Er warnte schon vor den Gefahren des Rechtsextremismus, als in Jena gerade der NSU entstand: Der Jugendpfarrer Lothar König erinnert sich, wie wenig die Stadt den Radikalen damals entgegenzusetzen hatte.
Seine Markenzeichen sind Rauschebart, Sandalen und Aufsässigkeit: Lothar König, 63, ist evangelischer Pfarrer in Jena und Leiter der Jugendgemeinde. Er war immer schon ein Mahner gegen Rechtsextremismus – in der Stadt, in der auch Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihre Jugend verbrachten und aus der sie 1998 nach Sachsen in den Untergrund flohen. Die Neunzigerjahre, in denen Nazisprüche unter vielen Jugendlichen salonfähig wurden, hat König noch gut in Erinnerung.
ZEIT ONLINE: Pfarrer König, Sie betreuen Jugendliche in Ihrer Gemeinde. Sind sich junge Leute dieser Tage der Schrecken des NSU-Terrors bewusst?
Lothar König: Diejenigen in der Gemeinde schon. Die wissen, was gelaufen ist. Für andere gilt das, was auch auf einen großen Teil der Bevölkerung zutrifft: Die Geschichte hat wenig mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun. Die sehen höchstens den Mammutprozess in München, der langwierig und teuer erscheint. Es fehlt Verständnis.
ZEIT ONLINE: Jena ist gewissermaßen die Keimzelle des NSU. Man könnte erwarten, dass es dort ein geschärftes Bewusstsein für Rechtsextremismus gibt.
König: Das gibt es auch. Hier haben rechte Gruppierungen, wozu ich auch die AfD zähle, bei Demos zehnmal so viele Gegendemonstranten. Anderswo in der Gegend ist das nicht so. Jena ist in der Hinsicht so etwas wie die letzte Bastion in Thüringen.
ZEIT ONLINE: War das in den Neunzigerjahren, der Jugendzeit von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, auch schon so?
König: Nein, damals herrschte ein anderes Klima. Mit meiner Jungen Gemeinde habe ich damals schon mit Berichten und Gedächtnisprotokollen versucht, auf den Rechtsextremismus in Jena aufmerksam zu machen. Woraufhin wir in der Stadt als Nestbeschmutzer galten. Der Stadtrat hat uns Fördergelder gestrichen. Man hat versucht, kritische Stimmen ruhigzustellen. Wenn wir in Schulen gegangen sind, hat man uns nur müde lächelnd empfangen und gesagt: „Wir haben hier kein Problem.“ Es hat höchstens mal geheißen: Das ist ein soziales Problem, da sollen sich die Sozialarbeiter drum kümmern.
ZEIT ONLINE: Davon gab es ja welche im Winzerclub – der Jugendeinrichtung, in der die späteren NSU-Mitglieder damals verkehrten.
König: Die waren völlig überfordert. Da gab es viel zu wenig Unterstützung. Mitte der Neunzigerjahre haben sich die Rechten professionalisiert: Aus der Jugendbewegung wurde eine politische Bewegung. Da war es zu spät. Aber das wollte keiner wahrhaben.
ZEIT ONLINE: Hat sich der Umgang mit dem Thema grundlegend gewandelt?
König: Ja. Etwa ab der Jahrtausendwende ist in der breiten Fläche ein Bewusstsein dafür aufgekommen. Trotzdem herrschen vielfach noch falsche Bilder vor. Manche denken, Neonazis seien nur glatzköpfige Skinheads. Vielerorts fehlt auch einfach die Initiative gegen Rechts. In diesen Zeiten ist bei vielen Jugendlichen die Kraft, etwas zu bewegen, ziemlich angekratzt.
ZEIT ONLINE: Glauben Sie, dass heute wieder ein NSU entstehen könnte?
König: Versuche, aus dem Untergrund gegen den Staat zu kämpfen, hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Trotzdem würde ich den NSU als Jahrhundertereignis bezeichnen. Da ist ja vieles zusammengekommen – die Fehler der Behörden bei der Suche nach den Untergetauchten: Das sind mir zu viele Zufälle. Das ist ein Fehler im System. So lange wir den nicht erkennen, kann es immer wieder zu so etwas kommen.