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Wie (schnell) werde ich Landesvater? Ein Jahr nach der Wahl in Baden-Württemberg

von Thorsten Faas und Johannes Blumenberg

Die Zeiten von „Wir können alles – außer politische Veränderung“ sind in Baden-Württemberg längst Geschichte. Stuttgart21, Eskalation im Schlossgarten, Schlichtung, Stresstest, Fukushima, Moratorium, Landtagswahl, Volksabstimmung. Wer hätte gedacht, dass das „Ländle“ überhaupt in solch politisch-turbulentes und dynamisches Fahrwasser geraten kann. Heute vor einem Jahr jedenfalls, am 27. März 2011, fand die Landtagswahl statt. Am Ende des Wahlabends standen 71 Sitze für Grün-Rot im Stuttgarter Landtag, 67 für Schwarz-Gelb. Und kurz darauf hat eben dieser Landtag Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpäsident der bundesdeutschen Geschichte gewählt.

Seit November 2010 begleiten wir an der Universität Mannheim mit (Online-)Umfragen die politischen Entwicklungen im Südwesten Deutschlands. Inzwischen haben wir einen identischen Kreis von rund 1.000 Personen insgesamt neun Mal befragt. So können wir nachzeichnen, was in den letzten rund 18 Monaten politisch passiert ist. Und wie folgende Abbildung zeigt, ist Einiges passiert – gerade mit Blick auf die Grünen und ihren exponiertesten Vertreter, Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Entwicklung der Beliebtheitswerte (*)

Wir haben unsere erste Befragung, die wir Ende 2010 durchgeführt haben, als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung genommen. Wie haben sich die Beliebtheitswerte von Kretschmann und den Grünen relativ dazu entwickelt? Zunächst praktisch gar nicht: Zum Zeitpunkt unserer zweiten und dritten Befragung, rund fünf bzw. drei Wochen vor der Wahl vom 27. März 2011 haben sich beide Kurven kaum verändert. Doch schon in der letzten Woche vor der Wahl deutet sich an: Die Grünen sind „ready for take-off“ – und allen voran ihr Spitzenmann.

Nach dem Wahlsieg vom 27. März 2011 beschleunigen sich dann die beiden Prozesse, die sich auf der Zielgerade des Wahlkampfs schon angedeutet haben:
1) Die Kurven für Kretschmann und die Grünen steigen deutlich an.
2) Die Kurven entkoppeln sich.

Schon in der fünften Befragungsrunde, durchgeführt unmittelbar nach dem Wahltag, setzt ein, was Wahlforscher prosaisch den „Honeymoon“-Effekt nennen: Im Lichte des Wahlerfolgs sonnen sich die Sieger und gewinnen an Zuspruch. Die Grünen können einen halben Sympathiepunkt hinzugewinnen – Kretschmann einen ganzen. (*) Und sein Aufstieg geht in der Folge sogar noch weiter: Befragungsrunde 6, unmittelbar nach der Vereidigung der neuen Regierung, weist nochmals einen deutlichen Sympathiegewinn für den MP aus. Auch das Ansehen der Grünen steigt weiter – wenn auch deutlich bescheidener.

„Honeymoon is größtenteils over“ heißt es danach für die Grünen: In unseren Befragungswellen 7 und 8 – durchgeführt in den Wochen vor der Volksabstimmung zu Stuttgart21 – sinken ihre Beliebtheitswerte wieder und pendeln sich auf einem Niveau ein, das insgesamt etwas über dem Ausgangsniveau vom November 2010 liegt. Anders im Falle des Ministerpräsidenten: Seine Werte bleiben oben – knapp 1.5 Sympathiepunkte über dem Wert, mit dem er 2010 in den Wahlkampf gestartet ist.

Der Aufstieg Kretschmanns ist in Rasanz und Persistenz bemerkenswert. Nur zur Erinnerung: Wir haben immer den gleichen Personenkreis befragt! Es handelt sich folglich um realen Wandel – der wohl nur dadurch zu erklären ist, dass Kretschmann in kürzester Zeit die Rolle des Landesvaters erfolgreich eingenommen hat. Selbst das schwierige Umfeld rund um die Volksabstimmung und deren Umsetzung haben seiner gewachsenen Beliebtheit offenkundig nichts anhaben können. Er ist im Amt angekommen. Viele Kommentare, die dieser Tage aus Anlass des „Einjährigen“ geschrieben und gelesen werden, argumentieren ähnlich. Unsere Zahlen zeigen: Sie haben wohl recht.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

Johannes Blumenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim.

(*) Basis der Abbildung sind so genannte Symapthieskalometer. Die Politikerfrage lautet dabei: „Kommen wir nun zu einigen führenden Politikern in Baden-Württemberg. Einmal ganz allgemein gesprochen, was halten Sie von diesen Politikern? Benutzen Sie dafür bitte eine Skala von +5 bis -5. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von der Person halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von ihr halten“; die Parteienfrage lautet analog. Wir haben die mittleren Bewertungen, die für die erste Befragung resultierten, dabei als Ankerpunkt verwendet und in der Grafik auf den Wert 0 gesetzt.

 

Saarland: Koalitionspolitik = Programm + Personen

Morgen sind Millionen Hunderttausende von Saarländern aufgerufen, die Zusammensetzung des Landtags in Saarbrücken neu zu bestimmen. Spannende Fragen stehen im Raum: Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Im Superwahljahr 2009 lag sie bei immerhin 67,6 Prozent – morgen dürfte sie wohl deutlich niedriger liegen. Kommen die Grünen in den Landtag? Letzte Umfragen sehen sie zwischen 4 und 5 Prozent. Schaffen es die Piraten, in einem Binnenland in ein Landesparlament einzuziehen? Umfragen sehen sie zwischen fünf und sechs Prozent. Welche Zahl wird bei der FDP vor dem Komma stehen? 1, 2 oder 3? Wie stark wird die Linke werden? 2009 waren es über 21 Prozent, Oskar sei Dank. Und: Wer wird stärkste Kraft im Land werden? CDU oder SPD? Letzte Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Und trotzdem ist die Wahl zugleich unglaublich langweilig. Denn klar ist: Es wird eine Koalition aus Union und SPD geben, das betonen beide Seiten seit Beginn des Wahlkampfs und haben daran auch keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Einzig die Frage, wer diese Koalition führen wird, ist offen. Nach den Koalitionsturbulenzen nach der Wahl 2009, an deren Ende die Jamaika-Koalition stand und zu Beginn des Jahres unterging, wirkt dies geradezu trotzig.

Gleichwohl ist diese Festlegung auch sehr bemerkenswert – und zwar aus inhaltlicher Sicht. Schaut man nämlich auf die Antworten, die die saarländischen Parteien auf die 38 Thesen des Saarland-Wahlomaten gegeben haben, so drängt sich diese große Koalition erheblich weniger stark auf, wie die folgende Abbildung zeigt:

Grad der Übereinstimmung der saarländischen Parteien gemäß Wahlomat

Wie schon bei früheren Wahlen kann man die Partei-Antworten auf die Wahlomat-Thesen nutzen, um daraus einen Indexwert (*) abzuleiten, der anzeigt, wer wem wie nahesteht. Und dabei zeigt sich eben: Die größte inhaltliche Überstimmung gibt es zwischen SPD und Linken, gefolgt von SPD und Piraten. Da beide Parteien – wenn die Umfragen stimmen – zukünftig an der Saar im Landtag sitzen werden, ergäben sich daraus durchaus inhaltlich fundierte Koalitionsoptionen. Zumindest aus Sicht der SPD ist die felsenfeste Festlegung auf die Große Koalition (potenziell sogar als Juniorpartner) durchaus überraschend. Weniger gilt dies für die Union: Zwar herrscht die größte Übereinstimmung mit der FDP, aber das ist eher von theoretischem Interesse. Die Schnittmenge mit der SPD – wenn auch insgesamt nur mäßig stark ausgeprägt – ist immer noch ihre beste (realistische) Koalitionsoption. Übrigens zeigt der Wahlomat auch das Problem der alten Jamaika-Koalition – zwischen FDP und Grünen gibt es nur sehr geringe Übereinstimmungen.

Wieder einmal zeigt sich: Politik ist eben mehr als Programmatik. Gerade in einem überschaubar großen Land wie dem Saarland mit seinen engen Netzwerken und den darin enthaltenen positiven wie negativen Verbindungen müssen die Leute auch „können“ – und das scheint bei CDU und SPD noch am ehesten der Fall zu sein. Und deswegen wird’s morgen nur mäßig spannend werden.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

 

Einer für alle: Die erste Rede des neuen Bundespräsidenten

Von Thorsten Faas, Marc Debus und Jochen Müller

991 Stimmen, knapp 80 Prozent konnte der neue Bundespräsident Joachim Gauck am vergangenen Sonntag in der Bundesversammlung auf sich vereinen. Über 100 Delegierte hatten sich aber bei der Abstimmung auch enthalten. Diese doch überraschend hohe Zahl – wohl aus den Reihen der ihn unterstützenden Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen – könnte ein Hinweis darauf sein, dass einige Mitglieder der Bundesversammlung nicht mit den inhaltlichen Positionen, für die Gauck eintritt, einverstanden waren – oder sind.

Heute hat der neue Bundespräsident nun seine mit Spannung erwartete erste Rede gehalten. Wie lässt sich die Rede Gaucks in dem für Deutschland prägenden zweidimensionalen Konfliktraum einordnen? Die bundesdeutschen Parteien lassen sich danach kategorisieren, ob sie einerseits für einen eher „starken“ oder eher „schwachen“ Staat“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eintreten und ob sie andererseits für eher „progressiv-libertäre“ oder eher „konservative Einstellungen“ in gesellschaftspolitischen Fragen eintreten.

Vor dem Hintergrund, dass Parteien wie Politiker in ihren Programmen wie auch in ihren Reden bestimmte Signalwörter verwenden, die Ausschläge auf der einen oder anderen Dimension begründen, haben wir die heutige Rede Gaucks in Bezug zu den Wahlprogrammen aus dem Jahr 2009 der im Bundestag vertretenen Parteien gesetzt. Die Ergebnisse sind in der folgenden Abbildung dargestellt.

Es zeigt sich, dass durchaus alle zufrieden sein können. Joachim Gauck scheint mit seinen Worten die Mitte der Gesellschaft und der Politik gut getroffen zu haben. Dies schließt auch die Parteien ein. So lag die Position, die Gauck in seiner Rede zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen bezogen hat, nahe an der inhaltlichen Ausrichtung der Sozialdemokraten wie auch der Grünen. Gesellschaftspolitisch ist er zwischen SPD und CDU/CSU positioniert.

Insgesamt dürfte er – zieht man als „Programm“ seiner Präsidentschaft die heute von ihm gehaltene Rede heran – je nach Politikfeld programmatische Schnittmengen mit nahezu allen Parteien aufweisen können, die ihn gewählt haben. Aber er kann in diesem zweidimensionalen Raum auch offenkundig Positionen finden, die für jede einzelne Partei herausfordernd bis unangenehm sein werden. Keine schlechten Voraussetzungen für einen neuen Bundespräsidenten.

 

Quotierte Urwahlen

Beteiligungsverfahren sind ja derzeit in aller Munde – auch bei den Grünen: Auf den Seiten der Grünen kann man lesen,

„dass die Partei mit einer „quotierten Doppelspitze“ zur Bundestagswahl 2013 antritt. Dies bedeutet, dass mindestens eine Person dieser Doppelspitze eine Frau sein muss. … Das Verfahren zur Benennung der beiden SpitzenkandidatInnen wird in den nächsten Wochen weiter beraten. Für den Fall, dass sich mehr als zwei Personen für das Spitzenduo bewerben, ist auch eine Urabstimmung der Parteimitglieder im Gespräch.“

Man darf sicherlich auch annehmen, dass eine Lagerquotierung zwischen „Parteilinken“ und „Reformern“ (formerly known as „Fundis“ bzw. „Realos“) in der Partei als durchaus wünschenswert angesehen wird.

Wie aber lassen sich Quotierung und Urwahl sinnvoll vereinen? Was würde etwa in einer Situation passieren, in der Trittin, Roth, Künast und Özdemir kandidierten? Natürlich ist die Situation hypothetisch, da Cem Özdemir ja bereits seinen Verzicht angedeutet hat. Aber gleichwohl: Gäbe es dann zwei getrennte Urwahlen, eine für Männlein, eine für Weiblein? Was passierte in einer Situation, in der Trittin, Roth und Özdemir kandidierten? Wäre Claudia Roth dann gesetzt, während die beiden Herren sich einer Urwahl um den freien Platz stellen? Oder wäre in dieser Situation nicht eigentlich klar, dass das Spitzenduo Roth/Özdemir lauten muss, um beiden Quotenvorgaben – nach Lager und Geschlecht – überhaupt gerecht werden zu können? Statistiker würden nämlich davon sprechen, dass bei der (Aus-)Wahl und den gegebenen Vorgaben schlicht keine „Freiheitsgrade“ mehr bleiben, es gibt nur eine Lösung in diesem Fall.

Letztlich könnte die Möglichkeit einer Urwahl zur Folge haben, dass schon im Vorfeld intern ein Tableau abgestimmt wird, dass eine Urwahl überflüssig macht. Denn nur so ließ sich mitunter das Einhalten beider Quoten garantieren. Die Möglichkeit einer Urwahl macht sie selbst überflüssig quasi.

Direkt- und repräsentativdemokratische Verfahren folgen nun einmal unterschiedlichen Logiken, die mitunter in Konflikt zueinander stehen. Das heißt nicht, dass eine Form zwingend der anderen überlegen ist. Aber sie sind anders. Dessen sollte man sich bewusst sein, bei der Auswahl von Spitzenpersonal, bei der Auswahl von Bundespräsidenten, aber auch bei direkter Beteiligung der Bürger an Gesetzgebungsverfahren. Wer glaubt, man könne mal eben ein bißchen direkte Demokratie einbauen, zugleich aber alles Althergebrachte (und mitunter Geschätzte) behalten, der irrt.

 

Mehr Fragmentierung denn je – trotz maximaler Mehrheit: Das deutsche Parteiensystem im Lichte der Bundesversammlung

Dass das Parteiensystem der Bundesrepublik in Bewegung ist, sieht man derzeit allerorten: Das Jamaika-Experiment im Saarland ist gescheitert, die rot-grüne Minderheitsregierung stand vergangene Woche plöztlich ohne Mehrheit und Haushalt da. Klare Mehrheitsverhältnisse sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Letztlich spiegelt das auch die heutige Bundesversammlung wider, denn auch die übergroße („überparteiliche“) Koalition kann als Reaktion auf zunehmend knappe Merheiten verstanden werden.

Ein häufig verwendetes Maß zur Beschreibung des Parteiensystems (aus der Perspektive der Fragmentierung) ist die effektive Zahl der Parteien, die neben der Zahl der Parteien auch deren relatives Gewicht berücksichtigt. Wie die folgende Grafik zeigt, ist die heutige Bundesversammlung auch aus dieser Warte betrachtet eine sehr besondere: Mit 3,8 war die effektive Parteienzahl in der Bundesversammlung noch nie höher als heute. Noch nie also war die Fragmentierung höher als heute! Seine Ursache hat dies vor allem in der Schwäche der beiden großen Parteien: Der relative Anteil der SPD in der Versammlung stagniert auf niedrigem Niveau; der Anteil der Union an den Wahlpersonen der Versammlung war nur 1949 niedriger als heute. Umgekehrt muss logischerweise der Anteil anderer Parteien wachsen – und damit auch die Zahl effektiver Parteien.

Man mag darüber streiten, welche „Signale“ von einer Bundesversammlung und ihrer einzigen Funktion – der Wahl des Staatsoberhaupts – ausgehen. Aber klar ist doch. Die Entwicklungen des Parteiensystems spiegelt die Versammlung wider. Und dass damit Herausforderungen für die Parteien verbunden sind, wissen nicht nur all jene, die gerade in Wahlkämpfen aktiv sind.

 

Der Takt der Bundesversammlung wird hektisch

Manchmal helfen einfache Visualisierungen, um zu erkennen, wie sich die Dinge verändert haben… 60 Jahre lang war das Amt des Bundespräsidenten ein Ort absoluter Stabilität – erkennbar am nahezu konstanten Abstand zwischen den Bundesversammlungen I bis XIII. Und dann? Erst wirft Horst Köhler nach knapp einem Jahr seiner zweiten Amtszeit das Amt hin und weg, jetzt Christian Wulff nach gut eineinhalb Jahren… Würde man die Dauer dieser beiden Amtszeiten hochrechnen, würden die nächsten Bundesversammlungen im März 2012, August 2013 und Januar 2015 stattfinden.

Abstand zur vorhergehenden Bundesversammlung in Tagen

 

Ministerpräsident = Präsident + Kanzler

Fast scheint der Punkt erreicht, an dem alles zum Thema gesagt ist, nur noch nicht von jedem. Aber ein kleiner, systematischer Punkt scheint mir unerwähnt bislang. Vielleicht, weil er irrelevant ist. Aber vielleicht ist er auch einfach untergegangen, aber doch bemerkenswert.

„(Sie oder er) vertritt das Land nach außen“.
„(Sie oder er) übt im Einzelfall das Begnadigungsrecht aus.“

Klingt nach Bundespräsident. Artikel 59 des Grundgesetzes lautet allerdings: „(1) Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten.“ Und in Artikel 60 heißt es: „(2) Er übt im Einzelfalle für den Bund das Begnadigungsrecht aus.“ Um den Bundespräsidenten geht es demnach bei den obigen Zitaten nicht.

Die Zitate stammen aus der niedersächsischen Landesverfassung (und finden sich in sehr ähnlicher Form in praktisch allen deutschen Landesverfassungen). Sie lauten im Original:

„(1) Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident vertritt das Land nach außen.“ (Art. 35)
„(1) Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident übt im Einzelfall das Begnadigungsrecht aus.“ (Art. 36)

Aus systematischer Sicht zeigen diese beiden Artikel stellvertretend, dass das Amt eines Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes gleichzeitig all jene Aufgaben umfasst, die auf Bundesebene teils die Bundeskanzlerin, teils der Bundespräsident ausübt. Ein Ministerpräsident ist Kanzler und Präsident, Regierungschef und Staatsoberhaupt in Personalunion.

Den Luxus getrennter Ämter – Kanzler + Präsident – leisten sich die Bundesländer nicht. Aber das bedeutet nicht, dass es die Aufgaben und die Rolle eines Staatsoberhaupts auf Länderebene nicht gibt. Der Ministerpräsident übernimmt sie – beide. Damit müsste also jeder Ministerpräsident wissen, „wie Präsident geht“, denn es ist ein ureigener Teil seines Jobs.

 

Aus der Kategorie „Immer Ärger mit diesem Wahlrecht“, heute: Berlin

Als Wahlrecht hat man es in diesen Tagen nicht leicht… Auf Bundesebene gibt es derzeit kein verfassungsgemäßes Wahlrecht. Auch in Schleswig-Holstein war das Wahlrecht, das bei der jüngsten Landtagswahl zur Anwendung kam, nicht verfassungskonform, weswegen im kommenden Jahr eine vorgezogene Wahl stattfinden muss.

Nun wählt am Sonntag Berlin – und wieder könnte ein Wahlrechtsdetail für großen Aufruhr sorgen. Es geht um §18 des Berliner Wahlgesetzes, betitelt „Sperrklausel“. Dort heißt es:

Parteien, die im Wahlgebiet weniger als fünf vom Hundert der abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben, werden bei Berechnung und Zuteilung der Sitze nach § 17 nicht berücksichtigt; dies gilt nicht, sofern mindestens ein Bewerber oder eine Bewerberin der Partei nach § 16 einen Sitz im Wahlkreis errungen hat.

Klingt nach einer ganz „gewöhnlichen“ 5%-Klausel, wie wir sie auch bei Bundes- und sonstigen Landtagswahlen kennen. Ist es aber nicht (ganz). Im Bundeswahlgesetz lautet die analoge Bestimmung nämlich: „Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten … haben“.

Worin liegt der Unterschied? In Berlin müssen 5% der abgegebenen Stimmen erreicht werden, im Bundesgebiet (und auch in allen anderen Ländern) 5% der gültigen Stimmen. In einem Fall zählen die ungültigen Stimmen also mit, im anderen Fall nicht. Es könnte daher die paradoxe Situation aufkommen, dass die Balken, die wir ab 18 Uhr in den Prognosen und Hochrechnungen sehen werden, zwar über die 5%-Marke hinausragen (denn die Basis der Balken sind die gültigen Stimmen), eine Partei aber trotzdem NICHT ins Abgeordnetenhaus einzieht. Hoffentlich bringt das den Touchscreen nicht aus der Ruhe…

Ein Beispiel: Am Sonntag werden 2,47 Millionen Bürgerinnern und Bürger wahlberechtigt sein. Nehmen wir an, 58% von ihnen machen von ihrem Wahlrecht Gebrauch (das entspricht der Wahlbeteiligung der Wahl 2006). Demnach gäbe es 1.432.600 abgegebene Stimmen. Nehmen wir weiterhin an, dass 2% dieser abgegebenen Stimmen (bezogen auf die Zweitstimme) ungültig sind, das wären 28.652 ungültige Stimmen; somit gäbe es 1.403.948 gültige Stimmen.

Um in das Abgeordnetenhaus in Berlin einzuziehen, braucht eine Partei 5% der abgegebenen Stimmen, das wären 71.630 Stimmen. Würde dagegen eine Regel analog zum Bundeswahlgesetz gelten, dann würden 5% der gültigen Stimmen ausreichen, das wären 70.197,4 (also 70198) Stimmen – ein Unterschied von immerhin 1.432 Stimmen!

Wären sogar 4% der abgegebenen Stimmen ungültig (wie jüngst in Mecklenburg-Vorpommern), dann gäbe es „nur“ 1.375.296 gültige Stimmen und dann würden „normalerweise“ sogar 68.765 Stimmen reichen, um in einen Landtag einzuziehen – außer eben in Berlin; dort bräuchte man 2.865 mehr (nämlich weiterhin besagte 71.630).

Heißt also ganz konkret: Würde eine Partei – nennen wir sie zum Beispiel „Die Seefahrer“ oder „GDP“ – in ersten Szenario (mit 2% ungültigen Stimmen) 71.629 Stimmen erhalten, dann würde der Balken in ARD und ZDF 5,1% anzeigen – und trotzdem wäre die Partei draußen, denn bezogen auf die abgegebenen Stimmen wären es nur 4,9999 Prozent. Im zweiten Fall (mit 4% ungültigen Stimmen) würden der Balken sogar 5,2% anzeigen, reichen würde es trotzdem nicht.

Für Spannung ist also gesorgt am Sonntag, auch aus dieser Warte!

Übrigens: Keine der beiden Lösungen ist zwangsläufig besser, vielmehr ist die eine so arbiträr wie die andere. Die Berliner Lösung ist lediglich ungewöhnlich. Man könnte sogar argumentieren, dass eigentlich die Zahl der Wahlberechtigten eine sinnvolle Bezugsgröße für eine Sperrklausel wäre. Dann hätten nämlich Parteien einen Anreiz, auch die Wahlbeteiligung im Auge zu behalten, die leider allzu oft an den Diskussionen an Wahlabenden untergeht.

 

Klar zum Entern?

Die Piraten stehen möglicherweise vor dem größten Erfolg ihrer kurzen Parteigeschichte. Der Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus liegt im Bereich des Möglichen, wie die aktuellen Umfragen zeigen. Der Sprung über die 5%-Hürde – kleine Fußnote am Rande: in Berlin zählen bei der Feststellung, ob die Hürde übersprungen worden ist, die ungültigen Stimmen mit, was das Überspringen etwas schwieriger macht! – ist im Bereich des Möglichen, was natürlich die Frage aufwirft: Wer sind diese Piraten, die offenkundig klar zum Entern des Abgeordnetenhauses sind? Marc Debus hat sich an dieser Stelle schon einmal dieser Frage angenommen, einmal mit Blick auf die Parteipositionen, einmal mit Blick auf mögliche Koalitionsmodelle. Programmatisch tummeln sich die Piraten in der Nähe von Grünen und Linken und auch eine Koalition von SPD, Linken und Piraten ist nach den Ergebnissen von Marc Debus durchaus wahrscheinlich.

Man kann – wie ich es auch anlässlich von früheren Wahlen hier schon getan habe – den Wahl-o-mat und seine 38 Thesen heranziehen, um sich ein Bild über die Distanz zwischen verschiedenen Parteien zu machen (*). Tut man dies für die Wahl am kommenden Sonntag, dann zeigt sich eindeutig, was sich auch bei Marc Debus schon gezeigt hat: Die Piraten sind eine linke Partei. Die programmatischen Übereinstimmungen zur Linkspartei und den Grünen gehören zu den höchsten Übereinstimmungsraten überhaupt, auch die SPD ist den Piraten nicht allzu fern, wie die folgende Abbildung zeigt:

Dagegen stimmen die Piraten in ihren Aussagen zu den 38 gestellten Thesen in weniger als der Hälfte der Fälle mit der FDP überein; noch geringer ist die Übereinstimmung mit der CDU.

Die linke Seite des politischen Spektrums füllt sich also weiter. Werden die Piraten für die Grünen, was die Grünen für die SPD waren, „Fleisch vom Fleische der Grünen“? Das könnte die gewisse Nervosität, die auch im Wahlkampf auf Seiten der Grünen zu verzeichnen war, erklären.

Auch wenn es schwer bleiben wird für die Piraten, sich programmatisch in diesem dichten Umfeld auf der linken Seite des politischen Lagers zu behaupten, so könnte die Wahl in Berlin doch ein wichtiges Signal aussenden: Die 5%-Hürde ist für die Piraten überwindbar – und Stimmen für die Piraten damit nicht mehr zwangsläufig verschenkt. Amerikanische Kollegen sprechen in solchen Situationen von viability, gerade auch jetzt wieder im Kontext der Vorauswahl des republikanischen Präsidentschaftswahlkampfs: Welcher Kandidat ist überlebensfähig? In wen lohnt es sich zu investieren? Vom Ergebnis am Sonntag könnte ein Signal ausgehen: Die Piraten sind viable, denn darüber entscheidet in unserem Kontext eben die 5%-Hürde. Und damit könnten sie endgültig (aus machtpolitischer Sicht) zu einer ernstzunehmenden Kraft werden – und zwar auf der linken Seite des politischen Spektrums.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Die Probleme des neuen Bremer Wahlrechts

Schon wieder eine historische Wahl in diesem Superwahljahr, dieses Mal in Bremen: Die SPD regiert seit mehr als einem halben Jahrhundert das Land – und wird den Stadtstaat auch weiter regieren. Die Grünen sind schon wieder Zweiter geworden. Historisch war auch die Wahlbeteiligung, leider wieder einmal historisch niedrig. Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die Wahlbeteiligung vom Sonntag bei gerade einmal 56,6 Prozent.

Man hat sich an diese immer neuen Tiefststände fast gewöhnt. Man hat sich auch schon daran gewöhnt, dass an Wahlabenden eine pflichtschuldige Enttäuschung über die geringe Beteiligung öffentlich zur Schau getragen wird, um sich danach genüsslich den wichtigen Fragen des Wahlabends widmen zu können: Welche bundespolitischen Auswirkungen gehen nun von Bremen aus? Wäre nicht doch vielleicht Schwarz-Grün eine Machtoption für Bremen? Ist Philipp Rösler nun nach nur einer Woche schon „geschwächt“?

Und doch gibt es zwei Facetten rund um Wahlsystem und Wahlbeteiligung, auf die man in Bremen genauer schauen sollte. Zunächst zum Wahlsystem: Wie schon in Hamburg, so durften auch jetzt in Bremen die Menschen mehr Kreuzchen auf ihrem Stimmzettel machen, nämlich fünf an der Zahl. Sie durften das sogar über mehrere Parteilisten hinweg tun. Das erfolgreiche Volksbegehren „Mehr Demokratie beim Wählen“ hatte diese Änderungen auf den Weg gebracht. Und diejenigen, die zur Wahl gegangen sind, haben von ihren erweiterten Möglichkeiten eifrig Gebrauch gemacht, sagen die ersten Zahlen.

Aber: Was, wenn das neue Wahlsystem (manche) Menschen abgeschreckt hat? Wäre das nicht „weniger Demokratie beim Wählen“? Immerhin wissen wir aus vielen, vielen Studien, dass selbst das Wahlsystem bei Bundestagswahlen von vielen Menschen im Land nicht richtig verstanden wird, dass viele Menschen etwa glauben, die Erst- sei wichtiger als die Zweitstimme oder beide seien doch zumindest gleich wichtig. Man darf vermuten – auch wenn man bislang nicht allzu viel darüber weiß –, dass allen Informationskampagnen zum Trotz auch das neue Wahlsystem in Bremen mit ähnlichen Problemen behaftet ist.

Den Wahlsystemen inhärenten Zielkonflikt zwischen möglichst großem Einfluss der Wähler auf die Zusammensetzung der Parlamente einerseits, einer einfachen Handhabung und einer hohen Verständlichkeit andererseits sollte man jedenfalls mit einigem Abstand zu den Wahlen in Hamburg und Bremen noch einmal genau überprüfen. Die Gleichheit der Wahl ist ein hohes Gut, das ein abschreckendes Wahlsystem potenziell gefährdet. Es heißt ja „One (wo)man, one vote“ und nicht „one (wo)man, one potential vote„.

Auch das zweite Novum der Wahl birgt Probleme: Wählen durften dieses Mal nämlich auch die 16- und 17-Jährigen. Ob sie schon reif dafür sind, mögen andere diskutieren. Bemerkenswert ist vielmehr ein gängiges Missverständnis, von dem gestern auch in der FAZ zu lesen war: Die jungen Menschen durften erstmals; „die Wahlbeteiligung lag dennoch … so niedrig wie noch nie“.

Da kann man nur mit dem Kopf schütteln – allerdings weniger über die Bremer, sondern eher über die Kommentatoren. Wie soll die Wahlbeteiligung steigen, wenn einer Gruppe das Wahlrecht gegeben wird, von der klar ist, dass ihre Wahlfreude unterdurchschnittlich sein wird? Es gehört nun einmal zu den ehernen Gesetzen der Wahlforschung, dass die Wahlbeteiligung bis zur Altersgruppe der 60-Jährigen kontinuierlich ansteigt – und zwar kräftig. Zwar ist die Wahlbeteiligung bei Erstwählern immer etwas höher als in der nächst älteren Kohorte, aber sie ist und bleibt eben doch niedriger, gerade im Vergleich zu den silver voters. Insofern musste die Wahlbeteiligung zwangsläufig sinken – gerade weil die 16- und 17-Jährigen erstmals wählen durften, aber erwartungsgemäß eher wahlmüde waren (die Wahlbeteiligung wird aktuell auf knapp über 40 Prozent geschätzt).

Was lernen wir daraus? An ein, zwei Schräubchen des Wahlrechts zu drehen, reicht eben nicht aus, um das dauerhafte Problem der niedrigen und sinkenden Wahlbeteiligung zu lösen. Da helfen weder 5 noch 10 noch 20 Stimmen. Es hilft auch nicht, das Wahlalter auf 0 zu senken. Das Problem scheint tiefer zu sitzen. Selbst die Wahl in Baden-Württemberg, bei der alle gerade beglückt auf die gestiegene Wahlbeteiligung geschaut haben, ist ein Beleg dafür. Wenn trotz (vermeintlich) extremer Mobilisierung, trotz hoher Emotionalisierung, trotz knappen Wahlausgangs, trotz eines möglichen historischen Regierungswechsels nur zwei von drei Wahlberechtigen zur Wahl gehen (und einer von dreien eben nicht!), dann ist das ein schlechtes Zeichen.

Vielleicht gibt es doch eine Änderung, über die man einmal nachdenken sollte. Das Wahlsystem der Weimarer Republik ist viel gescholten worden, an vielen Stellen auch zu Recht. Aber eine interessante Facette hatte es ohne Zweifel: Für 60.000 Stimmen gab es einen Sitz. Was das mit Wahlbeteiligung zu tun hat? Die Anzahl der Sitze im Reichstag hing direkt von der Wahlbeteiligung ab. Je mehr Stimmen abgegeben wurden, desto größer war der Reichstag – und umgekehrt!

Eine Änderung des Wahlsystems auf Bundesebene steht in diesen Tagen ohnehin bevor. Das Verfassungsgericht hält das gegenwärtige Wahlsystem bei Bundestagswahlen nicht für verfassungskonform und hat eine Frist bis Mitte diesen Jahres gesetzt. Da aber noch keine Vorlagen wirklich auf dem Tisch liegen, könnte man eine solche Idee durchaus noch mitaufnehmen. Das würde einen schönen Anreiz in das Wahlsystem einbauen, damit sich alle nicht mehr bloß pflichtschuldig, sondern ganz ernsthaft mit der Wahlbeteiligung auseinandersetzen würden.