Ein angebliches Anschlagsopfer im NSU-Prozess existiert nicht. Recherchen von ZEIT ONLINE ergaben: Ein Nebenkläger im Verfahren hatte seine Mutter mit falschem Namen doppelt dort angemeldet.
Irgendwie kam immer etwas dazwischen, wenn Meral K. im Münchner NSU-Prozess als Zeugin aussagen sollte. Im März verpasste sie angeblich ihren Flug aus der Türkei nach Deutschland. Im Juni dann teilte ihr Anwalt Ralph Willms mit, sie sei auf dem Weg ins Gericht zusammengebrochen.
Es war ja auch ein Trauma, das die Frau angeblich mit sich herumschleppte: Sie wurde verletzt, als die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe in der hauptsächlich von Migranten bevölkerten Kölner Keupstraße zündete. 22 Menschen wurden damals nach Polizeiangaben verletzt.
Trotzdem schlossen sich mehr als 22 Menschen als Nebenkläger, also als Geschädigte, dem NSU-Prozess an. Wie konnte das sein?
Im Fall von Frau K. scheint die Antwort nun vorzuliegen: Es gibt sie nicht. Wie Anwalt Willms gegenüber Spiegel Online einräumte, sei sie „wahrscheinlich überhaupt nicht existent“. Ein anderer Nebenkläger, der tatsächlich bei dem Anschlag verletzt wurde, habe sie erfunden. Nach Information von ZEIT ONLINE handelt es sich dabei um den 41-jährigen Attila Ö. Er hatte Willms, der mit seiner Kanzlei im rheinländischen Eschweiler sitzt, die Frau vorgestellt und dafür eine Provision kassiert. Willms hat inzwischen sein Mandat beim NSU-Prozess niedergelegt.
Die Recherchen von ZEIT ONLINE ergeben: Bei dem angeblichen Opfer Meral K. handelt es sich offenbar um Attila Ö.s Mutter. Der Schritt, der Willms nun zur Aufgabe des Mandats brachte, war demnach ein zufälliges Treffen zwischen ihm und dem Anwalt Björn Hühne aus dem rheinländischen Jülich. Willms legte Hühne Fotos vor, auf denen Meral K. zu sehen sein sollte. Hühne erkannte darauf allerdings jemanden anderen: seine kurzzeitige Mandantin Ö. Damit war klar, dass Willms einer falschen Mandantin aufgesessen war. Er hat Anzeige gegen ihren Sohn erstattet.
Aus Hühnes Schilderungen geht hervor, wie die Betrugsmasche abgelaufen sein muss. Demnach hatte sich Frau Ö. zunächst mit einem Kölner Anwalt als Nebenklägerin beim NSU-Prozess eintragen lassen. Nach Streitigkeiten mit diesem wandte sich Ö. im Mai 2013, als der Prozess schon begonnen hatte, an Hühne. Bei Gesprächen zwischen der Frau und dem Anwalt war stets ihr Sohn dabei, weil sie nur Türkisch sprach.
Frau Ö. unterschrieb eine Vollmacht, nach der Hühne sie vertreten durfte. Kurz darauf habe Ö. von ihm eine Provision im „guten vierstelligen Bereich“ gefordert. Denn wenn ein Anwalt vor Gericht einen Nebenkläger vertritt, so ist dies durchaus lukrativ für ihn: Die Anwälte der Opfer sitzen mit im Prozess und erhalten für jeden Verhandlungstag ein Honorar.
Seine Mandanten in Provisionsform daran zu beteiligen, sagt Hühne, habe er jedoch abgelehnt: „Bei mir zahlen die Mandanten und nicht der Anwalt.“ In der Folge schrieb Ö. dem Gericht, sie wolle nicht mehr Nebenklägerin sein.
Zur gleichen Zeit hatte sich Attila Ö. mit seiner Mutter allerdings ebenfalls an Anwalt Willms gewandt. Nur stellte er sie unter dem Namen Meral K. vor, eine angebliche Freundin der Mutter. Beide hätten während eines Restaurantbesuchs bei einer Rauchpause auf der Straße gestanden, als die Bombe vor dem direkt gegenüberliegenden Friseursalon explodierte. Auch Willms wurde angeboten, das Mandat gegen Provision zu übernehmen – er ließ sich darauf ein.
Als Beleg für die angeblichen Verletzungen der damals noch völlig unbekannten Meral K. legte Willms dem Oberlandesgericht ein ärztliches Attest mit ihrem Namen vor. Es glich einem Attest, das bereits Frau Ö. vorgelegt hatte, nur mit geändertem Namen. Der Bundesanwalt Herbert Diemer, der im Münchner Verfahren die Anklage vertritt, hielt das Schreiben nicht für ausreichend, um Meral K. zur Nebenklage zuzulassen.
Anders sah es der sechste Strafsenat, vor dem der NSU-Prozess verhandelt wird: Die Richter genehmigten K., sich der Nebenklage anzuschließen. Im Gerichtssaal erschien sie nie. „Es kann doch nicht sein, dass so vielen Richtern nichts an dem Attest auffällt“, sagt Hühne. Der Senat besteht aus fünf Mitgliedern und damals noch drei Ergänzungsrichtern.
Für Anwalt Willms war die Überraschung angeblich groß, als er erkannte, dass er ein Phantom vertrat. Schließlich habe er selbst mit der vemeintlichen Meral K. und Attila Ö. zusammengesessen. Im Moment der Erkenntnis habe es Willms „wie nur was aus der Hose gehauen“, berichtet Hühne.
Der Vorsitzende Richter im Prozess, Manfred Götzl, hatte bereits in der vergangenen Woche Verdacht geschöpft. Auf Nachfrage konnte Willms lediglich sagen, Frau K. liege in der Türkei im Krankenhaus. Sämtliche Kommunikation laufe nur noch über Attila Ö. Dieser wird im Prozess von dem Kölner Anwalt Reinhard Schön vertreten. Dessen Kanzleikollege Eberhard Reinecke bestreitet den Betrug durch Ö.: „Wir haben Gegenteiliges gehört.“ Auf Einzelheiten will er wegen der anwaltlichen Schweigepflicht nicht eingehen.
Beim Strafsenat ist Willms‘ Mandatsniederlegung noch nicht eingegangen. Unklar ist, ob es bei einem Einzelfall sein Bewenden hat. Anwalt Hühne ist kritisch: „Wenn ich das höre, frage ich mich doch: Gibt es da noch andere Fälle, die nicht echt sind?“