Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt die Lebensrealität vieler Menschen in Europa auf den Kopf: Es ist eine Zeit gravierender Veränderungen. Die Industrialisierung führt zu erheblichen Fortschritten in Wirtschaft und Wissenschaft, Technik und Medizin. Damit gehen einerseits ungekannte Vereinfachungen für Alltag und Arbeit einher. Andererseits verändert sich die Arbeitswelt für viele zum Schlechten. Auf dem Land treiben die technischen Verbesserungen sowie das Bevölkerungswachstum Kleinbauern und besitzlose Tagelöhner in einen existenziellen Überlebenskampf. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, in dieser neuen, modernen Welt zu existieren, ziehen daher Unzählige vom Land in die Städte.
Diese können den immensen Zulauf kaum auffangen. Das in der Stadt etablierte wohlhabende Bürgertum muss sich damit arrangieren, dass neben ihm eine breite Schicht prekär lebender Fabrikarbeiter entsteht, auch Proletariat genannt. Soziale Spannungen zwischen den Schichten sind vorprogrammiert. Auch in ideeller Hinsicht verändert sich die Gesellschaft: Neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften stellen das christliche Weltbild infrage. Traditionelle Werte und Institutionen wie die Ständegesellschaft oder die Großfamilie verlieren zunehmend an Allgemeingültigkeit.
Als 1848 die Märzrevolution scheitert und damit die Aussicht auf eine breite politische Mitgestaltung in weite Ferne rückt, scheinen alle Hoffnungen und Ideale der Bürgerlichen infrage gestellt. Das bürgerliche Selbstverständnis ist endgültig angeschlagen. Aus der ideellen Haltlosigkeit geht eine Sehnsucht nach neuer Verankerung hervor. Das Bürgertum muss sich in der Welt neu verorten.
Kunst – aus dem Leben gegriffen
Die Philosophie von Karl Marx trifft den Nerv der Zeit: Seinem Historischen Materialismus zufolge bestimmen die materiellen Lebensumstände einer Epoche grundlegend, was gedacht werden kann. Veränderte Lebensbedingungen bewirken demnach stets ein Umdenken in der Gesellschaft. Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, reagieren Kunst und Literatur also zwangsläufig mit einer veränderten künstlerischen Bezugnahme auf neue materielle Lebensbedingungen. Was bedeutet dies zu jener Zeit für das literarische Schaffen im deutschsprachigen Raum? In welcher Form reagieren Schriftsteller auf die neuen Lebensverhältnisse?
Beides, die Lebensrealität des Menschen und die naturwissenschaftliche Betrachtung der Welt, avanciert zum literarischen Motiv der Epoche. Gleichzeitig distanzieren sich Schriftsteller von den klassizistischen oder romantischen Anschauungen früherer Generationen, welche eine ästhetische Erziehung zur Harmonie zwischen Geist und Welt oder auch eine zeitlose Universalpoesie anstrebten. Im Realismus gilt das Ideal der Authentizität. Kunst und Leben sollen nicht mehr voneinander getrennt werden. Als gelungen gilt in dieser Zeit ein Werk, wenn seine Erzählung das Kriterium der Wahrscheinlichkeit einhält: Ist es denkbar, dass sich die Geschichte so in der realen Welt abspielen könnte? Berücksichtigt sie die Regeln der Welt da draußen?
Poetischer Realismus – Das nackte Leben schön gestaltet
Obwohl die Kunstauffassung des Realismus Erfahrungswirklichkeiten ins Zentrum rückt, geht es ihr nicht allein um die Abbildung der Realität – erst der radikalere Naturalismus wird genau das von den Schriftstellern fordern. Besonders im deutschsprachigen Raum setzt sich vorerst der sogenannte poetische Realismus durch. Der Schriftsteller Otto Ludwig prägt den Begriff. Der poetische Realismus fordert zwar die Auseinandersetzung mit der nüchternen Realität, verzichtet aber weder auf Kunstgriffe noch auf Poetik. Vielmehr streben seine Vertreter nach einer dichterischen Ausgestaltung und Überhöhung der Wirklichkeit – erst der Künstler bringt das Schöne hervor und formt es. Kritiker sprechen diesbezüglich auch von einer „Verklärung“ der Wirklichkeit.
Otto Ludwig selbst charakterisiert in diesem Zusammenhang realistische Dichtung als eine „Poesie der Wirklichkeit, die nackten Stellen des Lebens überblumend […] durch Ausmalung der Stimmung und Beleuchtung des Gewöhnlichsten im Leben mit dem Lichte der Idee“. Der Künstler soll in der Banalität des Alltäglichen das Besondere ausmachen, es hervorheben und überzeichnen. Unschwer finden sich in realistischen Romanen bestimmte Techniken der Ästhetisierung. So spielen die Realisten in Ortsbeschreibungen oft symbolisch auf das Innenleben der Figuren an. Ein vielzitiertes Beispiel hierfür ist das Schaukelmotiv in Theodor Fontanes Roman Effi Briest. Gleich auf der ersten Seite des Romans führt Fontane in den detaillierten Beschreibungen des herrschaftlichen Schauplatzes Effis alte Kinderschaukel ein:
„Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing – die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige alte Platanen.“
Gerade im Kontrast zum ansonsten wohl geordneten und bodenständigen Herrenhaus symbolisiert die Schaukel mit dem schiefen Balken vorausdeutend die abenteuerlustige, kindliche und leichtsinnige Persönlichkeit der Protagonistin. In einem Brief vom 18. August 1880 schreibt Theodor Fontane: „Das erste Kapitel ist immer die Hauptsache und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinahe die erste Zeile […]. Bei richtigem Aufbau muss in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken.“ In dieser Aussage Fontanes schwingt also die Aufforderung an die Leserschaft mit, einen besonders intensiven Blick auf die Romananfänge zu werfen: Dort könnten Vorausdeutungen in Bezug auf Handlung und Figurencharaktere versteckt sein.
Der Einzelne im Fokus
Die Protagonisten müssen nicht immer, wie bei Effi Briest, dem Großbürgertum entspringen. Auch die Sorgen des kleinbürgerlichen Alltags finden Eingang in die realistische Literatur. Bisweilen sprechen Kritiker auch vom „bürgerlichem Realismus“. In den Fokus rücken alltägliche menschliche Probleme von Einzelnen, die in einen möglichst konkreten gesellschaftlichen und historischen Kontext eingebettet werden. Auf diese Weise ist die Handlung meist lokal und zeitlich eindeutig zu verorten. Da die Sachverhalte der zeitgenössischen Leserschaft glaubwürdig erscheinen sollen, ist die Handlung meist in der Gegenwart und tatsächlichen Umgebung der jeweiligen Dichter angelegt. Eine starke Beziehung zur Heimat zeichnet die meisten realistischen Erzählungen aus. Schließlich sind Realisten der Überzeugung, dass das unmittelbare Umfeld das glaubhafteste Setting für realistische Erzählungen darstellt. So erfährt auch die Erzählform der Dorfgeschichte, die noch aus der Zeit des Biedermeier stammt und in der das dörfliche und bäuerliche Leben zum Thema gemacht werden, im Realismus einen weiteren Höhepunkt.
Ebenso wie die Erzählhandlung durch ortsgenaue Schauplätze auf dingfesten Boden gestellt wird, werden auch die Protagonisten greifbarer: Sie sollen keine entrückten Luftgestalten mehr sein. Die psychologische Komponente gewinnt an Bedeutung. So finden sich klar strukturierte Einblicke in das Innenleben der Figuren, und die Handlungsabläufe lassen sich kausal begründen. Eines der großen Konfliktthemen des Realismus sind die Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft, wobei nicht die Masse, sondern die Persönlichkeit des Einzelnen ins Zentrum der Betrachtung rückt. Mit dieser Hinwendung zum Alltäglichen und Privaten formiert sich der Realismus darüber hinaus als Gegenbewegung zur Literatur des Vormärz, welche sich den öffentlichen politischen Kampf auf die Fahne geschrieben hat.
Unparteiisches Beobachten
Obwohl die Schriftsteller dieser Epoche Wert darauf legen, die Gefühlswelt der Figuren hinlänglich zu beleuchten, bleibt das Ideal realistischen Erzählens eine größtmögliche Objektivität. Diese wird häufig durch auktoriales Erzählverhalten umgesetzt. Das Selbstbild eines realistischen Dichters kommt einem illusionslosen Beobachter gleich, der seine Erfahrungen im Detail und ohne Parteinahme schildert. Gefühle und Meinungen des Autors bleiben außen vor. Darüber hinaus schaffen humorvolle Einschübe und ironische Zwischentöne bisweilen eine Distanz zum Erzählten. Der Realismus bedient sich daher mit Vorliebe einfacher, erzählender Gattungen, vor allem des Romans und der Novelle. Drama und Lyrik spielen in der Epoche des Realismus nur marginale Rollen.
Charakteristisch für viele Novellen jener Zeit sind distanzierende Rahmentechniken. Eine solche findet man etwa bei Theodor Storms Schimmelreiter. Hier gibt es drei Erzählebenen, welche uns anschaulich vorführen, wie die Spukgeschichte über den Schatten eines mysteriösen Reiters von Mund zu Mund geht. Die mehrfache Überlieferung nimmt der Geschichte jedoch ihr geheimnisvolles Pathos. Im Endeffekt hat keine der Erzählstimmen die eigentliche Geschichte selbst erlebt – der gespenstische Schimmelreiter lebt von der Wiedergabe der Sage. Mithilfe von Einblicken in das Innenleben der Figuren lassen sich die gruselig anmutenden Geschehnisse psychologisch deuten. In der unaufgeregten und nüchternen Darstellung des Aberglaubens der nordfriesischen Bevölkerung, welche mit einem Bein noch in der Schauerromantik steht, führt Storm einer heutigen Leserschaft spielerisch und plastisch die Gegensätze zweier Literaturepochen vor Augen: der vor der Ratio davongaloppierenden Romantik sowie des Chimären jagenden Realismus.
Wichtige Autoren und Werke des Realismus
Theodor Storm – Der Schimmelreiter; Immensee; Hans und Heinz Kirch
Theodor Fontane – Effi Briest; Irrungen, Wirrungen; Frau Jenny Treibel; Der Stechlin
Gustav Freytag – Soll und Haben
Gottfried Keller – Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla; darunter: Romeo und Julia auf dem Dorfe; Kleider machen Leute
Wilhelm Raabe – Der Hungerpastor; Zum wilden Mann
Adalbert Stifter – Bergkristall; Der Nachsommer; Bunte Steine
Otto Ludwig – Zwischen Himmel und Erde
Friedrich Hebbel – Maria Magdalene (Drama)
Jeremias Gotthelf – Die schwarze Spinne
Conrad Ferdinand Meyer – Das Amulett; Gustav Adolfs Page
Ausgewählte Artikel und Materialien zur Literatur des Realismus
Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe Online (LiGo.de)
LiGo ist ein Selbstlernkurs zu literaturwissenschaftlichen Grundbegriffen. Die Analyseformen für Erzähltexte (z.B. Romane) und Lyrik werden im Detail erläutert und die Kunst der Rhetorik erklärt. Was ist ein Akt, was eine Szene? Welche Erzählformen gibt es und was ist die Erzählstimme? Was ist die semantische Ebene eines Gedichts und was die narrative Struktur? Was bedeuten Alliteration, Anapher, Parallelismus und Klimax in Texten?
Epochenüberblick Realismus (digitale-schule.de)
Dieser Epochenüberblick beschreibt die verschiedenen Romanarten des Realismus, nennt berühmte Autoren und Werke und erklärt, wie Lyrik, Epik und Drama im Realismus aussahen.
Der Realismus-Begriff (Universität Bielefeld)
Zur Entstehung des Realismus-Begriffs, zur Bedeutung der Kategorien Wahrscheinlichkeit und Wesentlichkeit für den Realismus. Dieser digitalisierte akademische Aufsatz erzählt euch mehr über die Herkunft und die Bedeutung des Begriffs Realismus.
Theodor Fontane
Lauter Innstettens, überall (DIE ZEIT Nr. 07/2003)
Warum die Figuren aus Effi Briest auch heute noch von bestürzender Gegenwärtigkeit sind. Warum sind wir immer noch unglücklich und leben doch noch nicht anders?
Fontanes Effi: Heute ein Missbrauchsopfer (DIE ZEIT Nr. 15/2013)
Welche Relevanz hat Effi Briest noch über 100 Jahre später? Was können wir heute, in einer Zeit viel freierer Liebe, aus dem Roman ziehen? Was wäre der heutige Skandal?
Lob des Eigensinns: Theodor Fontane (DIE ZEIT Nr. 47/2009)
Inwiefern kann uns die Person Theodor Fontane als Vorbild dienen? Ein Beispiel dafür, dass man als Individuum immer auch anders kann als die Konventionen es von einem verlangen.
Fontane zwischen Freigeist und Seriosität (BR Klassiker der Weltliteratur, 06.11.2012)
Fontane lebte im Widerspruch: Einerseits sehnte er sich danach, seine Meinung frei und ironisch äußern zu dürfen. Andererseits schrieb er für die reaktionäre Kreuz-Zeitung, die Otto von Bismarck mitgegründet hatte. Als Romanautor trat er erst sehr spät im Leben auf, dafür aber mit Erfolg.
Theodor Fontane: Das Poetische hat immer Recht (BR RadioWissen, 23.08.2011)
Wie können Sicherheitsbedürfnis und künstlerisches Schaffen verbunden werden? Wie Fontane zu einem bürgerlichen Schriftsteller wurde.
Theodor Storm
Theodor Storm Gesellschaft
Hier kann man Theodor Storm und sein Werk kennenlernen. Es gibt Informationen zu Gesamtwerk und Biografie, vertiefende Materialien und detaillierte Interpretationen einiger seiner Werke.
Der Schimmelreiter – oder: Der Fluch über der Aufklärung (Humboldt Gesellschaft)
Theodor Storms Schimmelreiter ist stark von Landschaft und Gesellschaft in Norddeutschland, vor allem der Gegend um Husum, geprägt. Der Autor gibt Einblick in Theodor Storms Gedankenwelt und interpretiert einige Gedichte Storms so wie den Schimmelreiter.
Theodor Storm: Die Stadt
Auch wenn Lyrik im Realismus nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist das Gedicht Die Stadt von Theodor Storm ein Klassiker, welches die emotionale Verbundenheit des lyrischen Ichs mit der tristen, grauen Stadt aufzeigt. Hier gelesen von Fritz Stavenhagen (YouTube).
Theodor Storms Immensee (BR RadioTexte, 29.06.2013)
Gelesen von Joachim Höppner.
Gottfried Keller
Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe (BR RadioWissen, 27.01.2012)
Gottfried Kellers “Romeo und Julia auf dem Dorfe” ist eine Novelle des poetischen Realismus. Keller erzählt die altbekannte Geschichte einer Liebe, die nicht sein darf, weil gesellschaftliche Werte und Normen ihr im Wege stehen. Im Radiobeitrag erzählen die Sprecher, warum seine Erzählung nicht einfach eine Nacherzählung von Shakespeares Original ist.
Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (DIE ZEIT Nr. 13/1979)
Kein großer Roman deutscher Sprache hat eine im Sinn bürgerlicher Disziplin so bemühende Entstehungsgeschichte.
Bürger, Poet und Egozentriker (DIE ZEIT Nr. 39/1970)
Das oft verharmloste, doppelbödige Werk Gottfried Kellers.
Weitere Autoren des Realismus
Ein Klassiker der Weltliteratur von Fjodor Dostojewski (BR alpha, 29.11.2010)
Obwohl der Titel richtiger übersetzt „Verbrechen und Strafe“ lautet, hat sich „Schuld und Sühne“ eingebrannt. Genau wie die Geschichte des Jurastudenten Raskolnikow, die Dostojewski in seinem vielleicht berühmtesten Roman erzählt – die Geschichte eines fast perfekten Mordes. Moderiert von Tilman Spengler.
Schickt er Jesus auf den Scheiterhaufen? Dostojewskijs “Großinquisitor” (BR RadioWissen, 29.10.2013)
Fjodor Dostojewskis letzter Roman war Die Brüder Karamasow. Die drei Brüder personifizieren im Roman drei verschiedene Reifestufen des Menschen. Das berühmte Kapitel “Der Großinquisitor” ist ein Plädoyer für das Recht auf Selbstbestimmung. Im Radiobeitrag stellen die Sprecher den Autor und das Werk vor.
Honoré de Balzac – Vater Goriot (BR alpha, 14.06.2010)
Balzac kann ohne Übertreibung als Schreibwütiger gelten – obgleich er von den geplanten 137 Büchern der Comédie humaine (Die menschliche Komödie) am Ende dann doch nur 88 schrieb. Aus diesem Beitrag erfährt man mehr über seine Zeit und die Werke.
Hebbel Lebenschronik (Hebbel Gesellschaft e.V.)
Im 19. Jahrhundert haben viele Menschen ausführlich Tagebuch geschrieben und einen regen Briefkontakt mit Familie und Freunden gepflegt. So auch der Dramatiker Friedrich Hebbel, dessen Biographie hier nachvollzogen werden kann. Illustriert sind die Stationen und Erlebnisse seines Lebens anhand von Tagebuchauszügen, Briefen und Biografien.
Der Waldgänger (DIE ZEIT Nr. 43/2005)
Oberösterreich feiert den zweihundertsten Geburtstag von Adalbert Stifter, einem großen Dichter der Natur. Eine Wanderung durch das Mühlviertel auf seinen Spuren.
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