Beate Zschäpes Anwälte wollen sie für psychisch gestört erklären lassen. Die Diagnose passt auffällig gut zu ihrer Selbstbeschreibung – aber nicht zu ihrem Verhalten.
War Beate Zschäpe psychisch krank? War sie ein von Ängsten und Schwäche geknechteter Mensch – so schwer leidend, dass ihre Dämonen sie zwangen, die Morde ihrer beiden Kumpanen zu dulden?
Ja, Zschäpe war während der Zeit, die sie mit den mutmaßlichen NSU-Mördern Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund lebte, an einer sogenannten abhängigen Persönlichkeitsstörung erkrankt — zu diesem Ergebnis kommt der Psychiater Joachim Bauer vom Freiburger Universitätsklinikum. Er hat Zschäpe in der Untersuchungshaft befragt und ein 48-seitiges Gutachten erstellt. Morgen soll er es im Münchner NSU-Prozess vorstellen.
Auftraggeber waren Zschäpes neue Anwälte Mathias Grasel und Hermann Borchert. Mit offensichtlichem Ziel: Ihrer Ansicht nach ist Zschäpe wegen der psychischen Störung vermindert schuldfähig. Anscheinend wollen sie für ihre Mandantin einen Strafrabatt erreichen. Weit weniger Bedeutung messen dem Gutachten offenbar die Richter bei: Sie luden Bauer als Zeugen statt als Sachverständigen, womit seine Diagnose vor Gericht praktisch nichts gegolten hätte. Deshalb hat Anwalt Grasel den Psychiater nun als Sachverständigen der Verteidigung eingeladen. So kann er zwar alles sagen, was er will, aber das Gericht muss seine Aussagen deshalb noch lange nicht wichtig nehmen.
Das Gutachten scheint kurz vor dem Prozessende wie aus dem Hut gezaubert. Wie seriös ist die Diagnose Persönlichkeitsstörung? Bauer hat Zschäpe dafür in sechs Sitzungen insgesamt zwölf Stunden lang befragt. „In der Zeit kann ein Experte eine valide Diagnose stellen“, sagt der Psychiater Stefan Röpke, Leiter des Bereichs Persönlichkeitsstörungen an der Berliner Charité.
Zu den Kennzeichen der Krankheit gehört, dass sich der oder die Betroffene an andere klammert und ihnen alle Entscheidungen überlässt. Man stellt Willen zurück, aus Angst, die Zuneigung seiner Mitmenschen zu verlieren. „Da heißt es dann: Was soll ich anziehen? Oder im Restaurant: Was soll ich essen?“, sagt Röpke. Als Zschäpe ihre Anwälte im Dezember 2015 eine Aussage verlesen ließ, fanden sich darin zahlreiche Stellen, die zu der Diagnose passen. So sagte die Angeklagte über die Uwes, sie habe sich „nicht von den beiden lösen“ können. Angesichts der Morde habe sie „die weiteren Geschehnisse auf mich zukommen“ lassen.
Nicht alles passt zusammen
Die Abhängigkeit ging laut Zschäpe so weit, dass sie sogar ertrug, wenn Uwe Böhnhardt ihr gegenüber „handgreiflich geworden“ war. Menschen mit abhängiger Störung sind besonders anfällig für Gewalt in Beziehungen, weil sie nicht in der Lage sind, sich zu wehren und Konsequenzen zu ziehen.
Auch vor Trennungen fürchten sich Betroffene, selbst eine kurze Zeit allein ertragen sie nicht. Mundlos und Böhnhardt fuhren häufig weg, um Morde oder Überfälle zu begehen. Dafür waren sie tagelang unterwegs. Zschäpe erzählt, wie sie „große Angst bekam, sie würden nicht mehr zurückkehren“.
Ein anderer Aspekt erscheint rückblickend ebenfalls auffällig: In der Aussage wird ausdrücklich erwähnt, wie sich Zschäpe regelmäßig mit mehreren Flaschen Sekt betrank. Sucht ist laut Röpke eine typische Begleiterscheinung der Störung. Zschäpes Einlassung erscheint rückblickend in vielen Punkten wie maßgeschneidert für die jetzige Diagnose. Hatten ihre Vertrauensanwälte es von Anbeginn an darauf angelegt, ihre Mandantin für psychisch gestört erklären zu lassen?
Dennoch gibt es Teile, die nicht ins Bild passen. Zschäpe berichtet von Momenten der Rebellion, in denen sie Mundlos und Böhnhardt gedroht habe, sich bei der Polizei zu stellen. Für einen krankhaft unterwürfigen Menschen undenkbar.
Auch Berichte von Zeugen zeichnen ein anderes Bild: Demnach knüpfte Zschäpe Kontakte zu den Nachbarn, plauschte mit ihnen oder gab Ratschläge, während sich die Uwes zurückhielten. Ein Bekannter aus ihrer Jugend in Jena charakterisierte die Angeklagte mit den Worten: „Sie ließ sich nichts gefallen.“ Ihr Cousin erinnerte sich so an sie: „Zu einem, mit dem sie zusammen war, hat sie gesagt: Hier geht’s lang.“ Zudem habe sie „die Jungs im Griff“ gehabt.
Für Röpke stellen solcherlei Schilderungen einen Widerspruch dar: „Selbstbewusstsein ist das Gegenteil von jemandem, der an der Störung leidet.“ Und durchsetzungsstark zeigte sich Zschäpe auch im Prozess wiederholt, als sie versuchte, ihren Altanwälten Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm die Verteidigungsstrategie zu diktieren. Als das nicht funktionierte, erklärte sie ihnen das Misstrauen und beantragte mehrmals erfolglos die Entlassung der drei. Heute spricht sie kein Wort mehr mit ihnen.
„Kämpferische Selbstbehauptung“
Der vom Gericht bestellte Gutachter Henning Saß kam dann auch zu einer vollständig anderen Einschätzung. Er bemerkte an Zschäpe Fähigkeiten „zur kämpferischen Selbstbehauptung, zu einer nahezu feindselig durchgehaltenen Beharrlichkeit und zum erfolgreichen Durchstehen massiver zwischenmenschlicher Konfliktlagen“.
Dabei stützt er sich allerdings vornehmlich auf Beobachtungen aus der Zeit des Prozesses. Könnte Zschäpe die Störung überwunden haben? Ihre Anwälte scheinen davon auszugehen. In ihrem Antrag sprechen sie über ihr Leiden in der Vergangenheitsform. Wohl nicht ohne Grund: Befindet das Gericht die Angeklagte wegen einer psychischen Erkrankung für weiterhin gefährlich, droht ihr statt Gefängnis die Psychiatrie – auf unbestimmte Zeit.
Eine Spontanheilung hält Röpke aber für höchst unwahrscheinlich. Persönlichkeitsstörungen manifestierten sich oft bereits im Jugendalter und würden nicht mit der Zeit verschwinden – erst recht nicht ohne intensive therapeutische Behandlung.
Diese Zweifel wird das Gericht beachten müssen, wenn es die Bedeutung von Bauers Aussage bemisst. Dass die Richter dem Psychiater die Ladung als Sachverständigen verweigert hatten, zeigt, dass sie auf seine Meinung wohl keinen gesteigerten Wert legen.