Das Gericht im NSU-Prozess beschäftigt sich erneut mit der Pistole, die bei den neun Migrantenmorden zum Einsatz kam. Doch die Waffenkammer des NSU war viel größer – und für die drei ein Zeichen ihrer Überlegenheit.
49 Kilopond. Hinter dieser Maßeinheit aus der Physik verbirgt sich ein Psychogramm des NSU. 49 Kilopond beschreiben die Energie, die man braucht, um einen 49 Kilogramm schweren Gegenstand vom Boden zu heben. Mit dieser Kraft riss Uwe Böhnhardt am 25. April 2007 eine Sicherheitslasche vom Holster des Polizisten Martin A., um an dessen Dienstpistole zu kommen. Mit ein oder zwei Fingern muss Böhnhardt diese Energie aufgebracht haben. Offenbar zerrte er wie besessen an dem Holster, während sich die scharfkantige Lasche schmerzhaft in seine Haut drückte.
Die Polizeiwaffe war für den NSU die ultimative Trophäe, Zeichen eines Siegs über die Staatsgewalt. Nur so ist zu erklären, dass Böhnhardt sich überhaupt damit aufhielt, die Pistolentasche zu öffnen, statt schnellstmöglich zu flüchten. Denn zuvor hatte er gemeinsam mit seinem Kameraden Uwe Mundlos auf Martin A. und dessen Kollegin Michèle Kiesewetter geschossen – die beiden Schützen verübten den Polizistenmord von Heilbronn. Kiesewetter starb, bevor die Rettungskräfte kamen, A. überlebte mit schweren Verletzungen.
Mundlos stahl bei dem Überfall Kiesewetters Pistole, nur entriegelte er die Halterung sachgerecht mit einem Knopfdruck. Die Kraft, die Böhnhardt aufgewendet haben muss, rekonstruierte ein Sachverständiger, der in der vergangenen Woche im NSU-Prozess aussagte. Er selber, fügte der Gutachter hinzu, konnte ein identisches Holster nicht mit den Fingern öffnen. Um auf die Zahl von 49 Kilopond zu kommen, musste er einen Flaschenzug verwenden.
Im Prozess wird immer deutlicher, dass Schusswaffen mehr als ein Werkzeug waren, mit dem Mundlos und Böhnhardt die rassistische Mordserie ausführten. Tatsächlich pflegten sie und Beate Zschäpe eine regelrechte Obsession für Waffen. Bei den zehn Morden kamen insgesamt vier Pistolen zum Einsatz, sieben Mal davon ausschließlich das Modell Ceska 83 aus tschechischer Produktion.
Diese Waffen bilden jedoch nur einen Bruchteil des Arsenals ab, das die drei horteten: 20 Pistolen, Revolver und Gewehre hatten sie angehäuft. Auch Munition war reichlich vorhanden, insgesamt mehr als 1.600 Schuss – einzelne Patronen und komplette Magazine fanden sich in der ganzen Wohnung. Teilweise lagerten sie in Hautcreme- und Schokoladenverpackungen.
Acht der Waffen fanden Polizisten in dem Wohnmobil, in dem sich Mundlos und Böhnhardt nach einem missglückten Banküberfall am 4. November 2011 in Eisenach erschossen hatten. Welchen Grund hatten sie, bis an die Zähne bewaffnet zu einem Überfall aufzubrechen, wie sie ihn schon 14-mal zuvor verübt hatten? Jederzeit für eine kompromisslose Konfrontation gewappnet zu sein, war wohl kaum die Motivation: Die Täter schossen aus einer Maschinenpistole auf zwei Streifenbeamte, die sie gestellt hatten. Nach einer Ladehemmung gaben sie auf und richteten sich selbst, statt den restlichen Bestand zu nutzen, um sich einen finalen Kampf mit der Polizei zu liefern.
Vielmehr berauschten sich die drei an den Waffen als solchen, um sich die vermeintliche Überlegenheit über den Staat zu bestätigen. In der letzten Wohnung des NSU in Zwickau fanden die Ermittler auch die Radom VIS 35, die Pistole, mit der auf Martin A. geschossen worden war. Die Waffe trug einen Stempel der Wehrmacht, die sie während des Zweiten Weltkriegs in Polen produziert hatte. Die Nazitruppe kämpfte mit den Waffen ihrer historischen Vorbilder.
Schon zu Beginn des NSU bemühten sich die drei, bei der Waffenbeschaffung auf nationale Produktion zurückzugreifen. Von ihrem Helfer Carsten S., der heute mit Zschäpe auf der Anklagebank sitzt, forderten sie um die Jahrtausendwende eine Pistole, die „möglichst deutsches Fabrikat“ sein sollte. Das sagte S. nach seiner Festnahme den Ermittlern. Ein heimisches Modell war jedoch auf die Schnelle nicht aufzutreiben, es wurde die tschechische Ceska samt Schalldämpfer.
Durch Schüsse aus der Waffe starben neun Migranten zwischen 2000 und 2006. Wie die Ceska in die Hände der mutmaßlichen Terroristen gelangte, untersucht das Gericht in München dieser Tage. Geladen sind insgesamt vier Zeugen, davon zwei am Dienstag, die am Transport der Mordpistole beteiligt sein sollen. Stimmt das, dann waren diese Männer nicht nur Laufburschen, sondern Gehilfen für das wichtigste Ziel des NSU: mit einer Waffe ein ganzes Land in Angst zu versetzen.