Die Zeugin Anja S. lieferte am 103. Prozesstag einen Einblick in die rechte Szene der neunziger Jahre – und in die Gedankenwelt des Angeklagten André E. Als S. 15 Jahre alt war, kam sie mit dem damaligen Skinhead für rund ein Jahr zusammen, nun sagte sie im NSU-Prozess aus. Die Aussage zeichnete das Bild einer fremdenfeindlichen Gesellschaft in der Heimat des früheren Paars, dem Erzgebirge:
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„Da oben finden Sie keinen, der nicht rechts eingestellt ist und sich nicht negativ über Ausländer äußert“, zitiert Gisela Friedrichsen die Zeugin auf Spiegel Online. Das habe besonders für E. gegolten, mit dem S. gemeinsam das untergetauchte Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt besuchte.
Auch in S.‘ Familie war eine rechte Einstellung offenbar salonfähig: Der Vater der Zeugin war dagegen, dass S. einen Skinhead traf, er „wollte an ihrer Seite offenbar eher einen großen Blonden sehen denn einen klein gewachsenen pummeligen Bartträger wie E.“, schreibt Friedrichsen. In seiner Einstellung war E. nach Maßstäben der Szene allerdings vorbildlich, wie aus der Aussage hervorgeht – er habe alles Nichtdeutsche abgelehnt, sich für germanische Gottheiten interessiert und seiner Freundin Diskobesuche verboten. Auf die Szene habe er zum Schluss jedoch „keine Lust mehr“ gehabt.
E. ist angeklagt, weil er den NSU unterstützt haben soll, unter anderem, indem er und seine heutige Frau das Trio ihre Namen benutzen ließen. Kurz nach dem Untertauchen der drei im Jahr 1998 besuchte er die Flüchtigen gemeinsam mit S. in einer Chemnitzer Wohnung. „Dass André E. und seine Freunde Skinheads waren, hatte Anja S. zunächst nicht abgeschreckt“, berichtet Tanjev Schultz in der Süddeutschen Zeitung. Die Gesinnung der drei war indes eindeutig: „Beinahe jedes Gespräch drehte sich um Politik und landete bald bei ausländerfeindlichen Thesen“, resümiert Per Hinrichs in der Welt.
Zwischenzeitlich hat sich S., die heute in Großbritannien lebt, nach eigenen Angaben dem Sog des Rechtsextremismus entzogen. „Nach all den Zeugen, die im Gerichtssaal herumdrucksten, mauerten, sich nicht erinnerten“, habe sie „offen erzählt, was sie noch weiß“, berichtet Schultz. Dazu gehört auch, dass die Zeugin zu Beginn hauptsächlich Positives über den Rechtsextremisten berichtete: „Er war unheimlich lieb und nett“, beschrieb sie den Ex-Partner – allerdings war E. „auch auf andere Weise unheimlich – unheimlich rechtsextrem“, schreibt Hinrichs in der Welt. Eigentümlich muten auch manche Formulierungen aus der Zeit der Beziehung an. So hinterließ S. ihrem Freund in dessen Kalender von 1998 den Gruß „Du bist für immer mein kleiner Skinhead“.
Der Prozesstag habe „Einblicke in die dunkle Welt eines Neonazis“ geliefert, bilanziert Frank Jansen im Tagesspiegel. „Der Unterschied zwischen Anja S. und André E. ist deutlich“, schreibt er – die Zeugin habe sich offen präsentiert, während E. ein „subkultureller Typ“ sei. Er habe gegrinst, als im Gericht Fotos seines Tattoos mit dem Schriftzug „Die Jew Die“ (Stirb, Jude, stirb) gezeigt wurden.
Das nächste Medienlog erscheint am Donnerstag, 10. April 2014.