Es ist ein Blick in die Gedankenwelt einer Rechtsextremistin: Beate Zschäpe schrieb aus der Untersuchungshaft an einen Neonazi. Zeigt der Brief, dass die NSU-Angeklagte nicht nur eine naive Mitläuferin war?
Im März 2013 fischten Justizbeamte in der Haftanstalt Bielefeld-Brackwede einen besonderen Brief aus der Post: Absender war Beate Zschäpe! Das Schreiben gelangte nicht in die Zelle des Empfängers, dem aus Dortmund stammenden Rechtsextremisten Robin S. Stattdessen trat es eine lange Reise durch den Justizapparat an – von der Polizei zum Landeskriminalamt, dann zum Bundeskriminalamt und schließlich zur Bundesanwaltschaft, die im Münchner NSU-Prozess die Anklage führt.
Zschäpe saß damals noch als Untersuchungsgefangene im Gefängnis in Köln und wartete auf die Prozesseröffnung. Sie beschrieb die Situation in der Haft, schwelgte in Erinnerungen an das Leben draußen und umgarnte ihren Brieffreund.
Im Verfahren selbst wurde der Brief, auch wenn er zwischenzeitlich bereits bekannt geworden war, nicht zum Thema. Das geschah erst jetzt, als der Gutachter Henning Saß dem Gericht ein psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte erstattete. Der Brief ist das einzige Dokument, in dem sich die mutmaßliche Terroristin offenbar unbefangen über ihr persönliches Befinden äußert. Vertreter der NSU-Opfer forderten, das Schreiben zum Beweisstück zu machen.
Zschäpes Anwälte versuchten alles, um das zu verhindern. In Anträgen pochten sie auf das Briefgeheimnis und die Privatsphäre der Hauptangeklagten. Ohne Erfolg: In dieser Woche entschieden die Richter, der Brief werde als Beweis genutzt. Schließlich ist sein Inhalt brisant. Das hatten die Verteidiger mit ihren Verhinderungsversuchen bereits bewiesen.
Robin S. saß in Bielefeld eine achtjährige Haftstrafe wegen schwerer räuberischer Erpressung ab. Der Brief ist auf den 2. März 2013 datiert. Damals begann ein leidenschaftlicher Briefwechsel, geführt von zweien, die sich als Schicksalsgenossen betrachteten: die eine seit rund anderthalb Jahren als mutmaßliche Rechtsterroristin in Untersuchungshaft, der andere ein bekannter Neonazi, der bereits sechs Jahre Knast hinter sich hatte.
Während der langen Stunden in der Zelle bohren sich Langeweile und Einsamkeit ins Gemüt. Sowohl Zschäpe als auch S. waren offenbar froh, einen Gesprächspartner mit denselben politischen Ansichten zu haben. Nach mehreren nicht dokumentierten Briefwechseln schrieb sich Zschäpe Anfang März 2013 schließlich die 26 Seiten von der Seele, die in Bielefeld beschlagnahmt wurden.
Nach einer überschwänglichen Begrüßung, garniert mit einer Kugelschreiberzeichnung, entspinnt sich ein Monolog, in dem die Insassin mal depressiv-niedergeschlagen und mal feixend-fröhlich aus ihrem Alltag berichtet. Ist auf einer Seite noch von Zschäpes Kochkünsten und ihren musikalischen Vorlieben die Rede, geht es wenig später um das Alleinsein und die Folgen der Haft.
Weil die Äußerungen in weiten Teilen privater Natur sind, kam das Gericht den Anwälten ein Stück weit entgegen: Der Brief wird im sogenannten Selbstleseverfahren eingeführt. Das heißt, die Prozessbeteiligten bekommen das Dokument zum Lesen auf den Tisch, vor den Ohren der Öffentlichkeit wird es nicht verlesen. Als relevant für die Beweisaufnahme, die in wenigen Wochen zu Ende sein wird, erachten die Richter den Brief dennoch.
Über die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft spricht Zschäpe nur am Rande. So berichtet sie, wie sie aus dem Fernsehen durch einen Kommentar des damaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich erfuhr, dass sie nicht nur als Mitglied, sondern auch als Mitgründerin einer terroristischen Vereinigung angesehen werde. Zschäpe fühlte sich dadurch offenbar vorverurteilt, geht in dem Brief aber nicht weiter auf ihre Rolle im NSU oder auf das, was sie von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erfuhr, ein.
Dennoch dürfte das Schreiben für Gutachter Saß überaus interessant sein. Denn es ist das Gegenstück zu Zschäpes Aussage vom Dezember 2015. Offensichtlich mit umfangreicher Hilfe ihrer neuen Anwälte hatte sich die Angeklagte darin als von Mundlos und Böhnhardt manipuliert und unterdrückt beschrieben. Sie habe gefürchtet, beide würden sich das Leben nehmen, wenn sie aus dem Dreierbündnis aussteigen würde.
Doch das Bild einer eingeschüchterten Leisetreterin widerlegt Zschäpe gleich auf der ersten Seite. Sie berichtet ihrem Briefpartner S., dass sie Streit nicht unbedingt aus dem Weg gehe. Nur widerwillig habe sie sich auf eine Vereinbarung mit der Gefängnisärztin eingelassen, Antidepressiva einzunehmen, obwohl sie nach außen nie traurig oder angeschlagen gewirkt habe.
Zschäpe versteht es demnach sehr genau, ihre Wirkung nach außen zu steuern und ihre Ziele zu erreichen: Weil sie sich auf die Vereinbarung zum Tablettenschlucken einließ, verzichtete die Haftanstalt auf eine durchgehende Beobachtung der Gefangenen in ihrer Zelle. Kurz darauf erzählt Zschäpe, wie eine Mitgefangene versucht habe, ihr Tabletten abzukaufen. Das, lässt sie bedeutungsvoll anklingen, habe sie nicht noch einmal gewagt.
Später macht Zschäpe deutlich, dass sie sich nicht manipulieren lässt – in ihrem Umfeld gebe es nämlich reichlich Menschen, die sie zu Dingen drängen wollten, die ihr nicht passten, schreibt sie. Ihrer Aussage zufolge war sie mit Mundlos und Böhnhardt genau solchen Menschen erlegen.
In anderen Passagen des Schreibens geht es um das Verhältnis zu ihren Anwälten, das offenbar von häufigem Zwist gekennzeichnet ist. Vom Prozess will sie lieber gar nichts wissen – wahrscheinlich werde irgendwann der Punkt kommen, an dem ihr das Verfahren egal sei und sie das Urteil hinnehmen werde.
Abseits der selbstbewussten Worte erzählt der Text auch von einer verletzlichen Seite Zschäpes. Sie schildert, wie sehr sie sich bei ihrer Festnahme, bei der sie selbst ihre Unterwäsche abgeben musste, gedemütigt gefühlt habe. Zudem leidet sie darunter, von ihrer geliebten Großmutter getrennt zu sein, die sie zuletzt vor einem Jahr besucht hatte. Anneliese A. war in ihrer Jugend die wichtigste Bezugsperson für Zschäpe. Erst vor wenigen Tagen starb sie im Alter von 93 Jahren.
Doch ist durch diese Zeilen wirklich bewiesen, dass Zschäpe im Umgang mit Mundlos und Böhnhardt schwach und wehrlos war? Ist sie tatsächlich so manipulativ, wie ihr Charakter von Anklage und Nebenklagevertretern immer wieder gedeutet wird, dann ist ebenfalls denkbar, dass sie sich auch vor ihrem Brieffreund S. verstellt.
Selbst wenn sie ihm gegenüber offen gewesen sein sollte, könnte die Zschäpe im Untersuchungsgefängnis eine andere gewesen sein als die im Untergrund. Zudem kann es bei Zschäpe, genau wie bei jedem anderen Menschen, auch einfach Widersprüche in der Persönlichkeit geben. Der Brief ist nur ein Puzzlestück bei der Bewertung ihrer Person. Die Aufgabe, sich ein Gesamtbild von ihr zu machen, liegt bei den Richtern.