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Warum ging Zschäpe zur Polizei? – Das Medienlog vom Dienstag, 14. Januar 2014

 

Vom 73. Verhandlungstag in München bleibt vor allem ein Detail im Gedächtnis: dass Beate Zschäpes Socken gestunken hätten, als sie diese nach ihrer Flucht bei der Polizei in Jena abgab. Sie hätten gerochen, „als ob man das länger trägt“, sagte der Polizist, der die Kleidung der Hauptangeklagten sicherstellte. Tatsächlich kommt den Socken aber ein Beweiswert zu: Die Ermittler stellten darin Spuren von Benzin fest – ein Indiz, dass sie die Wohnung des NSU-Trios in Zwickau angezündet haben könnte. Zschäpe habe sich möglicherweise auch aus finanziellen Gründen gestellt, schreibt Frank Jansen im Tagesspiegel.

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Aus dem Haus habe Zschäpe weniger Geld mitgenommen, als da war, notiert Jansen. Doch auch weitere Gründe, sich zu stellen, ließen sich aus der Vernehmung des Jenaer Polizisten herauslesen: Zschäpe habe Schmerzen gehabt, wäre beinahe vor eine Straßenbahn gelaufen und habe sich erbrochen – schließlich habe sie aufgegeben. Deutlich werde, dass die Flüchtende es eilig hatte: „Nur eine Strumpfhose und ein Deo sprechen für die Annahme, Zschäpe sei auf die Flucht (…) vorbereitet gewesen“, kommentiert Gisela Friedrichsen auf Spiegel Online. Zschäpes Reaktion auf die Präsentation der Asservate beschreibt Tanjev Schultz in der Süddeutschen Zeitung: „Die Angeklagte muss mit ansehen, wie ihre letzten Habseligkeiten noch einmal ausgebreitet werden. Sie nimmt es, wie so oft, ohne erkennbare Regung hin.“

Neben den Details zur Flucht untersuchte das Gericht auch den Hintergrund einer SIM-Karte, die im Brandschutt gefunden wurde und hörte den Obduktionsbericht zum Mord an dem Hamburger Süleyman Tasköprü. Die Handykarte hatte die Zeugin Sandy N. gekauft, nachdem sie offenbar von Zschäpe in der Zwickauer Fußgängerzone angesprochen worden war – jetzt sagte sie in München aus. Zschäpe profitierte von dem Kauf, weil sie so nicht mit ihrem Namen registriert wurde – N. „war das optimale Opfer für die Handy-Aktion“, analysiert Schultz. Als belastende Zeugin sei sie jedoch wenig hilfreich, weil sie die Angeklagte weder bei der Polizei noch im Saal habe identifizieren können.

Die Leiche von Süleyman Tasköprü untersuchte im Juni 2001 der Rechtsmediziner Erwin Koops. Das Opfer habe „sich an der Grenze zum Tod“ befunden, zitiert Per Hinrichs Koops in der Welt. Tasköprü habe wohl noch wenige Minuten nach den tödlichen Schüssen gelebt.

Gegen Ende des Prozesstags kam es zu einer Kontroverse, als der Nebenklage-Anwalt Alexander Hoffmann beantragte, einen polnischen Zeugen zu laden, der den Mitangeklagten Ralf Wohlleben belasten könnte. Es gehe dabei um Unterstützungshandlungen, die nicht in der Anklageschrift aufgeführt sind. Aus diesem Grund monierte die Bundesanwaltschaft den Antrag: Staatsanwalt Stefan Schmidt sprach sich in einer Stellungnahme gegen den Antrag aus – und setzte damit kein gutes Signal, wie Gisela Friedrichsen bei Spiegel Online kommentiert: „Auffällig oft stoßen Anliegen der Nebenklage bei der Bundesanwaltschaft auf taube Ohren. Ein Nährboden für Verschwörungstheorien.“ Hoffmann habe den Anklägern daraufhin mangelnden Aufklärungswillen vorgeworfen, sie sei „nur bemüht, ihre einmal formulierte Anklage zu halten“.

Auch mit Zschäpes Anwaltsteam geriet Hoffmann in Konflikt, als er in einer Erklärung die Glaubwürdigkeit der Zeugin Silvia S. und des Mitangeklagten Holger G. bezweifelte, dem S. ihre Krankenkassenkarte überließ. Die Verteidiger versuchten, den Nebenklagevertreter auszubremsen – was für Friedrichsen eine grundsätzliche Frage aufwirft: „Darf sich ein Opferanwalt überhaupt, und wenn ja, wie lange, zur Glaubhaftigkeit der Angaben eines Angeklagten äußern? Überschreitet er damit nicht seine Befugnisse?“ Richter Manfred Götzl entschied schließlich, Hoffmann dürfe seine Stellungnahme beenden. „So erreichten die Verteidiger eine Verzögerung ohne jeden Geländegewinn – und zeigten nebenbei, an welchen Punkten sie sich wohl Sorgen um ihre Mandantin machen“, heißt es in einer dpa-Meldung zum Prozesstag.

Die Diskrepanz zwischen der bürgerlichen Fassade des NSU-Trios und der grausamen Realität analysiert Tom Schimmeck in der Frankfurter Rundschau: Er beschreibt „die Spießigkeit dieser Killerwelt“ mit Campingurlaub, Kaffeemaschine, Einkaufsbummel. Diese Normalität sei für ihn das Verstörendste am ganzen Prozess: „Das vermeintlich so monströse Böse kommt manchmal so nah, dass wir uns in ihm spiegeln könnten.“

Keine Berichte in englischsprachigen Onlinemedien.

Das nächste Medienlog erscheint am Mittwoch, 15. Januar 2014.