Lesezeichen
 

Nicht lesen, sondern spielen!?

Kinder sollen lesen. So lautet die einmütige Forderung von Lehrern, ambitionierten Eltern und Psychologen. Doch es wird immer schwieriger, Kind und Buch zusammen zu bringen. Die Kleinen ballern lieber auf Zombies, fliegen Kampfjets oder stapfen schwertschwingend in Fantasie-Welten herum. Kurzum: Sie spielen Videospiele. (Oder hüpfen in Castingshows herum, und beweisen nachgerade mangelnde Lesekompetenz. Egal, soll hier nicht Thema sein.)

Der amerikanische Autor PJ Haarsma will nun Computerspiel mit Roman verbinden: Seine Science-Fiction-Serie The Ring of Orbis wird zugleich online spielbar gemacht. Die Charaktere, die ganze Welt der Bücher finden sich im Spiel wieder. Der Clou: Im Spiel werden Fragen gestellt, welche nur beantworten kann, der die Bücher kennt. Der Zwang des Faktischen: Nur wer liest, kann weiter spielen.

Auch der Scholastic-Verlag, der in den USA Harry Potter veröffentlicht, hat kürzlich The Maze of Bones ins Netz gestellt – ein Online-Spiel, das sich auf der zehn Bücher langen Mystery-Serie gründet.

Das Ziel dieser Verknüpfung ist Folgendes: Es ist nicht bloß Marketing, es soll Geschichten weiter bringen als es ein Buch jemals könnte. Eine Art von neuem Erzählen, berichtet die New York Times. Dort wird gar ein Englischlehrer zitiert, ein Jay Parini, der sagt, Videospiele könnten in 20 Jahren ebenso große Universen erschaffen, wie ein Dickens- oder Dostojewski-Roman.

Hmm, also ich weiß ja nicht. Die Brüder Karamasov als Videospiel? Was meinen Sie?

 

Ist mein Hintern wirklich so dick?

Ich, der sich seit einigen Tagen durch den neuen Uwe Tellkamp liest, ächzt und auch staunt, suchte die literarische Erdennähe: Ich musste ein Buch kaufen für eine Freundin eines Freundes. Ich kenne sie kaum, aber man ist höflich. Schließlich hatte sie Geburtstag und mich eingeladen, das ist ja auch nicht selbstverständlich.

In einer großen Hamburger Buchhandlungskette hoffte ich auf Rat, eine Dame mit blauen Namenschild spulte ihr Kannischihnenirgendwiebehilflichsein ab – und da ich sagte, das Buch sei für eine mir nicht sehr bekannte Frau noch faltenfreien Alters, landeten wir nach einigen Schlenkern vor der Abteilung „Freche Frauen“.

„Hier finden Sie was!“ beschied mich die Dame mit abverkaufssicherer Stimme und nickte mir ermutigend zu.

Diese Sparte war mir dahin gänzlich unbekannt. Dabei ist sie riesengroß: drei Regale, berstend gefüllt, nur die „Klassiker“ sind größer. Aber nicht so bunt! Rosa, hellblau, malvenfarben pastellte es von den Einlegeböden, brannte sich eine neue, geheimnisvolle Welt ein. Offenbar die der modernen Frau. Nach drei, vier, fünf Titeln war jedoch klar: Hier finde ich sicher nichts, weswegen ich mich nicht später gehörig schämen müsste. Zöge man Rückschlüsse auf die Frauen nur anhand der Buchtitel, wäre das weibliche Geschlecht ausschließlich dick, auf verzweifelter Suche nach einem Mann und ständig pleite. Oft auch alles drei zusammen. Naja, bitte, hier eine Auswahl der Titel:

Die Dispo-Queen, Lizenz zum Seitensprung, Vom Umtausch ausgeschlossen, Die Schnäppchenjägerin, Da hilft nur Schokolade, Liebe mit Jojo-Effekt, Kleine Sünden zum Dessert, Halbnackte Bauarbeiter, Reich heiraten!, Club der wilden Mütter, Geht’s noch?, Die Supermamis von Manhattan, Ein unmoralisches Sonderangebot, Au Pairs – dringend gesucht!

Wer liest denn so ein Zeug? Manchmal standen die Bücher in dreifacher Ausführung im Regal. Sucht man Ovids Metamorphosen: Ha, Dasmüssenwirwohlbestellensorry. Aber freche Frauen sind immer auf Lager. Wie gesagt, drei Regale. Meinen Lieblingstitel möchte ich Ihnen auch nicht vorenthalten. Männer sollten ihn nie (!!!) ihrer Liebsten schenken. Sowieso sollte er aus sämtlichen Buchhandlungen, Antiquariaten und auch dem VZLB entfernt werden. Er heißt, das denke ich mir nicht aus: Ist mein Hintern wirklich so dick?

„Na, was gefunden?“ Die Buchhandlungsdame hatte sich geräuschlos neben mir materialisiert und guckte erwartungsvoll.
Ich stapfte an ihr vorbei, zur normalen Belletristik. Auf dem Weg – diese Buchhandlungen sind ja riesig – überlegte ich, wie eine vergleichbare Sparte für Männer aussehen müsste. Mir fiel nichts ein (bin aber immer noch für Vorschläge dankbar.)

Ach ja: Ich kaufte Franny und Zooey von J.D. Salinger. Das sollte bitte jeder einmal lesen.

 

Kinder, lest keine Fantasybücher!

So Kinder: Jetzt ist mal Schluss mit Harry Potter, Tintenblutherztod und all diesem anderen Fantasyzeug. Denkt doch mal an die Realität! Wie der Schriftsteller Klaus Kordon: „Die literarische Fantasy-Welt ist meiner Ansicht nach auch eine große Gefahr für Kinder, weil sie mit der Realität, in der sie leben, gar nicht konfrontiert werden.“ Denn: „Ich stelle mir so ein Hartz-IV-Kind vor, das nur Geschichten über Prinzessinnen und Drachen liest und die Wirklichkeit völlig ausblendet.“

Ja, so ein Hartz-IV-Kind. Vielleicht liest es gerade deswegen Fantasy, da es durch seinen Präfix ohnehin schon genug der harten Wirklichkeit teilhaftig wird? Besser als Drogen zu nehmen oder rumzulungern, könnte man meinen. Oder in Zeiten von PISA mal grundsätzlich gesprochen: Schön! Dass! Es! Überhaupt! Ähem: Liest! Und was ist mit den Saab-900-Kindern? Dürfen die noch Rowling lesen, Funke und Colfer? Weil ihre Realität so schön ist mit Blümchenkleidern, Sommerurlaub und Lederranzen, dass ihnen Drachen und Prinzessinnen nicht schaden?

Nun, was würde Kordon empfehlen? Marx, Adorno, wenigstens Brecht? Nö, nichts weiter, jetzt kriegt das Fernsehen noch sein Fett weg. Dort gebe es „eine Sehnsucht nach heiler Welt“. „Es kommt so viel Schrott im Fernsehen. Vor ein paar Jahren hätte man gesagt, das kann man nicht senden. Aber offensichtlich ist es so: Je seichter es ist, desto besser die Einschaltquote.“ Gut, soviel Gratismeinung muss drin sein.

Und die Kultur verfällt auch mal wieder: So gebe es in der Gesellschaft einen Trend „weg von allem Realistischen, Aufrüttelnden und Beunruhigenden.“ Also liebe Eltern, gebt euren Kindern beunruhigende Literatur, damit sie mal wieder auf den kratzigen Teppich unserer Gesellschaft kommen, wo Prinzessinnen in Frau-im-Koma-Zeitschriften stehen und Leute wie Herr Kordon ihnen vorschreiben können, welche Bücher sie kaufen, lesen und gut finden sollen.

 

Alles Gute, Wolf Wondratschek

Einer meiner Lieblingsautoren hat heute Geburtstag. Wolf Wondratschek wird 65 Jahre alt. Sie kennen ihn nicht? Er schuf den großartigsten Buchtitel der deutschen Literaturgeschichte: Früher begann der Tag mit einer Schusswunde. Ein Auszug:

Herzlichen Glückwunsch!

 

Kafkas Pornoschrank

Biografieforscher an vorderster Front. Erst entdeckt einer Goethes heimliche Liebe zu Anna Amalia, jetzt das: Franz Kafka las Pornos! Da graust sich der Germanist. Zumindest, wenn er vom Buch des britischen Autors James Hawes gehört hat, das gerade in England erschienen ist. Excavating Kafka heißt es, „Kafka freilegen“. Es beschreibt unter anderem, wie der Schriftsteller seine Schmuddelhefte in seinem Schrank einschloss. Den Schlüssel nahm Kafka in die Ferien mit, damit die Mutter die Sammlung nicht fand. Und Hawes will Bilder zeigen! Sexbildchen: Mit Tieren! Pfui, Franz! Die Hefte hatte er von Franz Blei – demjenigen, der die ersten Werke Kafkas 1908 veröffentlichte.

So, und jetzt atmen wir mal durch. Der Amethyst und Die Opale, so hießen die Zeitschriften. Sie erschienen um die Jahrhundertwende, Franz Blei war ihr Herausgeber. Das Groteske, das Erotische wollte er in ihnen zeigen. In den Heften standen Texte richtiger Schmuddelautoren: Goethe, Rimbaud, Wilde und Robert Walser. Die Zeichnungen kamen von Künstlern wie Alfred Kubin oder Theodor Thomas Heine. Wird Ihnen schon heiß?

Der Kafka-Biograf Reiner Stach sagt zu den Heften: „Es waren zwar pornografische Darstellungen dabei, aber Sie dürfen sich das nicht so vorstellen wie die harte Pornografie heute. Das sind Zeichnungen, keine Fotos. Das sind spielerische Darstellungen, die haben zum Teil karikaturistischen Wert.“ Die Zeitschriften waren also nicht die Praline und St.Pauli Nachrichten der Jahrhundertwende, und dass Kafka sie las, ist lange bekannt. Er hatte sie abonniert, als er 24 war. Das schrieb bereits Klaus Wagenbach vor 50 Jahren auf.

Was ist denn jetzt erstaunlich daran? Dass Kafka diese Hefte las, die damals zwar als erotisch, nicht aber als obszön galten und sogar in Bibliotheken liegen? Oder dass 100 Jahre später ein englischer Forscher, ihrer ansichtig geworden, „Porno, Porno“ schreit? Hawes sagt, er möchte endlich die Kafka-Forschung aus ihrer Verlogenheit führen, den Teppich lüften, unter dem die schmutzigen Details liegen. Er will den Mythos zerstören vom keuschen Dichter. Toll: Diejenigen, die selbst viel schlimmere Heftchen vor ihren Ehefrauen verstecken, können sich Kafka nun nahe fühlen. „Der ist ja wie ich! Den les ich jetzt!“ So bringt man die Literatur ins Volk.

Vielleicht kann Hawes aber einfach kein Deutsch lesen. Denn Kafkas schmutzige Seiten, seine Bordellbesuche, seine Flirts mit Wirtsmädchen sind doch schon längst aufgeschrieben worden. Den Schrank schloss Kafka übrigens aus anderen Gründen ab. Dort lag sein Sparbuch. Und das durften seine Eltern wirklich nicht sehen.

 

Novalis trifft Obama

Liebe Hamburger Schüler. Heute kommt Barack Obama nach Berlin (unsere Hauptstadt). Riesenhallo! Riesentrara! Das kann man überall lesen. Frank-Walter Steinmeier (unser Außenminister) darf mit ihm reden, Angela Merkel (unsere Bundeskanzlerin) auch. Es ist sozusagen Obama-Woche oder Obama-Mania, wie das manche nennen. Und zugleich Novalis-Woche! Was wäre passiert, wenn die beiden sich mal unterhalten hätten? Vielleicht das:

Novalis: „Der jetzige Streit über die Regierungsformen ist ein Streit über den Vorzug des reifen Alters, oder der blühenden Jugend.“

Barack Obama: „Wir sind eine Nation, wir sind ein Volk, und unsere Zeit für Veränderungen ist gekommen.“

Novalis: „Wenn man von einer Nation urtheilt, so beurtheilt man meistens nur den vorzüglich sichtbaren, den frappanten Theil der Nation“

Barack Obama:Sag mir nicht, Wandel ist nicht möglich

Novalis: „Revolutionen beweisen eher gegen die wahre Energie einer Nation. Es gibt eine Energie aus Kränklichkeit und Schwäche – die gewaltsamer wirkt, als die wahre – aber leider mit noch tieferer Schwäche aufhört.“

Barack Obama: „Das Geniale unserer Staatsgründer liegt darin, dass sie ein Regierungssystem entworfen haben, das verändert werden kann.“

Novalis: „Kein Argument ist der alten Regierung nachtheiliger, als dasjenige, was man aus der disproportionellen Stärke der Glieder des Staats, die in einer Revolution zum Vorschein kommt, ziehen kann.“

Barack Obama: „Es gibt Leute, die sich rüsten, uns zu teilen, die politischen Medienberater und die, die mit negativer Wahlwerbung hausieren gehen, die sich eine Politik nach dem Motto ‚Erlaubt ist, was gefällt‘ zu Eigen machen.“

Novalis: „Der beste Staat besteht aus Indifferentisten dieser Art.“

 

Steuerhinterziehung? Auch dufte!

Martin Walser widmet sich mal wieder dem Deutschen an sich. Kürzlich empörte er sich noch vor der Bayerischen Kulturakademie über das stetige „Rechthabenmüssen“, den „moralischen Oberton“ und „die Heuchelei“ seiner Landsleute – nun ist er wieder auf 180.

Es sei gerechtfertigt, wenn deutsche Unternehmen Bestechungsgeld zahlten, um an Aufträge zu bekommen, sagte der Schriftsteller dem Wirtschaftsmagazin Capital. Dass Manager wie Heinrich von Pierer oder Klaus Zumwinkel an den Pranger gestellt würden, findet Walser „deutsch, deutsch bis ins Mark“.

Zum Fall Siemens meinte er: „Meine Vermutung ist, so ein Unternehmen ist derart konstruiert, dass bis zu einer gewissen Ebene alle wissen, wir müssen bestechen, aber wir müssen für den Fall des Falles die Spitze davon freihalten. Dann ist das eine sehr solide, vernünftige Konstruktion.“ Nämlich so wie früher, als die Knechte putzten, wenn der König gepupst hatte.

Und Steuerhinterziehung? Auch dufte! „Der Staat sollte sich mal überlegen, warum so etwas passiert. Es gibt ja wenige Steuerflüchtlinge vom Ausland in die Bundesrepublik, oder?“ fragt Walser völlig undeutsch. Auf der Strafbank: die Journalisten. Diese setzten in ihrer Berichterstattung bei den Lesern ein „wollüstiges Interesse“ voraus.

Denn:

„Die wissen, es freut die Leute, wenn man zuerst sagt, das ist einer der am edelsten aussehenden Wirtschaftsmenschen und schau mal da: korrupt, korrupt, Sumpf, Sumpf.“ Viele Menschen seien vom Neid befallen, wenn Manager das Hundertfache verdienten.

Neid, Wollust, Walser wird biblisch. Und grundsätzlich:

Geld sei das einzige Mittel zur Unabhängigkeit. Er selbst habe materielle Not immer gefürchtet. Und der Rest wird auch nicht immer ärmer: „Da bin ich absolut erkenntnisabweisend. Wenn es jetzt heißt, jeder achte Deutsche ist arm, und wenn der Staat nicht zuzahlte, dann müsste jeder vierte als arm bezeichnet werden – das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“, sagte Walser zur Kulturakademie in Bayern. Das Schöne: Er darf das alles sagen. Das Blöde: Man darf’s zitieren.

 

In Weißenfels, da steht ein Haus

Liebe Hamburger Schüler, weiter geht’s mit dem frühromantischen Dichter Novalis. Bergbauingenieur war er! Seine Jugendwerke zeugen bereits von ungeheurer Bildung. Gestorben ist er 1801 in Weißenfels in Sachsen-Anhalt, im Burgenlandkreis, jährlicher Niederschlag 471 mm, Durchschnittstemperatur 9,4 Grad. Dort steht das Novalis-Haus. Schöner Bau. So sieht er aus:

novalis-haus_small.jpg

Und weil man Gebäude ja schnell mal poetisch findet, so sei dem Dichter hier das Wort gestattet:

Poesie ist Darstellung des Gemüts – der innern Welt in ihrer Gesamtheit

 

Oh, Novalis!

McDonalds startet aus heiterem Himmel absurde Mottowochen. Die Asia-Wochen mit dem „Beef LangTsu“ zum Beispiel. Kann ich auch. Also jetzt: Novalis-Woche! Denn neulich in der U-Bahn las ich das Buch von Rüdiger Safranski über die Romantik, da tuschelten drei Schüler.

„Guck mal den! Romantik! Was ist denn das für ein Softie!“
„Liebe Freunde, das ist eine Literaturepoche.“
„Nie gehört!“
„Ähm, Novalis?“
„Pff, kenn ich nicht.“

Na sowas! Dann holen wir jetzt mal das Gymnasium nach. Eigentlich hieß er Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg und schrieb den Heinrich von Ofterdingen, ehe ihn seine schwache Lunge dahin raffte. So, ihr lieben Hamburger Schüler: Die nächsten sieben Tage schön hier gucken, dann wisst ihr künftighin, wer das war. Geht auch schnell, nur Zitate: Heute, passend zum Wetter: Schlafen!

„Schlafen ist Verdauen der Sinneseindrücke, Träume sind die Exkremente.“

Und so sah er aus, der Gute:
novalis-450.jpg