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NSU-Opfer sind stärker als die Täter – Das Medienlog vom Freitag, 6. Juni 2014

 

Tag drei der Untersuchung des ersten Kölner Bombenanschlags von 2001: Am Donnerstag hörte das Münchner Gericht die Eltern und die Schwester des Opfers Mashia M. Sie war durch eine Bombe schwer verletzt worden, die ein Mann im Lebensmittelladen ihres Vaters hinterlassen hatte – nach Ansicht der Bundesanwaltschaft handelte es sich bei dem Täter um Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt. Diese Annahme stellte die aus dem Iran stammende Familie mit ihren Zeugenaussagen allerdings infrage, weil ihre Erinnerungen nicht zwangsläufig auf eines der NSU-Mitglieder deuten, wie auch die Verteidiger von Beate Zschäpe betonten. „In der Tat haben Zschäpes Anwälte einen Punkt gemacht“, kommentiert Per Hinrichs in der Welt.

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Anwalt Wolfgang Stahl stellte zudem die Möglichkeit in den Raum, der NSU könnte sich in seinem zynischen Bekennervideo nur als Trittbrettfahrer zu dem Anschlag bekannt haben. Hinrichs folgert, es sei „fraglich, ob sich die Gruppe mit einem Anschlag brüstet, den sie nicht begangen hat, der aber ihre Handschrift trägt“.

„Die Erinnerungen der Angehörigen an den Mann im Laden sind schwammig – doch sie haben gemeinsam, dass sie die Theorie der Bundesanwaltschaft nicht stützen“, heißt es auf ZEIT ONLINE. Auffällig sei gewesen, wie lange sowohl Vater Djavad M. als auch Schwester Mashid M. bei einer Fotovorlage des Mitangeklagten Holger G. überlegt hätten, dessen Gesichtszüge nach Aussage von Djavad M. möglicherweise jenen des Täters ähnelten. Zeugenaussagen seien im Strafprozess indes ein unsicheres Beweismittel. Aber: „Dafür, dass sich die M.s in ihren Erinnerungen so unsicher sind, ist sich die Bundesanwaltschaft extrem sicher.“ Sowohl der Vater als auch seine Tochter Mashid gaben in Vernehmungen an, einen Mann mit gewellten blonden Haaren gesehen zu haben.

Nach diesen Angaben fertigte die Polizei Phantombilder des Manns, der die Bombe in einem Korb in dem Kölner Geschäft stehen gelassen hatte – doch die stifteten eher Verwirrung, als dass sie bei der Tätersuche halfen. Mashia M.s Vater war mit dem Ergebnis der Polizeizeichner nicht zufrieden. „Merkwürdig, dass Djavad M., der ihn ja genau gesehen hatte, bis heute beteuert, die Bilder hätten ‚von vorn bis hinten‘ keine Ähnlichkeit mit dem Unbekannten“, merkt Gisela Friedrichsen auf Spiegel Online an. Möglicherweise habe die Polizei auch den Verdacht auf jemand anderen lenken wollen: „Denkbar ist im Fall NSU vieles.“

„Das Oberlandesgericht München hatte erkennbar Probleme mit diesem Teil der Aussage“, resümiert Stefan Geiger die Befragung zu den Täterbildern im Kölner Stadtanzeiger. Ihm fällt auf, wie „ungewöhnlich lange und intensiv“ Richter Manfred Götzl den Vater vernahm.

Alle Mitglieder der Familie M. – Anschlagsopfer Mashia M. eingeschlossen – zeigten sich während ihrer Vernehmungen besonders sachlich und ruhig. Doch in den zurückhaltenden Schilderungen blitzen auch Momente der Frustration auf, wie Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung schildert: „Man hat jede Lebensfreude von mir weggenommen“, zitiert sie die Mutter des Opfers. Auch die Existenzgrundlage, der Lebensmittelladen, ging mit dem Anschlag verloren. Ramelsberger stellt dazu die Unterschiede zwischen der Opferfamilie und den mutmaßlich Verantwortlichen heraus: Die Kinder von Familie M. begannen eine Akademikerlaufbahn – während die Männer auf der Anklagebank Leistungen vom Staat bezogen.

„Die Neonazis wollten die aus dem Iran stammende Familie vertreiben, das ist ihnen nicht gelungen“, analysiert Frank Jansen im Tagesspiegel. Vater Djavad M. zeigte demnach „menschliche Größe, die angesichts des erlebten Schreckens eigentlich nicht zu erwarten war“. Er zeigte sich vor Gericht froh, dass die Explosion nicht auch noch ebenfalls unschuldige Kunden getroffen hatte. Der Autor wertet die Aussage als ein Signal der Stärke gegen rechte Gewalt: „Stärker kann ein Opfer rassistische Täter kaum beschämen“, heißt es dort.

Hätte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Taten des NSU verhindern können? Dass es so war, legt die Aussage des früheren V-Manns Michael Doleisch von Dolsperg nahe, wie Focus Online berichtet. Der auch unter seinem Decknamen Tarif bekannte Informant habe am 10. März bei der Bundesanwaltschaft ausgesagt, dass ihn der Neonazi André K. kurz nach dem Untertauchen des Trios im Januar 1998 angerufen und um Unterschlupf für die drei gebeten habe. Von Dolsperg sagte demnach, er habe sofort seinen V-Mann-Führer informiert. Dieser habe ihm jedoch gesagt, er solle die Untergetauchten nicht verstecken. So war eine Chance vertan, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zu ergreifen.

In den kommenden zwei Wochen ruht der NSU-Prozess. Am 24. und 25. Juni befragt ein Staatsanwalt im schweizerischen Bern im Rahmen der Amtshilfe die Zeugen Peter-Anton G. und Hans-Ulrich M., die an der Beschaffung der Tatwaffe Ceska 83 beteiligt gewesen sein sollen. Beide waren nach München geladen, jedoch nicht erschienen – was für sie als Schweizer Staatsangehörige möglich ist. An dem Termin werden auch Prozessbeteiligte wie die Verteidiger von Beate Zschäpe teilnehmen.

Der nächste Prozesstag ist Donnerstag, der 26. Juni.

Das nächste Medienlog erscheint am Dienstag, 10. Juni 2014.