch noch ziemlich voreilig, aber vermutlich nicht komplett falsch. Das sagt Clay Shirky, einer der namhaftesten Netz- und Journalismusforscher. Aktuell arbeitet Shirky am Berkman Centre for Internet and Society.

In seinem Artikel für den britischen Guardian (WikiLeaks has created a new media landscape) stellt Shirky eines unzweideutig fest, Wikileaks ist nicht einfach nur ein neuer Akteur in der Medienlandschaft. Wikileaks hat die Medienlandschaft grundsätzlich verändert. Shirky beschreibt Wikileaks unter anderem als erste transnationale Medienorganisation, die, anders als zum Beispiel die BBC, die zwar international präsent ist, aber ihre Zentrale in London hat, ihr Zentralen im Netz hat. Eine enorme Veränderung mit Konsequenzen. Dem Wikileaks-Konzept kommt aus Shirkys Sicht zudem eine Schlüsselfunktion in modernen Demokratien zu. So, wie die Beziehungen von Privatheit und Sicherheit oder Gleichheit und Freiheit durch Spannung gekennzeichnet sind,  so ist auch das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat durch Spannung gekennzeichnet. Auf der einen Seite der Staat, der in bestimmten Bereichen das Recht auf Geheimnisse beansprucht, auf der anderen Seite der Bürger, der das Recht besitzt, zu erfahren, was der Staat und seine Repräsentanten tun. Durch die Digitalisierung und die Verbreitung des Wikileaks-Konzepts verschiebt nach Shirky das Gewicht hin zu den Bürgern.

WikiLeaks has created a new media landscape, eine Leseempfehlung fürs Wochenende.

 

Kurz und klein: Ägypten, Nobelpreis, schmutzige Bomben und Bill Keller

In Nordafrika bricht eine neue Zeit an. Doch der Westen zaudert. Die Ängste sind groß, dass anstelle verlässlicher Schurken an der Spitze außenpolitisch moderater Regime plötzlich unberechenbare Islamisten die Führung übernehmen. Auch zahlreiche Depeschen der letzten Jahre belegen, dass die USA massive Zweifel an einer erfolgreichen Opposition hatten.

WLCentral.org berichtet von weiteren Depeschen, die sich mit der Einschätzung möglicher Mubarak Nachfolger beschäftigen. Die Einschätzung des neuen Vize-Präsidenten Omar Suleiman steht dabei im Mittelpunkt. Das Wikileaks-Blog der Politseite foreignpolicy.com beschäftigt sich mit diversen Kabeln, in denen es unter anderem um führende Militärs und ihre mutmaßliche Haltung gegenüber Mubarak und seinem Sohn Gamal geht. Gamal galt lange als Erbe des seit dreißig Jahren regierenden Autokraten. Dekadente Exzesse, wie sie die Depeschen der US-Botschaft in Tunis über die dortige Herrscherfamilie vorlegten, sind nicht darunter.

Währenddessen wurde Wikileaks von einem norwegischen Abgeordneten für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Zwar dürfte der Vorschlag nur geringe Aussichten auf Erfolg haben, aber die Vorstellung, Obama und Assange beim Dinner der Preisträger zu sehen, wie sie eine kleine Plauderei abhalten, ist charmant.

Weniger charmant dagegen ist die Vorstellung, dass das Terrornetzwerk Al Quaida angeblich an einer sogenannten schmutzigen Bombe arbeitet, die in Afghanistan gegen dortiges US-Militär eingesetzt werden könnte. Das jedenfalls behauptet der britische Telegraph heute und veröffentlicht gleich eine ganze Serie mit dem Titel  Nuclear Wikileaks Cables.

Schließlich bietet NPR, National Public Radio, einen Talk mit Bill Keller, dem Chefredakteur der New York Times, in dem es um die Bedeutung von Wikileaks für Politik und Journalismus geht. Vor wenigen Tagen hatte Keller einen Essay veröffentlicht, in dem er Assange als äußerst problematischen Partner charakterisiert und die Kooperation von Wikileaks und New York Times nachzeichnet. Der Essay ist das Vorwort eines weiteren Buchs zum Thema Wikileaks, das die New York Times in diesen Tagen veröffentlicht.

Neben der Rekonstruktion der Kooperation bietet das Gespräch bei nach gut sieben Minuten einen interessanten Einblick in die Planungen der New York Times. Keller äußert sich zu der Frage, ob die New York Times selbst eine Whistleblowerstruktur anbieten wird. Das Audio gibt es hier als MP3.

 

Daten sind Revolutionäre

Es ist ein evolutionärer Sprung. Aus den Ökonischen des Netzes, in denen Nerds, Wissenschaftler und einige versprengte Journalisten versuchten, der Öffentlichkeit jahrelang klar zu machen, dass es sich beim Datenjournalismus nicht um eine neuartige Form der Datenpoesie oder lyrischen Code-Exegese handelt, hat sich der Datenjournalismus innerhalb eines Jahres auf die Titelseiten der Weltpresse katapultiert. Zwar wurde er dort nicht immer explizit thematisiert. Aber ohne die Konzepte des Datenjournalismus, ohne die rechnergestützte systematische Auswertung maschinenlesbarer Daten und ihre anschließende Darstellung in Infografiken, wären die journalistischen Großgeschichten über die Afghanistan-Protokolle, die Iraq-Logs oder die US-Botschaftsdepeschen nicht möglich gewesen.

Aber fangen wir erstmal mit dem Ende an. „Manchmal reden die Leute darüber, dass das Internet den Journalismus abschaffen wird.“ schreibt Simon Rogers in seinem aktuellen Resümee auf dem Data Blog des Guardian. „Die Wikileaks-Story war eine Kombination von beidem: traditionelle journalistische Kompetenzen und die Möglichkeiten der Technologie. Ein Gespann um erstaunliche Geschichte zu erzählen. In Zukunft wird Datenjournalismus vielleicht nicht mehr so überraschend und neu sein. Jetzt aber ist er es. Denn die Welt hat sich verändert und es waren die Daten, die sie verändert haben.“

Auch wenn die Grafiken und Karten bereits bekannt sind, die Simon Rogers noch einmal zusammengestellt hat, sind manche Darstellungen weiterhin erschütternd. Hier findet man eine Übersicht weiterer Infografiken des Guardian. Besonders empfehlenswert ist eine ausführliche Beschäftigung mit den Karten. Denn nach ihrer Ansicht ist eines klar: Daten sind der Treibstoff der Revolutionen im 21. Jahrhundert – zumindest im Journalismus.

P.S.: Umfassend informiert übrigens auch das Open Data Blog von Lorenz Matzat auf ZEIT ONLINE über die aktuellen Entwicklungen des Datenjournalismus.