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In der Psyche von Tino Brandt – Das Medienlog vom Mittwoch, 2. April 2014

 

„Verräterkomplex“ ist in der 100. Sitzung des NSU-Prozesses das Wort des Tages: Ein früherer Thüringer Verfassungsschützer gab Einblicke in die Zusammenarbeit mit dem V-Mann Tino Brandt, unter dessen Anleitung sich das NSU-Trio radikalisiert haben soll. Brandt habe sowohl der rechten Szene als auch dem Staat gedient – ein Widerspruch, den die Geheimdienstler bei ihrem V-Mann mit Geld gelindert hätten, sagte der Zeuge. „Selten bekommt man so hübsche Einblicke in die Arbeit von V-Mann und Verfassungsschutz“, kommentiert Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung die Vernehmung. Sie habe Erkenntnisse über die „Psyche des Neonazis“ gebracht.

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Geld, heben die Prozessbeobachter hervor, war in der Zusammenarbeit mit Brandt die universelle Stellschraube. Habe Brandt versuchen wollen, die Verfassungsschützer auszutricksen, hätten sie ihm „den Geldhahn zugedreht“. „Das Spiel haben wir ganz gut beherrscht“, sagte der Thüringer Beamte vor Gericht. Ob das wirklich so war, bezweifelt Frank Jansen im Tagesspiegel. So habe Brandt dem Szenezeugen André K. ein Auto mit Peilsender untergeschoben, um Hinweise auf den Aufenthaltsort des untergetauchten Trios zu bekommen. Bei den dreien kam der Wagen jedoch nicht an. „Bei der Aussage des Beamten blieb offen, ob Tino Brandt ein doppeltes Spiel getrieben und André K. gewarnt haben könnte“, schreibt Jansen.

Sieben Jahre lang unterhielt der Verfassungsschutz die Beziehung zu Brandt. Es war eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, wie der Zeuge berichtete: „Der 57-Jährige zeigt sich überzeugt, dass der Spitzel nach Jahren auch einen ganz guten Einblick darüber hatte, was der Verfassungsschutz wusste und was nicht“, berichtet Kai Mudra in der Thüringer Allgemeinen. Fraglich ist allerdings, wie fruchtbar die mit insgesamt 200.000 Mark entlohnte Spitzeltätigkeit für den Geheimdienst war: Brandt konnte oder wollte keinen Hinweis auf das Versteck der NSU-Mitglieder geben. Zudem gab es laut der Aussage des Zeugen „im unmittelbaren Umfeld der drei in Jena keine weitere gute Quelle“.

Im Anschluss vernahm das Gericht den Zeugen Thomas R. Er soll das Trio nach dessen Abtauchen im Jahr 1998 bei sich zu Hause aufgenommen haben. Dabei griff Richter Manfred Götzl erstmals zu harten Mitteln gegen einen Zeugen, wie Mudra in einem weiteren Artikel berichtet. Er drohte ihm mit Ordnungsgeld oder Ordnungshaft, falls der Chemnitzer nicht seine Verbindungen zum rechtsradikalen Netzwerk Blood & Honour offenlegt. Nach einer Bedenkzeit gab R. an, gegen ihn werde wegen der Organisation ermittelt – eine Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft ergab schließlich, dass das Verfahren längst eingestellt wurde. Ordnungsmittel verhängte der Richter schließlich nicht, lud den Zeugen jedoch erneut.

Mehrere Medien begleiten den 100. Prozesstag mit Rückblicken. Auf dem Onlineauftritt des Mitteldeutschen Rundfunks analysiert Axel Hemmerling die Strategie der Prozessbeteiligten: „Jetzt wird vor allem gelauert: auf Fehler von Götzl, der versucht, das Mammutverfahren unter Kontrolle zu halten.“ Ab und an komme es zu Provokationen und Streitgesprächen, mit denen das Gericht jedoch souverän umgehe. „Es macht den Prozess aber nicht einfacher, schon gar nicht überschaubarer.“

ZEIT ONLINE greift in einer Analyse den Konflikt zwischen Bundesanwaltschaft und Nebenklagevertretern auf. Dieser habe dazu geführt, dass sich die Beteiligten bei einer Vernehmung offen vor einem Zeugen stritten – das Vorkommnis „war die Apokalypse für die Würde des Gerichts“. Beide Seiten hätten sich in der langen Zeit nicht aufeinander eingestellt, sondern voneinander entfernt. Zwischen ihnen verlaufe „ein tiefer Graben“. Nichts deute darauf hin, dass in absehbarer Zeit Frieden einkehrt.

Ist der Prozess bislang ein Erfolg oder eine Enttäuschung? Beide Meinungen ließen sich begründen, kommentiert Patrick Gensing auf tagesschau.de. Es komme darauf an, welche Erwartung man an das Verfahren stellt – denn das befinde sich im „Spannungsfeld zwischen längst nicht abgeschlossener politischer Aufarbeitung und den nüchternen Paragrafen des Strafrechts“. Die Ermittlungsfehler könne er nicht aufklären, auch wenn viele Beobachter und Beteiligte sich dies wünschten. Daher werde er bei den Angehörigen der Opfer auch künftig Enttäuschungen produzieren.

Auch Per Hinrichs gibt in der Welt zu bedenken, dass eine vollständige Aufklärung nicht zu erwarten sei: „Ständig kommen kleine Mosaiksteinchen zum Vorschein, von denen keiner weiß, ob sie in das Gesamtbild hineinpassen und wenn ja, an welche Stelle.“ Teils ähnelten die Verhandlungen einem Untersuchungsausschuss – was die Staatsanwälte regelmäßig bemängelten. Auch daher sei das Verhältnis zwischen Anklage und Nebenklage schwierig: „Terrorprozesse sind politische Prozesse, und die Fronten laufen hier quer durch den Gerichtssaal.“

Die Nachrichtenagentur dpa sammelte in einem Beitrag Stimmen zum Prozess. Darin kommt auch die Ombudsfrau der NSU-Opfer, Barbara John, zu Wort. Sie ist der Meinung, dass sich die Nebenkläger beim „Prozessgeschehen am Rande stehend“ sehen würden, weil sie zwar zur Teilnahme aufgefordert seien, aber sich häufig nicht einbringen könnten. Einen weiteren Blick aus Sicht der Teilnehmer liefert die Berliner Morgenpost mit Eindrücken der Anwältin Gül Pinar.

Wie war das noch mit dem NSU? Das Handelsblatt liefert eine Übersicht zu den wichtigsten Fragen rund um den Prozess.

Das nächste Medienlog erscheint am Donnerstag, 3. April 2014.