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Das Schnittmuster rechtsextremen Terrors

 

Ein Mord in Berlin, eine neue Terrorgruppe und das Oktoberfestattentat: Drei Taten lassen auf Vorbilder und Nachahmer des Nationalsozialistischen Untergrunds schließen.

Der Täter spricht kein Wort, als er die Waffe zieht. Mehrere Schüsse hallen eine halbe Stunde nach Mitternacht am 5. April 2012 durch die Rudower Straße im Berliner Bezirk Neukölln. Sie gelten einer Gruppe von fünf jungen Männern – Kumpels, die durch die Nacht ziehen. Burak, Alex, Jamal, Seltunc und Ömer. Rettungskräfte kommen an einen blutigen Tatort. Alex A. und Jamal A. sind schwer verletzt, Notoperationen retten ihr Leben. Der 22 Jahre alte Burak Bektaş ist tot. Sein Mörder ist unbekannt, er läuft bis heute frei herum.

Die Geschichte klingt, als wäre sie schon einmal erzählt worden: ein Mord mit Pistole, das Opfer mit Migrationshintergrund, kein erkennbares Motiv. So liefen die Taten ab, die dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeschrieben werden. Die Gruppe aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ist laut Anklage im NSU-Prozess für den Tod von neun türkisch- und griechischstämmigen Männern verantwortlich, zudem für den Mord an einer deutschen Polizistin.

Ist die Tat von Neukölln eine Nachahmung der NSU-Morde? Anhaltspunkte dafür sieht Mehmet Daimagüler, der Anwalt der Familie Bektaş und zugleich Nebenklagevertreter im Münchner NSU-Verfahren. „Ich sage nicht, dass der Täter ein Neonazi sein muss. Aber ich schließe auch keine Nachahmertat aus“, sagt Daimagüler. In Neukölln gab es nicht einmal einen Wortwechsel – und auch kein Bekennerschreiben. Ein Video, in dem die Terrorzelle NSU sich mit den Gewalttaten brüstete, hatte auch Beate Zschäpe erst verschickt, als ihre beiden Komplizen im November 2011 Selbstmord begangen hatten.

Die rechtsextreme NSU-Gruppe hatte es von Anfang an darauf angelegt, Nachahmer anzustiften. Dafür spricht etwa ein Brief, den die drei nach ihrer Flucht in den Untergrund Ende der neunziger Jahre an Unterstützer geschickt hatten. In Neonazi-Kreisen bekunden noch heute viele ihre Unterstützung für die Angeklagten, bei einer Demonstration forderten sie gar die Freilassung des in Untersuchungshaft sitzenden Ralf Wohlleben. Er ist dringend verdächtig, eine der Tatwaffen des Trios beschafft zu haben.

War es also nur eine Frage der Zeit, bis fanatische Rechte die Taten als Vorbild nehmen, um mit der Waffe einen Umsturz in Deutschland zu forcieren? Ein Beweis dafür steht noch aus, die Möglichkeit besteht aber sicherlich. Über 700 Taten aus 22 Jahren ließ das Bundesinnenministerium nach Bekanntwerden des NSU auf einen rechtsextremen Hintergrund prüfen. Daimagüler fordert, dass der Fall Bektaş mit diesen Taten verglichen wird. „Das wurde bisher nur so 08/15 untersucht“, sagt der Anwalt.

Ungleich intensiver lief die Fahndung anscheinend, als Anfang des Monats eine mögliche Kopie der Zwickauer Terrorzelle offenbar wurde: Im Auftrag der Bundesanwaltschaft durchsuchten Ermittler in mehreren Bundesländern Wohnungen von zehn Verdächtigen, die einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim im sächsischen Borna geplant haben sollen. Das Netzwerk firmierte unter dem Namen Oldschool Society, kurz OSS. Vier mutmaßliche Mitglieder der rechtsextremen Gruppe wurden verhaftet.

Sie bekundeten ihren Hass auf Ausländer ganz offen, mit Grundsatzpapier und Facebook-Gruppe. „Entfache das Feuer der Wahrheit“, steht als Slogan darübergeschrieben. Die Umsetzung des Mottos lief jedoch im Geheimen ab: Im Ausland hatten sich OSS-Mitglieder Pyrotechnik mit enormer Sprengkraft besorgt.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sah in der enttarnten Extremistengruppe die „erste Vereinigung nach dem NSU“. Tatsächlich sind Parallelen zwischen OSS und NSU deutlich erkennbar. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt flüchteten 1998, nachdem die Polizei ihre Bombenwerkstatt in Jena ausgehoben hatte. Mindestens zwei Bombenanschläge gehen auf das Konto des NSU. In ihrem Selbstverständnis beschränkte sich die Gruppe nicht auf drei Mitglieder – sie sah sich ausweislich einer Botschaft in ihrem Bekennervideo als „ein Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz ‚Taten statt Worte'“.

Eine ähnliche Rhetorik pflegt Andreas H., den die Fahnder als Kopf des OSS identifiziert haben: „Müde Parolen gehören der Vergangenheit an“, hieß es auf der Facebook-Seite der Vereinigung. Sowohl OSS als auch NSU griffen auf ein Netz aus Kameraden zurück, die die Ideen eines eingeschworenen Kerns teilten – und ihn in einigen Fällen auch direkt unterstützten.

Ganz ähnlich war die Situation wahrscheinlich bei einer Gewalttat, die etwas länger zurückliegt: Am 26. September 1980 sprengte sich der Rechtsextremist Gundolf Köhler am Eingang des Münchner Oktoberfests mit einer Rohrbombe in die Luft und riss zwölf Menschen mit in den Tod. Der Anschlag könnte ein Vorbild für die Serie des NSU gewesen sein, obwohl er auf den ersten Blick ganz anders wirkt. Bis vor Kurzem ging die Bundesanwaltschaft fest davon aus, dass Köhler als Einzeltäter handelte.

So sieht es die Anklagebehörde bis heute auch beim NSU: Verantwortlich war demnach eine isoliert handelnde Gruppe – obwohl Erkenntnisse aus dem Prozess darauf deuten, dass Unterstützer bis hin zum Straftatbestand der Mittäterschaft darin verstrickt waren. Und auch beim Münchner Anschlag ist die Einzeltäter-These nur schwer haltbar: „Alle sind sich sicher: Es muss Mittäter gegeben haben“, sagte vor einer Woche der Opferanwalt Werner Dietrich in einer Diskussionsrunde.

Gundolf Köhler, ein glühender Neonazi und Antisemit, war Mitglied der Wiking-Jugend, einer rechtsextremen Jugendorganisation. Über diese kam er in Kontakt mit der Wehrsportgruppe Hoffmann, bei der er an paramilitärischen Übungen teilnahm. Auch Sprengstoff kursierte in diesen Kreisen. Denkbar ist daher, dass Köhler eine Einmannzelle bildete, die sich als Teil einer staatsstürzenden Bewegung sah. Der NSU hatte ebenfalls Kontakt zu radikalen Organisationen – in diesem Fall handelte es sich vor allem um das Netzwerk Blood & Honour, dessen Mitglieder im Verdacht stehen, Waffen geliefert zu haben.

Zu dieser Erkenntnis könnte langsam auch die Bundesanwaltschaft gelangen: Im Dezember vergangenen Jahres nahm sie die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wieder auf. Dabei könnten noch weitaus mehr Gemeinsamkeiten mit dem NSU auftauchen, als bisher bekannt.