Vor elf Jahren ermordete der NSU Mehmet Kubaşık. Vom Prozess in München ist seine Tochter Gamze enttäuscht. Im Interview spricht sie über das schmerzhafte Verfahren.
Am 4. April 2006 erschossen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Dortmund den Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık. Der 39-Jährige hinterließ drei Kinder. Das älteste von ihnen, seine heute 32 Jahre alte Tochter Gamze, hat den Münchner Terrorprozess in den vergangenen Jahren mehrmals besucht. Sie hat Gesicht gezeigt und will auch während der Plädoyers der Nebenklage das Wort im Verhandlungssaal ergreifen.
Wie viele andere Opferfamilien wurden auch die Kubaşıks Opfer falscher Verdächtigungen und einseitiger Ermittlungen. Ein Trauma, das die Tochter bis heute schmerzt. Im Gespräch macht sie deutlich, dass auch das Gerichtsverfahren sie nicht mit dem Rechtsstaat versöhnen kann.
ZEIT ONLINE: Wie intensiv haben Sie den Prozess verfolgt? War es Ihnen wichtig, auf dem Laufenden zu sein?
Kubaşık: Ich konnte nicht immer in München sein, aber mich hat jeden Tag interessiert, was passiert ist. Zu den für mich und meine Familie besonders wichtigen Terminen war ich natürlich selbst im Gericht. Ich werde jetzt auch selbst zum Plädoyer kommen. Ansonsten hat mich mein Anwalt natürlich immer auf dem Laufenden gehalten. Das war mir sehr wichtig.
ZEIT ONLINE: Den Opferangehörigen ist Aufklärung versprochen worden – vor allem durch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Hat der Prozess Ihre Erwartungen daran erfüllt?
Kubaşık: Man hat uns vor dem Prozess hundertprozentige Aufklärung versprochen. Mit weniger werde ich mich auch nicht zufriedengeben. Ich hatte große Hoffnung. Umgesetzt wurde das aber nicht. Jetzt bin ich natürlich enttäuscht.
ZEIT ONLINE: Die Bundesanwaltschaft hat lebenslange Haft für Beate Zschäpe gefordert. Wie wichtig ist Ihnen eine harte Strafe?
Kubaşık: Wir haben immer auf Gerechtigkeit gehofft. Ich persönlich finde eine lebenslange Strafe für Beate Zschäpe okay, ich habe aber auch nichts anderes erwartet. Allerdings wäre die Enttäuschung über das Ergebnis des Prozesses noch größer, wenn nicht wenigstens diese fünf Angeklagten verurteilt werden. An der fehlenden echten Aufklärung ändert das nichts. Außerdem ist es natürlich so, dass keine Strafe uns unseren Vater wieder zurückbringen kann. Wir wollten zumindest, dass alle, die damit zu tun haben, eine gerechte Strafe bekommen. Davon sitzen aber die wenigsten hier auf der Anklagebank.
ZEIT ONLINE: Auch Ihre Familie wurde vor dem Ende des NSU 2011 Opfer von Schuldzuweisungen, auch durch die Ermittler. Hat der Prozess Ihr Vertrauen in den Rechtsstaat wiederhergestellt?
Kubaşık: Zu Anfang hatte ich schon das Gefühl, dass es mit diesem Prozess wieder einen funktionierenden Rechtsstaat geben würde, dass es auch für uns Sicherheit und Klarheit gibt. Während des Prozesses sind aber so viele Dinge passiert, die für mich und auch die anderen Familien sehr ungerecht waren. Ich glaube nicht mehr an den Rechtsstaat.
ZEIT ONLINE: Im Prozess ist deutlich geworden: Es gibt in Deutschland eine engmaschige rechtsextreme Szene, die bereit ist, auch gewaltbereite Kameraden zu decken. Wie leben Sie mit dieser Gewissheit?
Kubaşık: Ich meine, dass in dem Prozess auch durch unsere Anwälte belegt wurde, dass es eine stark vernetzte rechtsradikale Szene in Deutschland gibt, die sehr gefährlich ist. Ich habe zwar heute keine Todesangst. Aber in Dortmund laufen immer noch viele Leute davon rum. Es ist ein sehr unangenehmes Gefühl, wenn ich diesen Menschen über den Weg laufe. Manche davon werden wahrscheinlich bei dem Mord an meinem Vater mitgeholfen haben. Deutschland tut viel zu wenig gegen diese Nazis. Es gibt immer noch so viel Gewalt von denen; jeden Tag. Warum hat sich daran nichts geändert? Das macht mich wütend.
ZEIT ONLINE: Zeugen aus der rechtsextremen Szene konnten im Prozess lügen oder schlicht Auskünfte verweigern – ohne dass das Gericht durchgriff. Wie denken Sie darüber?
Kubaşık: Das hat mich mit am meisten während des Prozesses geärgert. Alle wussten, dass diese Personen viel gelogen haben. Mir hätte es ja gereicht, wenn der Richter selbst mal offen gesagt hätte: „Sie lügen! Hören Sie damit auf!“ Das ist aber fast nie passiert. Man hat diese Lügen einfach so hingenommen. Das ärgert mich und meine Familie.
ZEIT ONLINE: Beate Zschäpe muss sich sehr wahrscheinlich auf Jahrzehnte im Gefängnis einstellen. Welche Botschaft würden Sie ihr mit auf den Weg geben?
Kubaşık: Das Einzige, was ich ihr sagen würde: Ich habe die Hoffnung, dass sie irgendwann die Wahrheit sagt. Dann könnten ich und meine Familie vielleicht abschließen.
ZEIT ONLINE: Wie wichtig ist das Urteil für Ihre persönliche Aufarbeitung? Werden Sie Ihr Leben danach leichter bewältigen können?
Kubaşık: Das ist schwer zu sagen. Ich weiß es nicht. Das Urteil wird sicher eine wichtige Rolle spielen, aber ob es wirklich Erleichterung bringt, hängt vom Inhalt ab. Meine Erwartung ist hoch, aber ich weiß auch, dass so viel schiefgelaufen ist. So viel ist so gekommen, wie wir es gerade nicht wollten. Ich erwarte aber nun endlich, zumindest was diese fünf Angeklagten betrifft, ein gerechtes Urteil und die klare Aussage, dass das Gericht mehr eben nicht feststellen will. Dann wäre zwar klar, dass viele Fragen offen sind, ich könnte aber wenigstens offen in die Zukunft blicken.
ZEIT ONLINE: Wo stehen Sie heute im Leben?
Kubaşık: Aktuell bin ich zuallererst für meinen Sohn da. Er heißt Mehmet – nach meinem Vater.