In der Beweisaufnahme am 77. Verhandlungstag brachte ein Forensiker viele grausige Details zur Sprache. Im Anschluss warf die Vernehmung eines BKA-Beamten ein kritisches Licht auf die Recherchen nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Gerichtsmediziner Heinz-Dieter Wehner aus Tübingen stellte das Geschehen vom April 2007 im Computer nach. Dabei analysierte er, wo die Schützen neben dem Polizeiauto gestanden hatten und aus welcher Entfernung sie geschossen haben könnten. „Vieles bleibt vage, nur eines ist für den Gutachter klar: Die Täter können nicht allzu klein gewesen sein“, resümiert Tanjev Schultz in der Süddeutschen Zeitung.
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Eine der wichtigsten Erkenntnisse: Uwe Mundlos feuerte auf Kiesewetter, während Uwe Böhnhardt auf ihren Kollegen Martin A. schoss, der schwer verletzt überlebte. An Mundlos‘ Jogginghose fanden Ermittler Jahre später Blut von Kiesewetter, sie war nie gewaschen worden. Offenbar diente das Kleidungsstück den Extremisten als Trophäe.
„Der Satz, dass die Opfer vor Gericht ein zweites Mal sterben, gilt am Mittwochvormittag auch vor dem 6. Senat des Münchner Oberlandesgerichts“, kommentiert Martin Debes in der Thüringer Allgemeinen. Er beschreibt, wie akribisch Wehner damals die Situation am Tatort rekonstruierte. „Umso bitterer ist die Erkenntnis, dass man jahrelang ein Phantom jagte“ – nämlich die Verursacherin falscher DNA-Spuren, die in einer Fabrik für Wattestäbchen auf die Probenträger gelangt waren.
Nach dem Gutachter waren die Ermittler an der Reihe. Insbesondere ein Mitarbeiter des Bundeskriminalamts geriet dabei in den Fokus der Nebenkläger, die ihm Unzulänglichkeiten bei den Ermittlungen vorwarfen. In seiner Aussage trat Martin G. mehreren Verschwörungstheorien entgegen, die sich um den Mord ranken, er habe „alles dementiert, was nicht zur Anklage der Bundesanwaltschaft passt“, schreibt Frank Jansen im Tagesspiegel. Nahezu alle Berichte über diesen Prozesstag setzen sich mit den Merkwürdigkeiten auseinander. Jansen listet fünf Fälle auf, die als Behördenversagen oder gar staatliche Eingriffe interpretiert werden können: So war ein Gruppenführer der Böblinger Bereitschaftspolizei, der Kiesewetter angehörte, Mitglied des europäischen Ku-Klux-Klan-Ablegers. Dieser habe sich jedoch vor ihrem Eintritt in den Polizeidienst aufgelöst, sagte der Zeuge.
Weitere Auffälligkeiten: Ein Ku-Klux-Klan-Aktivist war auf einer Adressliste verzeichnet, die Polizisten in der als Bombenwerkstatt genutzten Garage von Beate Zschäpe fanden. Ein Schwager des Mitangeklagten Ralf Wohlleben betrieb eine Gaststätte in Kiesewetters Heimatort in Thüringen. Ein US-Geheimdienst observierte laut einem Bericht des Stern ein Mitglied der islamistischen Sauerland-Gruppe nahe des Tatorts. Eine Überwachungskamera in Bahnhofnähe soll Bilder des NSU-Trios aufgezeichnet haben. All diese Möglichkeiten bezeichnete G. als falsch. Er habe erwartet, dass man ihm vor Gericht glaubt – „das war ein Irrtum. Mehrere Nebenklage-Anwälte löcherten ihn mit Fragen. Und der Beamte hatte nicht auf alle eine Antwort“, schreibt Jansen. Die Aussagen wurden „von etlichen Prozessbeteiligten mit Kopfschütteln quittiert“, beobachtet Debes.
Zumindest das Motiv wird mit jedem Prozesstag klarer: Die Extremisten wollten Polizisten als Repräsentanten des Staats ausschalten. Die Pläne waren offenbar wesentlich weiter gediehen, als es der letztlich einzige Polizistenmord der Serie vermuten lässt. Im Schutt der ausgebrannten Wohnung des Trios in Zwickau fanden die Ermittler vier Pläne von Städten in Baden-Württemberg. Auf einer Karte von Stuttgart waren mehrere Stellen mit dem Buchstaben P markiert – dabei handelte es sich um aktuelle oder ehemalige Polizeidienststellen, wie Björn Hengst auf Spiegel Online berichtet.
Auch mit dem Zusammenhang zwischen dem Heilbronner Mord und dem letzten Banküberfall in Eisenach am 4. November 2011 setzte sich der Strafsenat auseinander. Damals erschossen sich Mundlos und Böhnhardt im Wohnmobil, anschließend fanden Polizisten Kiesewetters Pistole darin. Eine der Erkenntnisse der Beweisaufnahme: Mundlos und Böhnhardt hätten gewollt, dass die Waffe der Polizistin im Fall ihrer Entdeckung zuerst gefunden wird. „Es soll ein Fanal sein: Schaut alle her. Wir sind die Polizistenmörder. Und so kommt es schließlich auch“, schreibt Stefan Geiger in der Stuttgarter Zeitung. Das postume Bekenntnis ist das Ergebnis einer ausgeklügelten Strategie: Der NSU habe den Staat umwälzen wollen. „Dafür braucht es keine Bekennerschreiben, aber der Terror muss als Terror erkennbar sein.“
Keine Berichte in englischsprachigen Onlinemedien.
Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, 24. Januar 2014.