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Zschäpes Chancen stehen schlecht – Das Medienlog vom Donnerstag, 17. Juli 2014

 

„Paukenschlag“, „Wendung“, „Umbruch“: Der 128. Prozesstag war eine Sensation im NSU-Prozess. Beate Zschäpe ließ erklären, sie vertraue ihren Verteidigern nicht mehr. Ob ihre Anwälte Wolfgang Heer, Anja Sturm und Wolfgang Stahl nun ihre Mandate verlieren, ist unklar – zunächst muss Zschäpe ihren Antrag begründen. Über die Gründe kursieren Spekulationen. Die populärste lautet, dass Zschäpe vor Gericht aussagen will. „Schweigen allein ist zu wenig, um die Anklage zu entkräften. Möglicherweise hat Zschäpe das schneller erkannt als ihre Anwälte“, folgert Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung.

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Doch die Chancen, einen Pflichtverteidiger loszuwerden, sind nicht hoch: Über die sogenannte Entpflichtung entscheidet nicht Zschäpe, sondern das Gericht – andernfalls könnten Beschuldigte in einem Strafverfahren nach Belieben Verzögerungen herbeiführen. Deswegen muss die Hauptangeklagte bis heute um 14 Uhr eine stichhaltige Begründung vorlegen. „Es reicht nicht, dass sie (…) angibt, sie wolle sich selbst zu den Vorwürfen der Anklage äußern, aber ihre Anwälte seien anderer Meinung und rieten ihr davon ab“, schreibt Ramelsberger. Denn ein reiner Dissens erreicht nicht die hohen Hürden, die für eine Entpflichtung zu nehmen sind.

Das sieht auch der SWR-Korrespondent Holger Schmidt so: „Platzt nun der Prozess? Das ist nicht gerade wahrscheinlich.“ Schmidt erklärt das Prozedere und mögliche Folgen für den Prozess. Die Gründe scheinen ihm rätselhaft: „Dass die Verteidiger Beate Zschäpe an einer Einlassung hindern (…) halte ich für eher unwahrscheinlich.“ Im Gespräch mit Radio Eins wundert sich Schmidt zudem, warum Zschäpe trotz angeblicher Aussagebereitschaft nicht selbst im Gerichtssaal etwas sagte. Auch ein Zusammenhang mit den Angaben des V-Manns Tino Brandt, der am Vormittag vernommen worden war, sei ungewiss.

Gisela Friedrichsen von Spiegel Online zieht die schwache Befragung Brandts durch Heer, Stahl und Sturm hingegen als Grund in Erwägung: „Eine schlechtere Befragung eines Zeugen, wie sie nun folgt, gab es sogar in diesem Verfahren nicht“, heißt es dort. Das Gericht werde dem Antrag wohl nicht stattgeben, weil im Prozess eine geraume Zeit verstrichen und schon etliche Zeugen befragt worden sind. Auch die Folgen für Zschäpe selbst könnten fatal sein: „Denn welcher neue Verteidiger, abgesehen vielleicht von einem Hallodri, springt auf einen fahrenden Zug auf?“

Auch Konrad Litschko und Andreas Speit von der taz bewerten die Verteidigungsleistung des Anwaltstrios als schlecht, weil sie nur auf Zweifel an der Anklage gesetzt hätten: „Eine Gegenerzählung, die etwa erklärt, dass Zschäpe nichts von den Taten Böhnhardts oder Mundlos’ wusste, gab es so nicht.“ Auf ZEIT ONLINE wundern wir uns über den Umgang mit Brandts Angaben zu seinen Berichten an den Verfassungsschutz – „zu seiner Spitzeltätigkeit hatten die Verteidiger am Mittwoch keine Fragen“.

Bleibt Zschäpes Antrag folgenlos, auch wenn er abgelehnt wird? Laut Karin Truscheit von der FAZ  „seien Revisionsgründe leichter zu finden, sollte das Gericht die Anwälte im Verfahren belassen und Beate Zschäpes Bitte nicht entsprechen“. Zudem könne im Fall einer Unterbrechung auch die Untersuchungshaft für Zschäpe und den Mitangeklagten Ralf Wohlleben überprüft werden.

In nur 30 Tagen müsste sich ein Ersatz-Anwaltsteam einarbeiten. „Wenn Beate Zschäpe nur eine Unterbrechung des Verfahrens will, um dann mit neuen Nasen dieselbe Strategie zu verfolgen, muss das Gericht das unterbinden“, kommentiert Rolf Clement vom Deutschlandfunk. Ließe sich Zschäpe mit einer Zäsur in der Verteidigung jedoch zur Mitwirkung bewegen, sollten die Richter „alle Fristen ausschöpfen“.

Frank Jansen vom Tagesspiegel mutmaßt, Zschäpe verspüre durch die lange Verhandlungszeit den Druck, sich zur Anklage zu äußern: „Möglicherweise hält die Frau das nicht mehr aus. Schweigen erfordert viel Kraft.“ In ihr müsse sich „viel Verzweiflung gestaut haben“.

Per Hinrichs von der Welt rechnet damit, dass das Verfahren im Falle einer Entpflichtung aller drei Anwälte auf den Anfang zurückgeworfen würde. Weil ihre Nachfolger „die 125 vorangegangenen Tage nicht mitbekommen hätten, wäre der Prozess geplatzt und würde ganz von vorne beginnen“. Ein Ausweg wäre demnach ein Wahlverteidiger, der einen der Pflichtverteidiger ersetzt und während des laufenden Prozesses ins Thema einsteigt.

Die für heute angesetzte dritte Vernehmung des Zeugen Tino Brandt entfällt wegen des Antrags. Der nächste planmäßige Sitzungstag ist der kommende Dienstag.

Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, 18. Juli 2014.