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Kleine Zornesfalten

An der menschenleeren Küste Dänemarks schrieben Sometree aus Berlin ihr viertes Album „Bending The Willow“. Die neuen Stücke üben einen kraftvollen Sog aus – hinein in die schönste Trübsal

Cover Sometree

Vor zwei Jahren reiste die Band Sometree nach Dänemark. Man kennt das von Abiturienten: Kaum sind die letzten Prüfungen bestanden, belädt man das Auto mit Menschen, Euphorie und jeder Menge Alkohol und quält die völlig überbeladene Möhre hoch über die Grenze. Dort wird dann ein letztes Mal gemeinsam getrunken, geknutscht, gegrölt und manchmal auch geschwommen. Jedenfalls gefeiert.

Sometree wollten genau das Gegenteil. Gefeiert hatten sie genug, wurden sie genug. Nachdem sie ein Jahr lang Europa bespielt hatten, brauchten sie vor allem eines: Ruhe. Und die fanden sie in einem kleinen Holzhaus an einer menschenleeren Küste. Dort schrieben sie ihr viertes Album Bending The Willow – von freudetrunkenem Party-Rummsgazong ist darauf folglich keine Spur.

Melancholiker waren Sometree schon immer. Sie veröffentlichten drei Alben voller lakonischer, intimer Lieder über die Trias Leben, Liebe und Tod. Spannten Bögen von traurigen, poetischen Schwelgereien zu schroffem, wütendem Rock, von Melantonin zu Adrenalin – das machte sie in Deutschland einzigartig. Musik, die plötzlich loderte, in der Rückkopplungen piepsten und pfiffen, Musik, die einen mitriss, begeisterte und zugleich erhaben traurig war.

Von der Wut der früheren Alben hört man wenig auf Bending The Willow. Sie brodelt nun unter der Oberfläche. Gelegentlich zeigt sie sich, bricht aus in einem kurzen, ruppigen Gitarrenthema, das sich rasch wieder im dräuenden, stellenweise ätherischen Konzept des Albums verliert. Die komplexen Klanglandschaften Sometrees tragen kleine Zornesfalten, mehr nicht.

Schlimm ist das nicht. Bloß ungewohnt – wie die digitalen Elemente in den ausgedehnten Instrumentalpassagen. Keine aufdringliche Elektro-Pfriemelei, sondern Sprachsamples, Rauschen, Surren und Knirschen. Ein wenig klingt das nach der Einsamkeit der Küste, an der das Album entstand. Eine Stimmung, in die sich ein geisterhaftes Klavierlegato ausgezeichnet einpasst – wie im Stück Seraph – und in der selbst eine Trompete nicht stört.

Die Zerrissenheit ist immer noch da. Das Verlorensein, die Sehnsucht, die Verzweiflung des Verlassenen. Doch nun singen sie: „Stop saying Goodbye if you always return!“ Auch der Gesang ist gelassener, trägt nicht mehr diese asthmatische Ergriffenheit mit sich herum wie, naja, früher.

So ist Bending The Willow das intensivste, beste Album von Sometree. Die zehn neuen Stücke entfalten einen kraftvollen Sog hinein in die schönste Trübsal. Einsamkeit und Wärme fügen sich zu einen überzeugenden Stück Rockmusik aus Deutschland.

„Bending The Willow“ von Sometree ist als LP und CD erschienen bei pop-u-loud/PIAS

Hören Sie hier „Bending The Willow“

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Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Batteriebetriebene Melancholie

Der amerikanische Klangtüftler Owen Ashworth alias Casiotone For The Painfully Alone galt bisher als Meister minimalistischer Weisen. Sein neues, viertes Album „Etiquette“ überrascht dagegen mit Opulenz

Cover Casiotone

Owen Ashworth aus Chicago, Illinois ist kein Mann, der irgendwo auf der Welt als Popstar durchgehen würde. Die paar Pfunde zu viel, die er auf den Hüften trägt, der Vollbart, die Brille und seine Unsicherheiten machen ihn auch optisch zu einem etwas verschrobenen Heimwerker tieftrauriger Weisen. Jeder, der ihn einmal auf der Bühne gesehen hat, wird das bestätigen.

Mit seinem Projekt Casiotone For The Painfully Alone beglückt er seit ein paar Jahren Freunde spartanischer Lieder. Der Name seines Projekts ist Programm. Ein batteriebetriebenes Mini-Keyboard der Marke Casio, holprige, vorprogrammierte Rhythmen und fein gearbeitete Texte steckten das künstlerische Feld ab. Dazu verhandelt er all die Miseren der Liebe und des Lebens. Die Seele der Stücke liegt in seiner Stimme. Traurig und intim klingt das, was er in seinen Mehrspur-Rekorder diktiert. Die Platten dazu heißen Answering Machine Music (Anrufbeantworter-Musik), Pocket Symphonies For Lonesome Subway Cars (Taschen-Sinfonien für einsame U-Bahn-Waggons) oder ganz aktuell: Etiquette.

Der Minimalismus der vorangegangen Platten ist auf dem neuen Tonträger etwas aufgeweicht worden: Etiquette ist Casiotone For The Painfully Alone in Cinemascope. Streicher, Piano, Orgel und Schlagzeug ergänzen das eng gezogene Korsett der Anfänge. Nashville Parthenon ist ein Country-Song im Elektronik-Gewand, Cold White Christmas träumt zu einer heimeligen Orgel von fernen Weihnachtsabenden, während der Blick nach draußen auf kahle Winterbäume fällt. Den Stücken tut die neu gewonnene musikalische Opulenz gut.

Auf der Bühne wird alles wieder zurückgeführt auf mehrere analoge Keyboards, Sequenzer und Stimme. Owen Ashworth ist kein Entertainer, er wirkt fast unfreiwillig ins Rampenlicht gezerrt. Die Füße, die schräg zum Publikum positioniert sind, der scheue Blick und die kurzen Ansagen sprechen Bände. Da steht einer auf der Bühne, der wundervolle Stücke schreibt, diesen aber lieber im Heimstudio den nötigen Schliff verpasst, als vor gierigen Blicken.

Ein Konzert wird so zu einer Erfahrung von Einsamkeit. Die Melancholie, die Vereinzelung, die Stücke mit Titeln wie I Should Have Kissed You When I Had A Chance, Tonight Was A Disaster oder Don’t They Have Payphones Where You Were Last Night durchwehen, wirkt nicht aufgesetzt, sondern authentisch. Das Leben verdichtet sich darin zu dreiminütigen, analogen Songminiaturen. Von der wahren Liebe, die so schwer zu finden ist, erzählt er, von dem schalen Geschmack nach einem One-Night-Stand am Neujahrsmorgen, von einem Schutzschild, der ihn vom wirklichen Leben trennt. Ob es sein eigenes Leben ist, von dem er unter dem Mantel fremder Geschichten berichtet? Man muss es fast glauben.

Bei seinen Konzerten spielt er manchmal ganz zum Schluss, als Zugabe, eine vollkommen zerhackte Version von Paul Simons Graceland. „Die Liebe zu verlieren“, heißt es darin, „gleicht einem Fenster in deinem Herzen. Jeder sieht, dass es dich umhaut, jeder spürt den Wind.“ Owen Ashworth trotzt diesem Wind: mit der Energie von drei Mignon-Batterien, einem kleinen, handlichen Keyboard und den wundervollen Songs seines Albums Etiquette.

Etiquette von Casiotone For The Painfully Alone ist als LP und CD erschienen bei Tomlab.

Hören Sie hier „New Year’s Kiss“

Weitere Stücke können Sie auf seiner Website hören

 

Heimliche Lieblingslieder

„Fundamental“ hat beinahe alles, was ein gutes Pet Shop Boys-Album ausmacht: dramatische Mini-Opern, süßliche Schmonzetten, eingängige Melodien und gute Texte. Nur die erste Single ist eine Enttäuschung

Cover Fundamental

Das können die besser, ist mein erster Gedanke, als ich die Vorabsingle zum neuen Album der Pet Shop Boys im Radio höre. I’m With Stupid ist Malen nach Zahlen, berechnet, langweilig, vorhersehbar. Nicht einmal der Refrain ist sonderlich aufregend oder originell. Dabei hatten selbst ihre lauen Alben immer zumindest brillante erste Singles.

Einige Wochen nach der Single erscheint nun Fundamental, das neunte Album der beiden Popper aus Großbritannien, die man immer noch „Jungs“ nennen möchte. Es klingt überraschend gut, frisch. Und ein bisschen nach früher. Das repetitive, beinahe düstere Psychological eröffnet das Album, bleibt noch ein bisschen unentschieden, distanziert. Aber schon der zweite Song The Sodom And Gomorrah Show ist ein Stück klassischer Pet Shop Boys, „Sun, sex, sin, divine intervention, death and destruction“. Vollkommen überdrehte Keyboard-Geigen, einladende Harmonien und ein stampfender Rhythmus machen es zu einer dramatischen Mini-Oper. Dazu gibt es flatterndes Dengeldongel im Hintergrund und einen süßen Refrain, auf den selbst Abba neidisch gewesen wären: „It’s got everything you need for your complete entertainment“. In der Tat. Und so geht es weiter, große Melodien, opernhafte Chöre, originelle elektronische Klänge, beinahe jeder Song bleibt bereits nach dem ersten Hören tief im Ohr stecken.

Zwischen die Tanznummern gestreut finden sich immer wieder die üblichen Popschmonzetten. Die beste davon ist I Made My Excuses And Left. Sie offenbart neben den musikalischen Qualitäten der Band auch das texterische Können von Neil Tennant, seinen feinen, beinahe tragischen Humor. Er überrascht seine Freundin oder seinen Freund – das lässt er eigentlich immer unentscheidbar – mit einem Liebhaber, verweigert der Situation aber die Dramatik, entschuldigt sich stattdessen und geht, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. Casanova In Hell erzählt die Geschichte eines gealterten Casanova, der nur noch von Schändung träumt und den Mythos seiner sexuellen Begabungen nur noch aufschreiben kann. Und Luna Park ist, heißt es, ein Bild des aktuellen Amerika. Nichts ist in Ordnung, alles ist düster, im Vergnügungspark aber werden besinnungslos „Brot und Spiele“ zelebriert. Alleine Numb ist musikalisch ein bisschen billig geraten, zu triefend.

Die frühen Neunziger klingen überall durch auf Fundamental. Besonders die flotten Songs Minimal und Twentieth Century werden von hektischen Keyboards und stumpfen Rhythmen vorangetrieben. Das als Rückbesinnung zu begreifen, ist wohl etwas sehr einfach, schließlich klangen die Pet Shop Boys Anfang der Neunziger ganz anders, machten gerade eine eher ruhige Phase durch und zogen sich nach sich überschlagenden Erfolgen etwas zurück.

Überhaupt, über die Pet Shop Boys wird viel Blödsinn geschrieben. Integral sei ein „wuchtiger, faschistoider und zugleich einschmeichelnder Stampfer“, ist zu lesen. Andernorts wird behauptet, Fundamental sei „ein Polit-Album“ – nachdem Release 2002 ihr Gitarrenalbum gewesen sein. Dass es in I’m With Stupid um die Männerfreundschaft zwischen Tony Blair und George W. Bush geht, steht im Presseinfo und wird folgerichtig allerorten wiedergekäut. Und in der Tat, Twentieth Century wirft einen pessimistischen Blick auf die Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts, Indefinite Leave To Remain kommentiert die inhumane europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik, Integral zeichnet ein düsteres Bild der britischen Überwachungsgesellschaft, „we’re moving to a situation, where your lives are simply information“. Aber eine politische Band waren die Pet Shop Boys schon seit Please vor 20 Jahren. All ihre Platten sind reich an Kommentaren zum Geschehen in Britannien, wenn auch meist feinsinnig, zurückhaltend formuliert.

Die letzte Platte der Pet Shop Boys – Release – verstaubte ungerechterweise in den Regalen, weil sie zu introvertiert und ruhig war. Das Schicksal dürfte Fundamental erspart bleiben, mit ihm geht die Band wieder direkt auf die Hörer zu. Beinahe jedes Stück hat das Zeug zum heimlichen Lieblingslied. Mehr kann eine so populäre Band kaum erreichen.

„Fundamental“ von den Pet Shop Boys ist als CD und Doppel-CD (inkl. acht Remixe) erschienen bei EMI/Capitol.

Hören Sie hier „Integral“

 

Michael Jackson ist nix dagegen

Für Matthew Herberts neues Album „Scale“ mussten 723 Objekte Töne lassen. Der britische House-Produzent hat aus Waldhorn und Anrufbeantworter, Taucheranzug und Düsenjet ein interessantes Pop-Album zusammengesetzt

Matthew_Herbert_Scale

Matthew Herbert geht es immer auch um die politische Botschaft. Er kritisiert die amerikanische Regierung, den Kapitalismus, die Globalisierung. Aber wer das nicht mag, muss das nicht hören. Denn seine jazz- und house-orientierte Musik tanzt auf doppeltem Boden. Nicht die gesungenen Texte verweisen auf die Übel dieser Welt, sondern die verwendeten Klänge.

Um den Irak-Konflikt zu thematisieren, baut Herbert aus Ölpumpenrattern und donnernden Tornado-Bombern einen Rhythmus zusammen. Will er für den Frieden werben, zückt er seinen Rekorder und nimmt den Unglücklichen auf, der sich vor dem Bankett einer Waffenhändler-Messe erbricht. Das gesammelte Tonmaterial wird anschließend digital bearbeitet und fließt in die Soundcollage des nächsten Stückes mit ein. Für sein neuestes Album Scale sind es 723 verschiedene Objekte, denen Herbert Geräusche entlockt hat. Einige von ihnen sind auf dem Album-Cover abgebildet: zum Beispiel ein Sarg, ein Kugelschreiber, eine Zapfsäule und eine Wäscheklammer.

Mit dieser Collagentechnik bewegt sich Herbert im Gefolge der konkreten Musik. Doch das Ausmaß seiner Kunst erschließt sich nur mit Gebrauchsanleitung. Weder Pumpen, noch Düsenflieger, noch der Magenkranke sind mit bloßem Ohr aus dem musikalischen Gesamteindruck herauszufiltern. Auf der Platte Scale verschwinden sie hinter einer facettenreichen Pop-Kulisse. Und das ist Absicht.

Denn Herbert hat das Songwriting wiederentdeckt, als ein Rezept gegen erdrückende Konzeptlast. Unter dieser war sein letztes Album Plat Du Jour von 2004 erstickt. Anschließend produzierte er das opulente Solo-Debüt von Róisín Murphy, der Sängerin von Moloko. Hat sie ihm die Ohren geöffnet? Plötzlich lässt sich Herbert wieder auf Wohlklingendes ein und befreit sich von seinem Kompositionsdogma.

Auf Scale widmet er sich mehr dem akustischen Vordergrund. Mit dem Ergebnis maximaler Eingängigkeit – für seine Verhältnisse. Dabei hat er aber nicht nur den Mut zum Gefälligen, Tanzbaren wiedergefunden, sondern auch Stile und Materialien vorangegangener Platten. Er verbindet Schöngeist-House (Bodily Functions) mit originellen Bigband- und Streicher-Arrangements (Goodbye Swingtime) sowie den für ihn typischen Blechdosen-Rhythmen. Dani Siciliano, seine Gefährtin, singt lässig dazu.

Unter der zitatreichen Siebziger-Funk-Hommage Moving Like A Train bebt der Tanzboden, und Frau Siciliano zeigt, was sie kann. Mit dieser Nummer hätte sie den jungen, weißgewandeten Michael Jackson im türkisfarbenen Laserlicht glatt alt aussehen lassen! Ähnlich eindrucksvoll auch Something Isn’t Right, ein vorwärts drängendes und in sich ruhendes Orchester-Pop-Opus – spannend besonders durch die zusätzlichen Stimmen von Dave Okumu und Neil Thomas. Auch die langsameren Stücke auf der Platte verquicken weichen Jazz und klappernde Experimental-Elektronik.

Matthew Herbert hat also mit Scale den Weg aus der eigenen Sackgasse gefunden: Fürs Erste gar nicht schlecht.

„Scale“ von Matthew Herbert ist erschienen bei Accidental/!K7

Ausschnitte seines neuen Albums präsentiert er am 3. Juni 2006 auf dem Moers-Festival

Hören Sie hier „Moving Like A Train“

 

Zwischen Beethoven und Play Station

Final Fantasy ist das Soloprojekt des Arcade Fire-Violinisten Owen Pallett. Sein kammermusikalisches Album „He Poos Clouds“ steckt voller Doppeldeutigkeiten und Überraschungen

Cover Final Fantasy

Mit The Pooka Sings endet Final Fantasys neue Platte He Poos Clouds. Pookas sind Fabelwesen, Landgeister, die von den südlichen Grafschaften Englands bis nach Irland Märchen und Legenden bevölkern. Ein Pooka spielt den Menschen harmlose Streiche und führt Wanderer in die Irre. Er kann allerdings recht bösartig werden, wenn er betrogene Mädchen rächt. Die treulosen Jünglinge bestraft er mit dem Abschlaffen bestimmter Körperteile.

Ein Gefoppter auch, wer sich die verträumten Texte und elektronisch verstärkten Violinenklänge von Final Fantasy alias Owen Pallett ohne Sinn für Doppeldeutiges anhört. So zart und schwelgerisch auch die Saitenstreiche im Lied des Pookas Kringel an den Himmel malen und die Pianokaskaden dahinperlen wie Schubert-Etüden: Über diesen Himmel ziehen Wolken, deren Herkunft im Albumtitel deftigen Spekulationen ausgesetzt ist.

Schon auf seinem Debüt Has A Good Home zog der hochaufgeschossene hübsche Kanadier, der zuvor bei der Popgruppe The Arcade Fire mitwirkte und sein Soloprojekt nach einer Computerspieleserie bennannte, alle Register seines verwirrenden Könnens. Mit dem unberechenbaren Einsatz von Geige, Loop Pedal und dramatischen Gesangseskapaden räumte er sich den Weg frei zwischen Neofolk und Geräuschpop, ohne eines dieser oder ein anderes Genre wirklich zu streifen. Sein zweites Werk auf dem Kölner Label Tomlab präsentiert nun die nächste Ungleichung: Da jauchzt ein komplettes Kammermusikensemble furios durch die fettesten Harmonien, doch die Arrangements bleiben so transparent, reißen geradezu Löcher in Partituren und kompositorische Logik, dass der romantische Faden der melancholischen Melodien immer wieder durchtrennt wird.

Die Gestik der großen rhythmischen und melodischen Abstände und Sprünge, der plötzlich abbrechenden Bögen und Palletts unvermittelt aufschreiender Stimme legt eine Verwandtschaft zum Experimentellen nahe, doch weit gefehlt. Beim genauen Hinhören erweisen sich die wilden Brüche keineswegs als improvisatorisch motiviert, sondern folgen einem Kalkül. Einerseits erscheint dieses Vorgehen zusammen mit der im Fabulösen und Schöngeistigen verschwimmenden Gesellschaftskritik der Texte wie das folkloristisch verklärte Kunstlied schlechthin, andererseits zielt Owen Palletts manisch-depressive Expressivität daran aber deutlich vorbei.

Der Song This Lamb Sells Condos verzichtet auf die Streicher, die den sanfteren Charakter von Balladen wie If I Were A Carp und I’m Afraid Of Japan tragen. Trillernde Pianoläufe paraphrasieren einen im Kaffeehaus verschlafenen Ragtime mit Kirmesseligkeit und Kinderchor, die luftige Psychedelik und der schrille Popappeal erinnern an die Kinks. Hintergründig war deren manischem Drive seinerzeit stets ein kritischer klarer Geist anzuhören, der den esoterischen Eskapismus der Sixties vermied oder gar verhöhnte. Und schon bei den Kinks hatte das Versponnene in den Songs etwas mit der Ästhetik von Camp zu tun, dem Spiel mit den überbetonten Codes einer behaupteten oder tatsächlichen Homosexualität – was bei Final Fantasy umso mehr zutrifft.

Die Todessehnsucht ist hier die Sehnsucht nach einer totalen Metamorphose, „I read that death by burning means returning as a girl“. Aber es hilft alles nichts, im abschließenden Streit mit dem Pooka klagt Pallett die Märchenfantasie ebenso wie die realsoziale Lüge an: „Do we believe in devils? No. Winged men? The healing pow’r of love? No. Enchantment? Social justice? No“. Der Kobold hebt sich hinfort, und Owen Pallett will die Violine niederlegen – hoffentlich nicht für immer!

„He Poos Clouds“ von Final Fantasy ist als CD und LP erschienen bei Tomlab.

Hören Sie hier „Many Lives -> 49 MP“

 

Erfolg ohne Knarre an der Schläfe

Der Londoner Rapper Sway räumte schon vor der ersten Platte Preise ab. Seine Debüt-CD „This Is My Demo“ besticht durch das, was man im HipHop oft vermisst: Witz und Selbstironie.

Cover Sway

Nicht nur HipHop-Superstar 50 Cent war vergangenen Herbst verblüfft: Bei der Vergabe des britischen MOBO-Publikumspreises, der Auszeichnung für „Musik schwarzer Herkunft“ (Music of Black Origin), schnappte sich ein englischer Nobody den Titel „Bester HipHop-Künstler“.

Zu allem Überfluss machte Überraschungsgewinner Sway sich dann auch noch über das gerade bei amerikanischen Kollegen verbreitete Gangster-Gepose lustig: „Ich laufe nicht durch die Gegend und halte Leuten die Knarre an die Schläfe, also rappe ich auch nicht darüber, wie ich durch die Gegend laufe und Leuten die Knarre an die Schläfe halte“, sagt der 23-Jährige aus dem Nord-Londoner Stadtteil Hornsey. Sway, der mit bürgerlichem Namen Derek Safo heißt und dessen Eltern aus Ghana stammen, macht lieber Musik über sich und das Leben in London – Massaker sind da eher selten, im Gegensatz zu hoffnungslos überzogenen Kreditkarten.

Auf dem Weg zum Erfolg war Sway von Anfang an auf sich gestellt. Zwei kleine Alben veröffentlichte er, auf der Straße. Nachdem der schwarze BBC-Musiksender 1Xtra und Piratenstationen 2002 auf seine Songs stießen und begannen, sie zu spielen, produzierte Sway zwei Mix-CDs, This is My Promo, Volume 1 und 2, und verkaufte sie auf Konzerten und im Internet, vor Clubs und bei unabhängigen Plattenläden – angeblich über 10.000 Stück. Mit den Einnahmen finanzierte er dann Musikvideos, um bei MTV Base und anderen Fernsehsendern präsent zu sein.

Die Karriere Marke Eigenbau hat Sways Musik das Eigenwillige bewahrt. Die Debüt-CD This Is My Demo, wiederum ohne eine große Plattenfirma produziert, ist vor allem eines: Very British! Schon im Titelsong scherzt er über seine afrikanischen Wurzeln. Feine Selbstironie und Anspielungen auf das Alltagsgroßbritannien ziehen sich durch das ganze Album.

Er liefert locker seinen wortgewandten Hochgeschwindigkeitsrap, mixt ihn mit Reggae, Soul und Pop, ohne die Songs zu überladen. Die Rhythmen sind komplex, die Aussagen manchmal ungewöhnlich: In Hype Boys läster er über den im HipHop verbreiten Verbrecherkult („Everybody’s a bad boy now“), in Pretty Ugly Husband rappt er über häusliche Gewalt. In Download plädiert er gegen das kostenlose Herunterladen von Musik aus dem Internet, weil es nicht nur die großen, bösen Labels trifft, sondern auch unabhängige Rapper wie ihn.

Gegen Ende lässt die CD etwas nach, die Stücke werden etwas einförmig. Bis dahin rufen Mr. BritHop und seine speziellen Drehs weit mehr hervor als nur Tanzlaune.

„This Is My Demo“ von Sway ist als CD erschienen bei All City Music.

Hören Sie hier „Hype Boys“

 

Hinfort mit den Cowboy-Hüten!

In einer Blechhütte in Austin entstand „Black Sheep Boy“ von Okkervil River. Darauf singen sie wunderschöne Lieder von Halunken, Herzensbrechern und schrägen Vögeln

Cover Okkervil

Das Klischee eilt voraus: Country? Ist das nicht Altherrenmusik? Vom Leben rund um verlassene Highways und staubige Männer in Unterhemden, zerbeulte Wohnwagen und wogende Kornfelder? Die vertonte Bodenständigkeit der amerikanischen Südstaaten? Wie leicht man sich täuschen kann.

Hinfort mit den Cowboy-Hüten! Und mit den Western-Hemden. Hinaus aus der Tristesse der Wohnwagensiedlungen. Hinein in die Wollpullover, in die ein wenig zu engen T-Shirts, in die Hinterhofproberäume der Universität. Hier trifft die Rauheit des Punk auf die schlichten Arrangements und die Themen des Country. Alternative Country nennt man diese Musik oft. Zu deren besten Vertretern gehören zweifellos Okkervil River. Auch wenn die Texaner diese Bezeichnung wohl ungern hören.

Sechs Jahre ist es her, da bekam ihr Sänger Will Robinson Sheff die Kurzgeschichte Okkervil River der russischen Autorin Tatyana Tolstoya in die Finger. Falls Sie das zu Hause im Diercke-Atlas nachschlagen wollen: Den Fluss Okkervil gibt es wirklich, er fließt in der Nähe von St. Petersburg. Sheff gründete eine Band mit College-Freunden, benannte sie nach der Kurzgeschichte und veröffentlichte seitdem vier Alben, etliche EPs und Kollaborationen. In ihrer Musik vermengen Okkervil River dabei stets Elemente von Punk, Rock, Folk und Country. Getragen wird sie nicht nur von der musikalischen Finesse, sondern auch von Sheffs Texten über Mörder, Halunken, Herzensbrecher, rachsüchtige beste Freunde, Außenseiter und andere schräge Vögel.

Vor dem Album Black Sheep Boy kam der große Bruch. Besonders für Will Sheff. Sein Haus soll er verkauft haben, um frei zu sein, rumzureisen, Amerika zu sehen, Lieder zu schreiben. Ein Jahr lang. Dann fanden sich alle wieder ein in einer kleinen Blechhütte mit gewelltem Dach und ohne Klimaanlage mitten in Austin, Texas. Dort ist ein Konzeptalbum entstanden, voller Melancholie, Wehmut, Wut und furiosen Hymnen. Und gleichzeitig eine kleine Hommage an einen von Sheffs Helden: Folksänger Tim Hardin, der 1980 an einer Überdosis Heroin starb. Dessen Song Black Sheep Boy von 1967 entlieh Sheff seine Hauptfigur.

Das schwarze Schaf, das davon träumt zu töten. Merkwürdige Dinge tut, sagt und denkt – der teils böse, teils burleske Anti-Held, über den Okkervil River auf ihrem neuen Album ihre Geschichten singen. Und es macht einen Riesenspaß, ihnen dabei zuzuhören. Sie sind lauter geworden, treibender, wurzeln weniger im traditionellen Country: Die Mandoline weicht häufig mal einer zumindest in Nuancen verzerrten Gitarre, das Wurlitzer-Piano einem surrenden Synthesizer. Sheffs Stimme klingt nun öfter wütend. Überschlägt sich. Hallt nach. Oder ist das die Blechhütte?

Den verzweifelten Ausbrüchen folgen nahezu andächtig vorgetragene Schunkelstücke und todtrauriges Dahingeschmachte, begleitet von einer tranigen Trompete, wabernden Pedal-Steel-Gitarren und perkussivem Orgelspiel. Die Vielfalt der Instrumente innerhalb eines Lieds wie So Come Back, I’m Waiting ist beeindruckend genug – da bräuchte Will Sheff gar nicht mehr so gut zu dichten. Aber er macht’s trotzdem. Weil er wohl einer der begabtesten Songwriter ist, den die amerikanische Indie-Musik zurzeit hat.

Das Album erschien ursprünglich im vergangenen Jahr bei dem kleinen Label Jagjaguwar in den USA. Jetzt hat sich Virgin seiner angenommen und es in Europa neu veröffentlicht. Zusammen mit einem Appendix, einem Nachtrag, sieben Songs, die das Album erweitern und bereichern.

„Black Sheep Boy & Appendix“ von Okkervil River ist als Doppel-CD erschienen bei Virgin und als LP bei Jagjaguwar. Ende Mai ist die Band auf Tour durch Deutschland.

Hören Sie auf der Website der Band „For Real“ und „Black“

 

Während das Rührei leise schmort

Das schottisch-deutsche Trio Music A.M. verbindet elektronische Ästhetik mit einem fast nostalgischen Sinn für Musikgeschichte

Music A.M.

Der französische Komponist Erik Satie komponierte seine Musique Ameublement zwischen 1917 und 1920 als akustischen Hintergrund für bestimmte Räume. So alltäglich wie „das Licht, die Wärme“ sollte die Musik wirken – zum Zuhören war sie eigentlich nicht gedacht. Doch Satie machte einen Fehler: Er komponierte seine kreisenden Muster so berückend schön, dass ihnen die Menschen bis heute andächtig lauschen.

Kreisende Muster gibt es auch bei Music A.M., loopbasierte Tracks nennt man so etwas heute. Deren Funktion geht schon aus dem Projektnamen hervor, für den Vormittag sind sie gedacht. Doch anders als bei Satie, der wiederholt und vergeblich auf seine ursprüngliche Absicht hinwies, geht das Konzept bei Music A.M. geradewegs auf. Seit Wochen bereits ist der tragbare CD-Player in meiner Küche mit Unwound From The Wood bestückt. Immer wieder kommt es zu Momenten großer Rührung, während das Rührei leise schmort.

Die Musik des schottisch-deutschen Trios ist frei von Pathos. Sie scheint wie nebenbei komponiert, und man bemerkt sie erst, wenn sie schon unter der Haut ist. Zunächst nisten sich die gemächlich pulsierenden Beats und tieffrequenten Bassläufe ein, dann verströmen getragene Bläsersätze ein Gefühl von Vertrautheit. Schließlich sind es Luke Sutherlands sehnsüchtig gehauchte Textpassagen, die den ersten Kaffee zu einem Erlebnis außerhalb von Raum und Zeit machen. Dergestalt verstreichen die Tage.

Es wäre nicht verkehrt, Music A.M. eine Allstar-Band zu nennen. Schon seit Mitte der neunziger Jahre bereichern Luke Sutherland, Stefan Schneider und Volker Bertelmann die subkulturelle Musiklandschaft mit Projekten wie To Rococo Rot, Hauschka und Long Fin Killie. Gerade eben hat Schneider als Mapstation eine Platte voll reduzierter Rhythmusstudien veröffentlicht, Sutherland ist inzwischen ein angesehener Romancier. Der kleinste gemeinsame Nenner all ihrer Äußerungsformen ist eine Abneigung gegen Klischees jeglicher Art.

Auf Unwound From The Wood trifft elektronische Ästhetik auf einen fast nostalgischen Sinn für Musikgeschichte. Dazu passt, dass Sutherland in Stars On 45 ein großes Gefühl mit der Zeit verknüpft, als man noch Singles auf seinen Plattenspieler legte. Je genauer man hinhört, desto klarer schält sich der doppelte Charakter dieser Platte heraus: Sie ist zugleich zeitlos und aktuell; sachlich, aber auch sexy.

Man könnte dieses federleichte Gemisch in einer modischen Cocktail-Lounge laufen lassen, es würde sich als gedeckte Klangtapete sicherlich bewähren – doch schade wär’s um die schöne, tiefe Musik.

„Unwound From The Wood“ von Music A.M. ist als CD erschienen bei Quartermass/Alive.

Hören Sie hier „Stars On 45“

 

Aus der Tiefe des Raumes

Die Hamburger Band Halma reist durch Landschaften aus Klang. Und schreibt dort erhabene, ruhige Lieder, die in keine Schublade passen

Halma

Ein sphärisches Rauschen, nur ein paar Sekunden, beinahe unhörbar. Dann setzt ein tiefer, vibrierender Basslauf ein, ganz langsam, Ton für Ton, druckvoll dennoch und bestimmt. Schließlich ein einfaches Klaviermotiv, nur ein paar Tasten, wieder und wieder. Oder ist das ein Glockenspiel? Nach und nach treten weiche Töne einer akustischen und sägende Laute einer elektrischen Gitarre hinzu, außerdem ein paar sanfte Schlagzeugstreicheleien. Bass Strait eröffnet Back To Pascal, das dritte Album der Band Halma. Ein ruhiges Album ohne einen einzigen dramatisierenden Tempowechsel. Wie soll man das nennen? Vielleicht Zeitlupenmusik?

Es scheint, als versetze die Band ihre zahlreichen Instrumente in langsame Schwingungen, um zu horchen, wie sich der Klang breit macht, kurz den Raum einnimmt und schließlich verschwindet. Weite Landschaften aus Tönen entstehen so, verklingen und werden wieder aufgebaut. Das Meiste bleibt schemenhaft, wie im Nebel. Mancher Anschlag der Bass-Saite und des Schlagzeugfells ist so zart, das man ihn sich auch eingebildet haben könnte. Also Traummusik?

Eile jedenfalls haben Halma keine. Ihre Musik kriecht, schleicht, räkelt und windet sich. Wie die Wolken an einem Herbstnachmittag auf dem flachen Schleswig-Holsteinischen Land türmen und ballen sich die sieben Stücke in den Himmel, stehen dort wie Monumente aus Licht und Schatten, beinahe unbewegt. Wie in den Bildern Emil Noldes. Ölgemäldemusik vielleicht?

Vielleicht. Der Musik nur einen Namen zu geben, ist schwierig. Zeitlos sei sie, sagen manche, für reduziert halten sie andere. Manche nennen das Postrock. Alles richtig, alles genauso falsch. Halma setzen ihre Musik zwischen die Stühle, die Genregrenzen. Jazz klingt in den Improvisationen durch. Schneller gespielt wäre manches irgendwie tanzbar oder sogar rockig. Gleichzeitig ist Back To Pascal melodiös und präzise wie eine Popplatte. Und das Prinzip, mit der Verbindung der Genres zu experimentieren, ist in der Tat Postrock-Bands wie Tortoise abgeschaut. Minutenlang oft wiederholen sich die Motive und Läufe. Immer neu und unberechenbar werden sie ineinander verschachtelt, um neue Einflüsse und (elektronische) Spielereien erweitert. So regt jedes Stück eine Vielzahl von Bildern an, löst kleine Filme im Kopf aus. Das Video zu dem Song Beaufort spielt dann auch ganz deutlich auf F. W. Murnaus Stummfilm Nosferatu an. Nennen wir es also Kopfkinomusik?

Back To Pascal ist eine Instrumentalplatte. Einzig Land’s End hat einen Text: „Let Me Travel This Land From The Mountain To The Sea, For That’s The Life I Believe He Meant For Me“ singen sie zweistimmig, Hank Williams finale Worte aus der Country-Ballade Ramblin‘ Man. „And When I’m Gone At My Grave You Stand, Just Say God’s Called Home Your Ramblin‘ Man“. Das Reisen funktioniert als ein Leitmotiv fast aller Songs. Titel wie Bass Strait (die Meeresstraße zwischen Australien und Tasmanien) und Land’s End, aber auch Hektopascal und Beaufort gemahnen an eine Schiffsreise. Hier und da erahnt man das Knarren einer morschen Planke, das Fauchen der sich am Bug brechenden Gischt. Klingt so Fernweh? Ist das Reisemusik?

Probieren wir es einfach ohne Namen: Mit Back To Pascal haben Halma ein beeindruckendes Album voller Gelassenheit und Schönheit erschaffen, berstend vor Ideenreichtum und vor Bildern. Ein Leichtes, sich davon mitreißen zu lassen.

„Back To Pascal“ von Halma ist als CD und LP erschienen beim Hamburger Label Sunday Service.

Hören Sie hier „Land’s End“

 

Ganz nah am Strand

Beine ausstrecken und genießen! Cluesos Album „Weit weg“ taugt trotz ernster Untertöne als Begleitmusik für den Sommer 2006

Weit Weg

Clueso heißt eigentlich Thomas Hübner und kommt aus Erfurt, einer Stadt im Osten Deutschlands, in der viele Menschen an ihren Aussichten zweifeln. Sein Künstlername erinnert nicht zufällig an den stets hochmotivierten, jedoch nur selten erfolgreichen Inspektor Clouseau aus dem Rosaroten Panther. Mit seinen bisher zwei Alben und einem Auftritt bei Stefan Raabs Bundesvision Contest erregte er Interesse – zum großen Durchbruch kam es noch nicht.

Vielleicht auch deshalb blieb der Künstler auf dem Boden und widmete seinem neuen Album Weit weg große Aufmerksamkeit.Ich geb ständig mein Bestes“, singt er. Und wenn das nicht reicht, helfen Freunde wie Max Herre von Freundeskreis oder die New Telepathics, ein Soundtüftelprojekt des Serafin-Musikers Darryn Harkness.

Denn wenn man im Nachhinein erfährt, wie viel konstruiert ist, wird einem so kalt, dass man fast erfriert. Vielleicht sind wir alle schon komplett gestört, dass uns ringsrum so viel Schwachsinn völlig fasziniert.“

Gymnasiastenpop? Thüringer Hauptschule! Er kennt mehr vom Leben als manche durchproduzierte Nachwuchsband. Das zeigt sich in den Texten wie in den Stimmungen. In Chicago beispielsweise: äußerlich ein plätschernder Popsong, doch wehe, man achtet auf den Text. Es geht um das Ende einer Drogenkarriere – und Clueso ist hier ungleich ernster als noch in Vergessen ist so leicht vom Vorgängeralbum Gute Musik. Sein Nichteinverstandensein mit vielem ist das eine, welche Worte er dafür findet, das andere.

Sprechgesang, unterlegt mit eingängigen Beats, so definiert sich HipHop. Clueso macht demnach keinen. Zwar reimen sich die meisten seiner Liedzeilen, manches mal jedoch nur aufgrund von Dialektfärbungen. Wer einen deutschen Eminem erwartet, wird von der Musik wie vom Text enttäuscht.

Alle anderen dürfen sich freuen: Clueso rappt nicht – er ist ein einfallsreicher Liedermacher, offen nach vielen Seiten: hier ein bisschen Punk (in Hirn ein), dort ein wenig Reggae und dann, natürlich, die akustische Gitarre. Der zusammen mit Max Herre aufgenommene Song Da wohnt so ’n Typ schwankt zwischen rockigem Refrain und entspannten Strophen. Deutschpoppern wie Selig (bei Überall bist Du) ist er oft näher als vielen seiner HipHop-Kollegen.

Wer deutsche Popmusik mag, nichts gegen Sprachakrobatik und musikalische Anleihen aus verschiedenen Genres einzuwenden hat, kann mit Weit weg einen wunderbaren Sommer erleben. Caipirinha raus, Beine hoch, genießen!

„Weit Weg“ von Clueso ist als CD erschienen bei Sony BMG.

Hören Sie hier „Chicago“