Der psychiatrische Gutachter im NSU-Prozess hat eine Einschätzung über Beate Zschäpe vorgelegt. Er hält die Angeklagte für wenig glaubwürdig – und bringt die Sicherungsverwahrung ins Spiel.
Im NSU-Prozess könnte es bald sehr schnell Richtung Ende gehen. Der Psychiater Henning Saß hat dem Gericht ein vorläufiges Gutachten über die Hauptangeklagte Beate Zschäpe vorgelegt – eine solche Expertise markiert im Strafprozess in der Regel das Ende der Beweisaufnahme. Danach folgen Plädoyers und das Urteil.
Die vorläufige Version wird nicht im Prozess vorgetragen, aber den Beteiligten vorgelegt – Zschäpe eingeschlossen. Die Lektüre von 177 Seiten über sich selbst dürfte bei der Angeklagten eine bittere Erkenntnis reifen lassen: Sie hat im Laufe eines Jahres große Fehler gemacht.
Die Entscheidung, von der jahrelang praktizierten Strategie des Schweigens abzuweichen und auszusagen, war demnach mindestens nutzlos, vielleicht sogar schädlich. In der von Zschäpes Verteidigern vorgetragenen Aussage vom Dezember 2015 stellte sich Zschäpe als eingeschüchtertes Anhängsel ihrer Mitbewohner Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dar, denen sie bei den grausamen Mordanschlägen keinen Einhalt gebieten konnte.
Aus dem Gutachten, das ZEIT ONLINE vorliegt, geht in vorsichtigen Formulierungen hervor: Psychiater Saß hält die Version der Angeklagten für wenig plausibel – auch, wenn es sich bei dem Dokument nicht um eine Prüfung der Glaubwürdigkeit handelt, sondern um eine Beurteilung, ob Zschäpe schuldfähig war und ob bei Verurteilung eine Sicherungsverwahrung in Betracht kommt. In dem Fall ist eine Entlassung mehrere Jahrzehnte lang unwahrscheinlich. Die Maßnahme kann den Tod hinter Gittern bedeuten.
Das Ergebnis des Sachverständigen ist für Zschäpe vernichtend: Weder während der Zeit im Untergrund noch am 4. November 2011, als die Angeklagte die mit Mundlos und Böhnhardt genutzte Wohnung in Zwickau anzündete, sei ihre Schuldfähigkeit eingeschränkt gewesen.
Zur Frage der Sicherungsverwahrung betrachtet Saß zum einen die Schilderungen von Zschäpe über das Leben mit den Uwes, zum anderen die Version der Anklageschrift, nach der sie in die Planung der Morde eingebunden war und ihre Komplizen bewusst deckte. Für den Fall, dass die aus den Ermittlungen hervorgegangene Version stimmt, sieht Saß „das Vorliegen wesentlicher Kriterien eines Hanges gegeben“ – eines Hanges zu Straftaten. Dieser zählt zu den Voraussetzungen für die Verhängung einer Sicherungsverwahrung.
Der Psychiater lässt dabei durchblicken, dass er die von der Bundesanwaltschaft vorgelegte Beschreibung für nachvollziehbarer hält als Zschäpes Schilderungen. So beschreibt er Zschäpe bereits im Alter einer Heranwachsenden als „selbstbewusst, kräftig und burschikos, dabei vor allem auf einen Umgang mit männlichen Partnern und auf die Durchsetzung einer gleichberechtigten Stellung ausgerichtet“. Das passt nicht zur Darstellung als unmündige Randfigur und es deckt sich mit den Aussagen zahlreicher Zeugen, aus denen hervorging, dass Zschäpe sich den Uwes gegenüber ebenbürtig verhielt.
Diese Aussagen sind auch wesentliche Quellen für Saß. Zschäpe hat sich von ihm nicht befragen lassen. So ist der Psychiater angewiesen auf Erkenntnisse aus Ermittlungen und Prozess, zudem auf seine intensiven Beobachtungen von Zschäpe im Gerichtssaal.
Saß wundert sich, dass Zschäpe trotz ihrer Bereitschaft, auszusagen, nie „Regungen von Abscheu, moralischer Verurteilung und Schuldgefühl“ ausgedrückt habe. Stattdessen habe sie gewirkt, „als lasse sie das Prozessgeschehen, das eigentlich kaum etwas mit ihr zu tun habe, an sich abgleiten“. Ähnlich war es auch immer wieder in Berichten von Prozessbeobachtern zu lesen: Zschäpe wirkte höchstens im Gespräch mit ihren Verteidigern lebendig, ansonsten kalt und regungslos – selbst, wenn im Zeugenstand Angehörige der Mordopfer ihre Trauer schilderten und Zschäpe zum Reden aufforderten.
Bekannt ist, dass Zschäpe auch ganz anders sein kann. Nachbarn und Urlaubsbekanntschaften beschrieben sie als freundlich und aufgeschlossen. Von der abgeschotteten Dreier-WG war sie diejenige, die Kontakt zur Nachbarschaft aufnahm.
In der Folge attestiert der Gutachter ihr „ein breites Repertoire von situativ angepassten, kontrollierten und variierenden Verhaltensweisen“. An anderer Stelle schreibt er ihr „Disziplin, Raffinesse, eine extrem hohe Fähigkeit zu Camouflage“ zu. Darunter fällt beispielsweise ihr im September persönlich vorgetragener Entschuldigungstext, in dem sie behauptete, sie sie hege keine Sympathien mehr für „nationalistisches Gedankengut“. Die Phrase hält Saß für „deutlich verharmlosend“, eine Übertünchung für rechtsradikales, ausländerfeindliches Denken.
Sollte ihr keine zwei Minuten langes Statement also ein Signal der Offenheit an Saß gewesen sein, wie öfters vermutet wurde, ist das Kommando gescheitert. Stattdessen steht es nun im Kontext von Zschäpes Versuchen, sich von ihrer mutmaßlichen Verantwortung zu distanzieren.
Das ist ihr vor Saß nicht gelungen. Denkbar ist, dass die Richter des Strafsenats die Lage sehr ähnlich sehen: Zschäpe hat ihr Glaubwürdigkeitsproblem nicht beseitigen können. Beim Urteil kann die Angeklagte wohl nicht mit Milde rechnen.