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Rechte Radikalisierung im Corona-Chat

 

Gegner der Corona-Maßnahmen organisieren sich im Messenger Telegram. In ihren Gruppen kursieren rechtsextreme Propaganda, Verschwörungsmythen und Fantasien vom Umsturz.

Von Henrik Merker

Teilnehmer einer Corona-Demonstration in Berlin am vergangenen Samstag © dpa/Carsten Koall

In ganz Deutschland gehen Gegner der Corona-Schutzauflagen seit Ende April gemeinsam auf die Straße. Unter den Demonstranten: Rechte, Linke, Verschwörungstheoretiker, Impfgegner. Eine Mischung, die keine politische Richtung zu einen scheint. Material, das ZEIT ONLINE vorliegt, zeigt jedoch: Die Versammlungen, die auch in etlichen kleinen Städten stattfinden, werden von Beginn an über ein Netzwerk von Chatgruppen koordiniert, in denen rechtsextreme Inhalte dominieren.

Rund eintausend Screenshots aus 47 Gruppen im Messengerdienst Telegram erlauben Einblicke in die Denkweise der Organisatoren. So besteht in Sachsen eine landesweite Gruppe mit über 1.800 Mitgliedern. Neben Demonstrationsaufrufen kursierte darin Anfang Mai das Video einer Rede von Adolf Hitler, in der ein Stimmenimitator die Corona-Maßnahmen verkündet. Verfolgt man die Gruppenkommunikation über einen längeren Zeitraum, zeigt sich: Die Gleichsetzung der Bundesregierung mit Hitler ist kein Ausrutscher.

Rechtsextreme geben den Ton an

Noch zu Beginn der Demonstrationen versuchte die politisch eher links orientierte Gruppierung Nicht ohne Uns (NoU), die Proteststrukturen zu formen. Die verschwörungsideologische Gruppe um den Berliner Künstler Anselm Lenz scheiterte an den eigenen Leuten. Auf einer Versammlung in Berlin rief Lenz‘ Mitstreiter Hendrik Sodenkamp “Nazis raus“, worauf er von Demonstranten als Spalter beschimpft und niedergebrüllt wurde. Rechtsextreme Influencer stellten die NoU-Organisatoren anschließend in eine Reihe mit Antifa-Gruppen.

NoU hatte außerdem Tausende Informationsschriften kostenlos verteilen lassen. Deren Finanzierung gilt unter Verschwörungsanhängern als ungeklärt, weshalb sich ein eigener Mythos entwickelte: die Gruppe um Lenz sei von geheimen Mächten gekauft. Eine Folge war, dass sich ganze NoU-Regionalgruppen mit über 200 Mitgliedern auflösten.

Die Deutungshoheit in den Telegram-Gruppen haben seitdem die rechtsextremen Influencer. Bereits zu Beginn der Proteste kursierten in den Gruppen Überlegungen, den Staat zu übernehmen. Am 2. Mai schrieb der Oberlausitzer Marco Q.: „Vielleicht sollten wir langsam mal die Polizei festnehmen. Wir sind viel mehr.“ Niemand widersprach, denn Widerspruch wird in den Gruppen als vermeintlicher Spaltungsversuch gebrandmarkt. Wer zu häufig und zu vehement widerspricht, wird verwiesen. Freidenkern wird das Grundverständnis der Gruppen zum Verhängnis: Jede Meinung ist demnach gleich legitim.

Diskussionen im Reichsbürgerduktus

Die Folge: Verfassungsfeindliche und antisemitische Aussagen bleiben stehen. Die Furcht vor einer Spaltung führt so weit, dass neben wilden Spekulationen über den Funkstandard 5G, die wahlweise hohle oder flache Erde und eine jüdische Weltverschwörung auch Holocaustleugnung als legitime Meinung gilt.

In einem Beitrag wird ein Download beworben mit „Anleitungen, wie man als weißer Europäer vorbildlichen Widerstand gegen die Neue Weltordnung leisten kann“. Der Text endet im nationalsozialistischen Sprachstil mit den Worten „Wohlan denn, Volk, erhebe Dich und gesunde“. Darunter sind Telegram-Kanäle verlinkt, die die Namen der Holocaustleugner Horst Mahler und Ursula Haverbeck tragen, dazu der Kanal „HitlerHatteRecht“.

Mitglieder behaupten täglich im Reichsbürgerduktus, das Grundgesetz sei „ungültig“, die Bundesrepublik eine GmbH. Diese Position ist nicht nur in der sächsischen Gruppe oder den bundesweiten Vernetzungen allgegenwärtig, auch die lokalen Ableger sind damit geflutet.

Polizisten als Feindbild

In der 4.000 Mitglieder starken Gruppe demo.stream werden die Demonstrationstermine gesammelt und über Social-Media-Kanäle gestreut. In Facebook-Gruppen und im russischen Netzwerk VKontakte werden die Links verbreitet. Bereits am 8. Mai wurden über diesen Terminkalender bundesweit 378 Demonstrationen und Kleinstkundgebungen beworben.

Die Verschwörungsideologen rufen stets dazu auf, keine Schilder, Fahnen oder Transparente auf die Kundgebungen zu bringen. Sie meinen dann, nicht unter die Restriktionen des Versammlungsgesetzes zu fallen. Mit Erfolg: In mehreren Städten fanden unangemeldete Aufmärsche entgegen Versammlungsgesetzen und Schutzverordnungen ungestört statt.

Erst im Internet werden die Demonstrationen zum politischen Zeichen umgemünzt. Die Demonstranten benutzen die Polizeieinsätze, um sich als Opfer einer vermeintlichen Diktatur darzustellen. In einer Gruppe werden Videos der Einsätze verteilt. Gab es vorher einen Angriff auf die Polizisten, die darin durchgreifen, werden sie von den Machern der Videos teilweise herausgeschnitten.

„Nicht nur demonstrieren gehen“

Die Polizei ist in den Gruppen zum zentralen Feindbild geworden. In einigen Beiträgen denken Mitglieder sogar darüber nach, Namen und Adressen der Beamten zu sammeln. Ein Gruppenmitglied bezeichnet Polizisten als „Viehzeug“, deren „Fressen“ man fotografieren solle. Widerspruch regt sich nicht.

In der sächsischen Corona-Gruppe wird überlegt, Namen und Adressen von Polizisten zu sammeln. Screenshot: Störungsmelder

Ebenfalls zu den Feindbildern der Mitglieder gehört die Antifa, zudem Journalisten. Allein in einer Leipziger Gruppe wurden bereits mehrmals Porträtaufnahmen von Reportern verbreitet, teils mit Namen, teils mit der Aufforderung, den Namen herauszufinden. Auch ein freier Journalist des ZDF wurde kürzlich in den bundesweiten Gruppen samt Fotos rumgereicht.

Das Foto einer Journalistin wird in einer Leipziger Telegram-Gruppe rumgereicht. Screenshot: Störungsmelder

Ein Gewaltpotenzial, das in den Gruppen schwelt, lässt sich mindestens erahnen. Die Mitglieder gehen dazu über, abgeschottete Organisationsformen zu testen. Marco Q. aus der Oberlausitz schreibt, man solle „Personenkreise mit gleichgesinnten Leuten“ bilden, die man persönlich kenne. Jeder Kreis solle dann eine Kontaktperson benennen, die Verbindungen zu anderen konspirativen Gruppen unterhält. Man wolle Ziele und Pläne unabhängig von Zeit oder Geld erarbeiten. Weiter schreibt er: „Wir müssen was tun. Nicht nur einfach demonstrieren gehen. Das wird nicht reichen…“