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Unübliches aus Berlin

Kate Mosh klingen so gar nicht nach dem aktuellen Großstadt-Rock, sondern ideenreich und wunderbar unbekümmert

Kate Mosh

Achtung, Wortspiel! Kate Mosh – Breakfast Epiphanies. Wem es nicht gleich ins Auge springt: Kate Moss – Breakfast at Tiffanys. So. Einmal lachen bitte. Die vier Berliner lieben’s manchmal etwas flach. Dafür machen sie erfrischend unbekümmerte Rockmusik.

Die letzten Rock-Bands aus Berlin, Tomte beispielsweise oder Wir Sind Helden klangen auf ihre Art leicht, eingängig, naja, abipartytauglich. Berlin-Rock, so schien es, musste in Latte-Macchiato-Bars ebenso funktionieren wie in Diskotheken. Bloß tanzbar! Bloß zum Mitsingen! Bloß deutsche Texte! Und vor allem: Bloß nicht verstören!

Kate Mosh kümmert das nicht. Ihre Songs bauen sie liebevoll auf, es entfalten sich grazile Gitarrenmelodien. Man denkt, ach, wie schön, zu dem Lied könnte man ja jetzt mit dem Fuß wippen. Und dann wird es in einem Synthesizerwutanfall zertrümmert. Manchmal schleicht sich aber auch ganz unbemerkt ein Elektronikthema an und übernimmt die Führung. Elektronische Subversion, sozusagen. Ob feinsinnig oder brachial: Kate Mosh wissen meistens, wann sie die Party versauen müssen.

Reine Sommergutelaune beherrscht ihre Lieder ebenso wenig wie Melancholie oder Lounge-Gefühl. All das aber ist in ihnen zu finden. Sie können nicht lange stillhalten, und manchmal überschlägt sich dann nicht nur die Stimme von Thom Kastning. Am Ende von Strxr befindet sich der Hörer plötzlich gar im donnernden Heavy-Metal – und weiß gar nicht, wie ihm geschieht.

Ideen haben sie. Manchmal zu viele. Wie viele Einfälle ein Lied verträgt, ist eine Frage des Geschmacks. Wenn’s Pink-Floyd‘sche Dimensionen annimmt, sind vier Minuten vielleicht zu kurz. Wie sich Pubertierende an ihren Worten besaufen, berauschen sich Kate Mosh an ihren Melodien. Vieles ist eigentlich zu schön, um sofort mit dissonantem Gelärm zerfleddert zu werden. Aber so sind sie eben.

„Breakfast Epiphanies“ von Kate Mosh ist als CD erschienen bei Nois-o-lution.

Hören Sie hier „Forever And Ever Amend“

 

Erektionsschwäche in der Wüste

Zum 60. schenkt Udo Lindenberg sich selbst 17 Duette mit berühmten Sängerinnen. Von Marlene Dietrich bis Yvonne Catterfeld schreiten sie zur „Damenwahl“, und Panik-Udo säuselt von Liebe, Krieg und Frieden

Cover Lindenberg

Der Über-Held des hanseatisch schwiemeligen Rockschlagers wird sechzig. Im Selbstbild ist er sicher eher Rocker als Schlagerfuzzi, ne? Seine aufrechte Unbedarftheit, sein Softmachogehabe verursachten bei denjenigen, die ihn weniger mochten, jahrzehntelang eine schwer erträgliche Mischung aus Rührung und Ekel. Einzig auf feuchtfröhlichen Schwulenpartys hoben sich alle Geschmacks- und Gesinnungsdifferenzen irgendwie ins transgressive Feiernirvana auf.

Und nun Udo und die Frauen. Hatten wir das nicht schon? „Mit 66 Jahren …“ ach, das war doch der andere Althengst, mit demselben Vornamen. Und vorgemacht, wie sich der Sex des reifen Mannes auf Popglanz trimmen lässt, hatte es seinerzeit bereits Leonard Cohen, der Wüstling. Mit Traumpaaren wie Lee Hazlewood und Nancy Sinatra hat Udos Damenwahl auch nichts gemein, dazu wechselt er zu oft die, äh, Damen.

Deshalb kann man die ersten zwei Duettnummern auch direkt überspringen. Nena, die schon lange nicht mehr geheime Madame Pompadour unter den Schlagermätressen, nervt erwartungsgemäß mit ihrem asthmatischen Görenpop. Für diese Position wird Yvonne Catterfeld zurzeit noch angelernt, das Pressefoto zur Albumpromotion ist echt niedlich: Die Catterfeld als Prinzessin Leya mit „Sex in the City“-Frisur und Udochen als Darth Vader. Für die nächste Damenwahl empfiehlt sich ein Schild auf dem Tanzteetischchen: Hier nur für Rentnerbandmitglieder, MTV-Pippimädchen und Bohlen-Uschis müssen draußen bleiben.

Kommen wir also gleich zu Nina, der würdigen Ex-Underground-Königin, der Queen Mum des Punkschlager Royal. In Romeo & Juliaaah geben Nina Hagen und Udo den nuschelnden Schlapphut und die kreischende Zopfliesel als Pop Art-Variante vom Shakespeare-Stoff, aber immer noch besser, die Hagen singt, statt weltreligiös ereifernd zu predigen. Dass die beiden sich über Mama Hagen und Onkel Biermann schon lange kennen, ist deutsch-deutsche Popkulturgeschichte und hat musikalisch wenigstens ein Fünkchen mehr Pep, als Joan Baez‘ ehrenvolle aber fade Live-Fassung von Lindenbergs Wozu sind Kriege da.

Etwas diffiziler gestaltet sich das Verhältnis von hoher Kunst und profaner Umsetzung in Salomon (Das Hohe Lied) mit der unvergessenen Esther Ofarim. Erotik aus dem Alten Testament, auf Edelclubatmosphäre für Berlin-Mitte getrimmt, mit fast sieben Minuten Spiellänge die extended Schmachtversion auf dem Sampler. Donnerwetter, die dubbig gehauchten Stöhner von der Ofarim sind schon sehr speziell, dieses Portishead-artige Understatement hat was, nur Udos flapsige Prosaik hangelt sich mühsam durch den poetischen Fluss. Und wer spielt dazu so schön die im Feierabendjazz verschmalzte Trompete von Jericho? Könnte glatt Ben Becker sein.

Ein großer Teil der Duette dreht sich um Liebe, Krieg und Frieden, aufgenommen mit bekannten Weggefährtinnen wie Ulla Meinecke, Helen Schneider und Elli Pyrelli, nichts Spektakuläres. Zu erwähnen sind noch Alla Pugatschowa, die russische Schlagerikone, mit der Udo Lindenberg als erster deutscher Rocksänger und noch vor seinem legendären DDR-Besuch im Moskauer Gorky Park auftrat, und die türkische Sängerin Sezen Aksu. Das Duett mit ihr, Messer in mein Herz, hätte besser als manch anderer Quatsch für den Grand Prix d‘Eurovision getaugt, gerade weil es wie eine missglückte Karaokeperformance auf einem Kreuzberger Nachbarschaftsfest klingt. Und im für Presseanfragen auf CD erhältlichen Interview hört es sich an, als hätte Lindenberg, nach dem Zustandekommen der musikalischen Kooperationen gefragt, seine Duettpartnerinnen allesamt im Vorübergehen auf der Reeperbahn aufgelesen: „Du, dann haben wir uns einfach so gemocht.“

Einzig Marlene Dietrich zeigte ihm den bösen Wahrsagerinnenfinger. Verrucht und weise sprach sie 1987 in ihrem Pariser Alterswohnsitz eine Botschaft als Einleitung zu Wenn ich mir was wünschen dürfte aufs Band: „Wünsch dir nichts, dummes Menschenskind, Träume sind nur schön, solang sie unvollfüllbar sind.“ Die darauf folgende Interpretation als norddeutsches Nuschelchanson gelingt immerhin halbwegs. Der absolute Brüller dieser Jubiläumszusammenstellung ist jedoch das Duett mit Ex-NDW-Schlampe Annette Humpe. Da geht es zu elektropoppigen Rhythmen ab zum Sex in der Wüste, eine Mischung aus verschwurbeltem Lounge-Schlager à la 2raumwohnung und arabischem Urlaubsprospektrap: „Der Horizont rückt näher, und was keiner weiß, jeder denkt das eine, doch dafür ist zu heiß. Im Katalog stand was von feiern, und wilden Abenteuern, und alles ist ganz geil, doch jetzt hier, wo trockne Winde wehen, wird gar nichts feucht und nichts will stehen.

Uff, das ist hart. Oder doch cool? Sie scheinen sich ganz wohl zu fühlen, die zwei, so lässig schlapp im Wüstensand – ist das etwa die neue besonders in der Kunst hippe Askese, gerichtet gegen eine allseits aufgesexte Warenwelt? Auf jeden Fall ein Stück für den iPod: Man weiß ja nie, auf welcher schlimm endenden Party man damit noch die letzten Gäste herzerfrischend desillusionieren könnte.

Das war es aber auch schon mit Partyspaß, endet die Damenwahlorgie doch bereits in Duett Nummer 9 als Ringelreihen der Peinlichkeiten. Wer sich mit Yvonne Catterfeld nach Nangijala, Astrid Lindgrens Kinderhimmel in „Die Brüder Löwenherz“, verirrt, hat ganz klar einen an der Waffel. Warum sonst sollte Udo mit Sechzig plötzlich auf die Idee kommen, dem Kollegen Maffay aus der Benefizrockerszene die Würstchen vom Kinderfestgrill zu klauen? Von wegen Erektionsschwäche beim Sex in der Wüste: Da scheint noch ganz anderes schlecht durchblutet zu sein.

„Damenwahl“ von Udo Lindenberg ist erschienen bei Warner Music.

Hören Sie hier Udo Lindenberg im Duett mit Esther Ofarim: „Salomon (Das hohe Lied)“

 

Entführt auf einen funkelnden Planeten

Bisher war der Londoner Jazzpianist Andrew McCormack nur stiller Teilhaber der Erfolge anderer. Dank seines bemerkenswerten Debütalbums „Telescope“ wird sich das nun ändern

Cover McCormack

Das klassische Jazzpianotrio mit Kontrabass und Schlagzeug galt lange als ausgereizt. Lieber kauft man sich Platten der vielen Altmeister, als sich durch Neueinspielungen eines Nachwuchses zu hören, der oft nur manieriert an verstaubten Zitaten herumwerkelt.

Doch es gibt Ausnahmen. Zu den in London häufig erwähnten Lieferanten zukunftsweisender Jazzklänge zählt schon eine ganze Weile der Jazzpianist Andrew McCormack. Noch keine 20 Jahre alt, spielte er 1998 mit dem Saxofonisten Denys Baptiste dessen erste Platte Be Where You Are ein. Das Album wurde mit begehrten britischen Musikpreisen wie dem Mercury und dem Mobo überschüttet und machte Baptiste, den Mann mit dem kraftvollen Saxofonton und dem Pharaonenbart auf einen Schlag berühmt. Der jungenhaft wirkende McCormack begleitete uneitel und ideenreich und ließ fortan auch in anderen Formationen immer wieder seine technische wie musikalische Klasse aufblitzen.

Nun hat er mit Telescope sein Debütalbum vorgelegt. Begleitet von den vielbeschäftigten Talenten Tom Herbert am Kontrabass und Tom Skinner am Schlagzeug hat er das Genre nicht neu erfunden. Aber er zeigt, wie frisch und originell Jazz in dieser klassischen Besetzung klingen kann. Die CD besteht bis auf eine Ausnahme aus eigenen Kompositionen, nur das groovende Better Than People stammt aus der Feder von Kontrabassist Herbert. Schon das eingängige Titelstück schickt einen auf den funkelnden Planeten McCormack: elegant, mit Verve und Kraft geht es zur Sache, über einen funkigen Rhythmus breitet der Pianist seine rasanten Läufe aus.

Sein an Klangfarben reiches Spiel speist sich aus vielen Quellen der Jazztradition. Man hört den harten Anschlag und die schrägen Melodien eines Thelonius Monk heraus, die stimmungsvollen Klavierkaskaden eines Keith Jarrett, den Witz eines Vince Guaraldi (der vor allem als Charlie Brown-Soundtrackschreiber bekannt ist). Bei den ruhigen Stücken klingen selbst klassische Einflüsse wie Bach und Strawinsky durch. McCormack, der mit 14 Jahren verhältnismäßig spät zur Musik fand, studierte an der Londoner Guildhall School nicht nur Jazz, sondern auch Klassik.

Er formt daraus seinen Stil – eigen und urban, ohne völlig aus dem Rahmen zu fallen. Seine Spezialität sind gradlinige, eingängige Themen und überraschende, oft eng geführte Improvisationen. Telescope swingt vom ersten bis zum letzten Ton, ob das Trio rhythmisch anspruchsvolle Tempostücke spielt oder sich McCormack mit viel Gefühl und ohne Sentimentalität durch unbegleitete Balladen tastet.

Es seien „aufregende Zeiten für Jazzmusiker in London“, sagte er kürzlich in einem Interview, es gebe einen „Sinn für Abenteuer“. Danach klingt Telescope. Es ist ein erster Schritt, ein vielversprechendes Statement. Man darf gespannt sein, wohin es McCormack noch führt.

„Telescope“ von Andrew McCormack ist als CD erschienen bei Dune.

Hören Sie hier „Telescope“

 

Wenn eine eine Reise tut

Die Berlinerin Barbara Morgenstern flog mit Goethe um die Welt. Auf „The Grass Is Always Greener“ lässt sie das Erlebte nachklingen

The Grass Is Always Greener

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“, heißt es in Matthias Claudius‘ Urians Reise um die Welt. Barbara Morgenstern tat eine Reise. Gemeinsam mit dem Berliner Schmachtmusiker Maximilian Hecker umrundete sie im Auftrag des Goethe-Instituts den Globus. Und erzählt nun auf The Grass Is Always Greener von der Reise und dem Reisen.

Der Albumtitel spielt an auf eine dem Fernweh innewohnende Paradoxie. „The Grass Is Always Greener On The Other Side“, lautet das Sprichwort vollständig: Am schönsten ist es immer dort, wo man gerade nicht ist. Bereits im Titelsong versucht sich Barbara Morgenstern an einer Antwort, die gleichermaßen paradox ist: „Ich seh ein und gesteh, the grass is not greener“ heißt es da. Und, später, im Stück Polar: „Heimweh und Überdruss, wie der Stein und der Fluss, reiben sich zu Sand entzwei.“ Sie schlägt einen Bogen über alle Kontinente, singt von Briefen und den Träumen Hollywoods, dem Glück und der Vergänglichkeit und fragt sich, weshalb blonde Frauen und McDonalds weltweit so hoch im Kurs stehen. Das klingt naiv, aber gar nicht banal.

Die Orte ihrer Reise sind austauschbar, sie sind vor allem Anlass zur Reflexion über das Unterwegssein, das Sein überhaupt. So gelingt ihr das Kunststück, als eine deutsche Kulturbotschafterin um die Welt zu reisen, diese Welt aber nicht in den üblichen Begriffen der Kultur zu fassen. Es geht ihr nicht darum, herauszufinden, wie die Menschen in Amerika, Asien und Afrika sind, sie fragt sich alleine, was das Reisen, das Sein in der Fremde mit ihr anstellt. „Was man sieht, was man spürt, das was mich tief berührt, geht weit über mich hinaus, und die Antwort bleibt noch aus.“

So erscheint das titelgebende Sprichwort am Ende ganz absichtlich verkürzt. Das Gras ist grüner weder hier noch da, sondern überall. Schön ist’s eben auf der ganzen Welt. Bei Matthias Claudius heißt es schließlich „Und fand es überall wie hier, fand überall ’n Sparren, die Menschen grade so wie wir, und eben solche Narren.“ Barbara Morgenstern singt „Und der Wind weht überall gleich, weltweit löst die Nacht zum Schluss den Tag ab.“ So einfach ist das.

Es ist nicht Zynismus, der sie leitet. Eher schon Euphorie. Nicht zuletzt die Musik auf dem neuen Album beweist das, sie ist vielfältiger und ideenreicher als je zuvor. Feinsinnig und spielerisch setzt sie ihre Instrumente ein. Elektronische Klänge und Klaviertöne umgarnen ihre Stimme. Ab und an streut sie hypnotisierende Gitarrenmuster ein und das Schlagzeug ersetzt den Drumcomputer.

The Grass Is Always Greener ist eine Platte, die mit jedem Hören ergreifender wird. Eine Platte für den Kopf, den Bauch, die Ohren und die Beine. Und die aufs Reisen genauso Lust macht wie auf das Zuhausebleiben.

„The Grass Is Always Greener“ von Barbara Morgenstern ist auf LP und CD erschienen bei Monika und erhältlich unter anderem bei Hausmusik. Barbara Morgenstern live zu sehen ist ein Erlebnis, die Termine ihrer aktuellen Tour finden sich auf ihrer Website.

Hören Sie hier Alles was lebt bewegt sich

 

Wenn schon traurig, dann mit Witz

Auf ihrem Album „All Your Things Are Gone“ zeigen Victory At Sea aus Boston: Es gibt ein Lächeln in der Depression

Cover Victory At Sea

Boston ist für andere Dinge bekannt als für Musik. Für Harvard zum Beispiel. Für Baseball. Für Tee-Partys. Boston ist das Athen Amerikas. Sagt man. Und die bekannteste Bostoner Band ist Aerosmith, obwohl die gar nicht aus Boston kommt.

Mona Elliott ist aus Boston. Ihre dreiköpfige Band Victory at Sea kennen bisher wenige. Doch mit dem neuen Album könnte sich das ändern.

Die amerikanische Musikpresse wurde schon beim letzten, Memories Fade, aufmerksam und begann zaghaft, die Gruppe einzuordnen, schüchtern zu loben und Referenzen zu bemühen. Wie The Cure, schrieben die einen. Wie PJ Harvey, die anderen. Was man eben so schreibt. Folk jedenfalls. Das schrieben fast alle.

Die musikalische Bandbreite auf dem nun erschienenen All Your Things Are Gone reicht von langsamen, balladesken Folk-Songs über knapp am Shanty vorbeigeschrammte Refrains bis hin zu furiosem Schlagzeugspiel. Überhört man die eingestreuten Dissonanzen, könnte man auch sagen, die Platte sei poppig.

Die zehn Songs drehen sich um ein Klavier, auf dem schon ein Dutzend leerer Weinflaschen stehen – drum herum überquellende Aschenbecher. Dann und wann durchbricht eine Mundharmonika die Tristesse, ein paar unterzuckerte Streicher, dann Mona Elliotts Stimme, schwingend zwischen lockender Düsternis und einem fröhlich aufgelegten Beerdigungschor. Und so mitreißend Elliotts Stimme sein kann, so schnell bricht sie dann auch wieder weg, das Klavier seufzt dazu, als ginge es jetzt knietief in die Depression.

Keine Frage: Victory at Sea haben zu viel Blues für den Indie-Rock. Glücklicherweise haben sie aber auch zu viel schwarzen Humor, um darüber melodramatisch zu werden: The Understatement Of The Year Award Goes To You, Cause The Last Thing That You Said To Me Was: Hey, I’ll See You Later, heißt es in The Letter.

Trotz aller Melancholie wirkt das Album deshalb um Tonnen leichter als Verwandtes. Beinahe lässig verzweifelt. Statt unter der Trauerweide zu zerfließen, sitzen Victory At Sea in ihren Ästen und lächeln ein wenig.

Mit All Your Things Are Gone haben sie ein Album eingespielt, das wie ein Gespräch ist in einer fremden, verrauchten Bar mit einem fremden Menschen, spät nachts. Eine Begegnung zwischen der Nähe zum anderen und dem Zweifel an sich selbst. Der Weg nach Hause ist dann gar nicht mehr so schlimm.

„All Your Things Are Gone“ von Victory At Sea ist auf CD und LP bei Gern Blandsten erschienen.

Hören Sie hier „To You And Me“

 

Grobes Korn, aufgeweicht

Der Schweizer Pianist Nik Bärtsch verdichtet auf „Stoa“ winzige Motive zu einer rhythmisch packenden Musik – die im Dunstkreis seiner berühmten Plattenfirma leider unscharf wird

Cover Baertsch

Nein. Das kommt mir als Erstes in den Sinn. So mag ich das nicht. Ich mochte die Musik von Nik Bärtsch, wie er sie auf sechs in der Schweiz erschienenen Platten gespielt hat, eine kantige, körnige, durch und durch originelle Musik, die nicht nur das Publikum zum Staunen und oft genug zum Ausflippen bringt, sondern auch die Kritik mit hinreichend Stoff zur Versorgung der Texttriebwerke beliefert.

Und wie groß war die Freude, als Bärtsch, der in der Schweiz schon hinter jedem Berg gespielt hatte, nun in Deutschland entdeckt wurde, von einem Label mit Weltruf, wohl dem erfolgreichsten deutschen Jazz-Label überhaupt, von ECM. Aber in dieses Gefühl mischte sich gleich die Sorge, auch das Schweizer Präzisionsuhrgestein Bärtsch könne Schaden nehmen durch die alles überwölbende Klangvorstellung des ECM-Produzenten Manfred C. Eicher.

Und wenn ich mir nun Stoa anhöre, die erste Platte des Nik Bärtsch auf ECM, dann ist es so gekommen. Eicher hat seinen Hall drauf gemacht auf die felsige, schroffe, schikanös-repetitive Funk-Musik des Nik Bärtsch. Plötzlich stehen Schwaden über diesen Klangmassiven, verschwimmt sein heiliger japanischer Ernst, verbiegt sich unter Weichmacher eine Ästhetik, die bis dahin unnachgiebig stand, ein Monument zwischen der Minimal Music des Steve Reich und der Sexmaschine des James Brown.

Hinfjord damit! Als Musiker bei ECM, so scheint es, muss man eine Schäre im Kopf haben. Denn hier wallen und schwallen seit Jahrzehnten allzu viele Produktionen unter skandinavischem Nebel. Musik für behagliche Winterabende am Kamin. Es gab Ausnahmen, Aufnahmen, die hoffen ließen – so hätte auch Bärtsch eine Chance haben können.

Schade. Aber jetzt genug des Furors. Seine Musik ist immer noch da. Nicht mehr so gestochen scharf wie auf Rea, aber in ihren groben Umrissen durchaus zu erkennen. Manch ein Hörer, der sich durch den Münchner Dunst vortastet zur Härte des Bärtschen Kerns, wird erschrecken. Diese Musik ist kein Wohlfühl-Jazz und auch kein mathematisches Minimalpermutieren, und sie ist auch nicht hormonell-orgiastisch. Sie entwirft aus gnadenlos wiederholten Klavier-Bass-Schlagzeug-Motiven einen so kraftvollen, mitziehenden wie letztlich undurchdringlichen Schwung, dass man während eines Konzertes – zusätzlich angestachelt durch Perkussion und Bassklarinette – oft nur noch aufspringen und aufschreien kann. Mit der Haltung eines entfesselten Samurais führt der 35-jährige Pianist, Komponist und Japannarr Bärtsch seine Band Ronin wie sein Publikum durch nächtelange Konzerte, in denen alles und nichts geschieht.

Dieser beharrliche Schweizer hat die europäische Instrumentalmusik um völlig Unerwartetes bereichert. So darf, so wird diese Platte nicht sein letztes Wort sein.

Hören Sie hier „Modul 32“, von Nik Bärtschs neuer Platte „Stoa“, erschienen bei ECM.

Zum Vergleich: „Modul 23“ von „Rea“ aus dem Jahr 2004, erschienen bei TMR.

Und hier spricht Nik Bartsch über die Ritual-Groove-Musik und dann sein Publikum über ihn, befragt von Christian Broecking auf dem Zürcher Unerhört-Festival Ende November 2005.