Lesezeichen
 

Thüringen hakt nach

Kurz vor den Landtagswahlen am Sonntag ist noch immer schwer vorhersagbar, zu welchen Koalitionen die Ergebnisse führen könnten. Denn die Bandbreite der möglichen Koalitionen ist so groß wie selten zuvor: Ein rot-rotes Bündnis, eventuell mit Beteiligung der Grünen, ist ebenso denkbar wie Jamaika- oder Ampelkoalitionen oder die klassischen Varianten Schwarz-gelb und Große Koalition.

Diese unterschiedlichen Szenarien werfen Fragen auf. Gerade in Thüringen, wo derzeit neben der Koalitions- auch die Ministerpräsidentenfrage besonders heiß diskutiert wird, scheinen viele Bürgerinnen und Bürger noch großen Informationsbedarf zu haben und ihre Wahlentscheidung erst dieser Tage zu treffen. Ein Indikator dafür ist die Aktivität der Plattform abgeordnetenwatch.de, auf der man Politikern Fragen stellen kann. Hier wurden bis Freitag immerhin 785 Anfragen zur Landtagswahl in Thüringen verzeichnet, das sind umgerechnet immerhin ca. 35 Fragen pro 100.000 Einwohner. Damit wurden im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr als doppelt so viele Fragen eingereicht wie in Sachsen und dem Saarland.

Die Politiker in Thüringen sind sich des Stellenwerts solcher Foren offensichtlich bewusst und haben etwas mehr als vier von fünf Fragen (82,7%) auch beantwortet. Damit liegen sie knapp vor den Kollegen in Sachsen (80,4%) und deutlich vor jenen im Saarland (69,8%). Zum Vergleich: Von den 2.715 Fragen, die bisher im Rahmen der Bundestagswahl gestellt wurden (das sind ca. 3,3 pro 100.000 Einwohner), wurden gerade mal 61,7% beantwortet.

Natürlich sind solche Zahlen interpretierbar. Beispielsweise könnte man argumentieren, dass der Stellenwert der Internetanfragen dort geringer ist, wo die Bevölkerungsdichte höher und es somit einfacher und wahrscheinlicher ist, die Kandidaten in der Nähe des Wohnortes persönlich an den Wahlständen anzutreffen. Dennoch zeigt die Internetaktivität der Bevölkerung (und der Politiker) an, dass es bis zuletzt noch einige unentschlossene Wählerinnen und Wähler gab und gibt. Gerade in Thüringen könnte es sich also lohnen, den Wahlkampf bis zur letzten Minute zu führen.

 

Das ZDF-Wahlforum – Spitzenpolitiker auf dem Vormarsch

Dass die Spitzenkandidaten der Parteien im Wahlkampf von der eigenen Partei aber auch von den Medien ins Rampenlicht gerückt werden ist nichts Neues. Daran ändern auch jüngst aus den USA importierte Formate wie das TV-Duell der Kanzlerkandidaten und die Frage-und-Antwort-Stunde mit Frau Merkel nichts. Diese Personalisierung der Medienberichterstattung ist in der Politik bei weitem kein neues Phänomen. Das erste von drei Wahlforen, die im Vorfeld der Bundestagswahl im ZDF ausgestrahlt werden, hat sich am gestrigen Abend diesbezüglich jedoch als ein Novum erwiesen: Die Riege der Starwahlkämpfer hat bei allen Parteien Zuwachs bekommen. Neben den Spitzenkandidaten sind es seit gestern auch die Spitzenpolitiker der Parteien, die dem Wähler in einem speziellen TV-Format „auf dem silbernen Tablett serviert werden“. So hatte jede der im Bundestag vertretenen Parteien einen Repräsentanten zum ZDF nach Mainz entsandt, der dem Moderatorenteam und einigen ausgewählten Zuschauern im Studio Rede und Antwort stand. Neben dem Arbeitsminister, Olaf Scholz (SPD) und dem CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla waren der gesundheitspolitische Sprecher der FDP, Daniel Bahr, Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Bundestags (Bündnis 90/die Grünen), Klaus Ernst, stellvertretender Partei- und Fraktionschef der Linken, und Christine Haderthauer, bayerische Sozialministerin (CSU), anwesend und gaben ihre Lösungsvorschläge zum Thema „Wie viel Sozialstaat können wir uns noch leisten?“ zum Besten.

Neben den Gallionsfiguren der Parteien, den Spitzenkandidaten, sind offensichtlich auch immer mehr die jeweiligen Experten zu bestimmten Themen gefragt, die mit ihrem Know-how in einem bestimmten Politikbereich beim Wähler punkten sollen. Dabei wird dieser push der „zweiten Riege“ sowohl von den Parteien selbst als auch von den Medien bewirkt. Das Fernsehen ruft und die Parteien entsenden ihre besten Pferde zu einem bestimmten Diskussionsthema. Diese mediale Personalisierung in Form einer Präsentation von Spitzenpolitikern in Verbindung mit dem Profil ihrer Partei deckt sich mit dem Befund einer empirischen Studie, die ich schon für die Printmedienberichterstattung im Rahmen des Bundestagswahlkampfes im Jahre 2002 durchgeführt habe. Hier wurde deutlich, dass Spitzenpolitiker als Experten zu bestimmten Themen immer mehr an Gewicht in der Wahlkampfberichterstattung der Printmedien gewinnen. Mit dem Wahlforum im ZDF scheint dieser Trend nun auch in den audiovisuellen Medien angekommen zu sein.

Literatur:

Jucknat, Kim (2007). Die Personalisierung der Wahlkampfberichterstattung in Deutschland und den USA: Köpfe und Themen. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 37 (1).

 

Personalisierung vs. Volksnähe – Die Plakatkampagnen von Union und SPD

Mittlerweile ist es für jeden sichtbar: Die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes 2009 ist eröffnet. An strategisch wichtigen Punkten in jeder Stadt prangen die Wahlkampfplakate der beiden Volksparteien. Das kennt jeder, das ist bei jeder Bundestagswahl so. Auffällig ist jedoch, dass die beiden großen Parteien mit vollkommen unterschiedlichen Strategien die Motive und Slogans ihrer Werbeträger ausgewählt haben. Während von den Plakaten der Union die Spitzenkandidatin Angela Merkel oder andere Spitzenpolitiker von CDU und CSU so wie Wolfgang Schäuble oder Karl-Theodor zu Guttenberg „herablächeln“, sind auf den Plakaten der SPD Menschen wie Du und ich abgebildet. Doch nicht nur visuell, sondern auch inhaltlich weisen die Plakate der beiden großen Parteien verschiedene Schwerpunkte auf. Die CDU verweist auf die Kernkompetenzen der dargestellten Spitzenpolitiker (Plakat Schäuble: Wir haben die Kraft für Sicherheit und Freiheit; Plakat Ilse Aigner: Wir haben die Kraft für die Zukunft unserer Bauern), die SPD hingegen wirbt mit Kernkompetenzen der Partei und Sachthemen. Sympathisch anmutende Menschen, die wirken, als seien sie aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft, fungieren als testimonials und sollen den Wählern die Stärken der SPD näherbringen. Die SPD setzt auf thematischen „Zugpferde“, und so werden „soziale Gerechtigkeit“, „Solidarität“ und „erneuerbare Energien“ beworben mit Slogans wie „Bildung darf nicht von Konto der Eltern abhängen“, „Die SPD kämpft für Arbeitsplätze. Für meinen und auch für Ihren.“ oder „Atomkraft war gestern. Saubere Energie ist die Zukunft.“

Betrachtet man sich die Umfragen, kann man sowohl der Union zu ihrer Personalisierungsstrategie, als auch der SPD zur ihrer Strategie, die auf Volksnähe und Sachlichkeit setzt, sagen: aufs richtige Pferd gesetzt! Der SPD werden von den anderen Parteien die Themen „abgegraben“, deshalb tut sie gut daran, ihre thematischen Stärken herauszustellen. Im Gegensatz zur Union verfügt die SPD nicht über starke Spitzenpolitiker, die sich zur Personalisierung eignen würden. Frank-Walter Steinmeier rangiert auf der Beliebtheitsliste der Spitzenpolitiker lediglich im Mittelfeld, wohingegen Angela Merkel und Karl-Theodor zu Guttenberg das Feld weiterhin anführen. Die CDU hat ihre personelle Stärke in diesem Wahlkampf erkannt und strategisch richtig gehandelt. Die Personalisierung der CDU und die Volksnähe der SPD: Kampagnenstrategien, die vollkommen entgegengesetzt sind, und dabei optimal von beiden Parteien, passend für ihre jeweilige Situation, gewählt wurden. In puncto Kampagnenstrategie „Plakate“ haben die beiden Volksparteien ihre Hausaufgaben gemacht!

 

Schleichweg statt Broadway? Wie sich der Wirtschaftsminister beraten lässt

Der Wahlkampf hat (wenn auch nur für eine kurze Zeit) ein heißes Sommerthema gefunden: Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat von einer Kanzlei die Vorlage für ein Gesetz zur Zwangsverwaltung für angeschlagene Banken ausarbeiten lassen. Die Vorwürfe in diesem Zusammenhang sind vielfältig und nicht alle gleichermaßen stichhaltig. Zum einen heißt es, zu Guttenberg hätte die Expertise und das Fachwissen seines personell gut ausgestatteten Ministeriums nutzen sollen, um eine Gesetzesvorlage zu erarbeiten. Doch dieses Phänomen des „Outsourcing“ ist in der Politik wohlbekannt und sehr viel häufiger anzutreffen als nach außen hin sichtbar: Die immer komplexeren politischen Zusammenhänge, die viel zitierte Mehrebenenproblematik oder das Schnittstellenmanagement zwischen verschiedenen Institutionen und Entscheidungsträgern erfordern schlichtweg sehr viel und sehr spezialisierte Expertise, die ein einziges Ministerium alleine nicht immer aufbringen kann. Untersuchungen, wie etwa die vom ZDF zitierte, und wissenschaftliche Analysen (vgl. Falk/Römmele 2009) zeigen deutlich, dass der Beratungsbedarf von Ministerien und anderen öffentlichen Einrichtungen in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist. Das Wirtschaftsministerium stellt hier keine erwähnenswerte Ausnahme dar.

Ein zweiter Kritikpunkt jedoch trifft den Kern des Problems: Eine Kanzlei hat ein wirtschaftliches Eigeninteresse und vertritt zudem eine Reihe von Unternehmen, die bestimmte Wünsche an die Politik herantragen möchten. Diese gemeinhin als „Lobbying“ bezeichneten Aktivitäten sind ebenso wie das Beanspruchen externer Berater übliche Praxis. Allerdings sind die Europäische Union und einige Nichtregierungsorganisationen darum bemüht, diese Lobbyingprozesse transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Die These lautet: Nur wenn die Akteure und ihre Interessen bekannt sind, kann das Lobbying richtig eingeschätzt werden – und nur dann wird der Demokratie kein Schaden zugefügt. Der im vorliegenden Fall beauftragten Kanzlei wurde so gesehen die große Chance gewährt, einen sehr direkten Einfluss auf einen Gesetzentwurf nehmen zu können, ohne etwa die Namen ihrer Klienten, die von einem solchen Gesetz betroffen sein könnten, öffentlich machen zu müssen. Der Wirtschaftsminister muss sich also vorwerfen lassen, verdecktes Lobbying zugelassen zu haben.

Und drittens steht der Zeitpunkt dieses Vorganges in der Kritik. Da das Gesetz nicht mehr in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann, ist die Vorlage der Kanzlei de facto hauptsächlich Munition für den Bundestagswahlkampf. Die Forschung unterscheidet hier sehr genau zwischen verschiedenen Formen der Politikberatung. Im Falle von Gesetzesvorlagen, die also die „materielle Politik“ betreffen, sollte die Beratungsleistung „objektiv“ sein. Schließlich soll jedes Gesetz seinem Anspruch nach dem Wohle des Volkes dienen. In der Wahlkampfberatung hingegen werden Konzepte und Kampagnen verlangt, die auf die Ziele der jeweiligen Partei und die Ansprache ihrer Wähler zugeschnitten sind. Hier geht es nicht um hehre Ziele wie Objektivität oder Neutralität; kämpfen ist angesagt. Wenn nun eine der Form nach objektive Beratungsleistung für den Wahlkampf verwendet wird, lässt dies Rückschlüsse auf die Verbindungen zwischen Ministerium und Kanzlei zu und wirft Fragen nach der Objektivität vorangegangener Beratungen auf.

Übrigens: Wenn Justizministerin Brigitte Zypries nun ihr Ministerium dazu antreibt, ebenfalls einen Entwurf vorzulegen, der offensichtlich auch ihrem Wahlkampf dienen wird, macht sie sich des selben Vergehens schuldig, wie ihr Kollege zu Guttenberg. Denn egal, ob nun externe Berater oder die Ministerien selbst damit beschäftigt sind: Diese Arbeit kostet Steuergelder und aus diesem Grund darf sie nicht für den Wahlkampf verwendet werden. Wahlkampfkosten sind in Deutschland Sache der Parteien (die dann wiederum vom Bund nach bestimmten Regeln finanziert werden). Ministerien aber haben sich dem Wohle des Volkes und nicht dem bestimmter Parteien zu widmen.

Literatur:
Falk, S., & Römmele, A. (2009). Der Markt für Politikberatung. Wiesbaden: VS Verlag.

 

Also doch nur ein Pferderennen

Nun ist es also soweit. Das große TV-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier findet am 13.9., zwei Wochen vor der Wahl, statt. Die 90-minütige Debatte wird ab 20:30 von ARD, ZDF, RTL und Sat.1 übertragen. Jeder Sender stellt auch einen Moderator als Fragesteller. Ist das nun das von Reinhard Appel 1972 vielbeschworene „mehr Demokratie“ oder soll es in erster Linie der Politunterhaltung und dem Interesse der Fernsehsender dienen? Dass die kleinen Parteien ausgeschlossen sind und somit eine Möglichkeit weniger haben, flächendeckend die eigenen Wähler mit guter Rhetorik zu mobilisieren, wurde prompt von Guido Westerwelle (FDP) moniert. Er kritisierte, dass „die Opposition, die etwa 35 bis 40 Prozent der Stimmen in den Umfragen auf sich vereint, ausgesperrt wird“. Und recht hat er.

Dass die privaten Sender ein Format bevorzugen, das einen Wettkampf der Kanzlerkandidaten und somit mehr Unterhaltung verspricht, ist noch verständlich. Dass die Öffentlich-Rechtlichen aber nicht darauf pochen, im Rahmen ihrer Informationspflicht alle Spitzenkandidaten zu beteiligen, ist eher unverständlich. Vermutlich haben sich halt Merkel und Steinmeier durchgesetzt. Wohl auch, was den Termin betrifft. Schließlich will man sicher sein, dass nicht allzu viel Schaden angerichtet werden kann. Und wie die Debattenforschung in der Vergangenheit aufzeigte, sind Debatteneffekte eher kurzfristiger Natur, wirken also nur einige Tage nach.

Für die Zuschauer ist ein solches Format zwar interessant, da es den direkten Vergleich der Kandidaten im politischen Wettstreit erlaubt (im Amerikanischen „horse race“ genannt), was sicherlich auch ein Minimum an „Unterhaltungswert“ garantiert. Schade ist es aber dennoch, da die Beteiligung eines Lafontaine oder Gysi, einer Künast und eines Westerwelle sicherlich nicht nur den Unterhaltungswert der Debatte steigern würde, sondern auch sachliche Einblicke in die politischen Vorstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen einer oder eines vermutlichen Vizekanzlers geben könnte.

 

Der Wahlkampf der CDU – gegen alle Regeln der Wissenschaft

Die Wahlkampfforschung ist eine noch recht junge aber boomende Teildisziplin der empirischen Sozialforschung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur theoretische Erkenntnisse, sondern auch praktische Hinweise zur Kampagnenführung liefert. So hat die Forschung am Beispiel des „war room“ von Bill Clinton 1992 eine annähernd optimale Wahlkampfgestaltung identifizieren können, und in der Folge waren auch die Wahlkämpfe Tony Blairs 1997 unter dem Thema „New Labour“ und die „Kampa“ Gerhard Schröders 1998 an diesem Clinton’schen Modell ausgerichtet. Diese Entwicklung ist sowohl ein Erfolg der Praktiken des Clinton-Teams, die zu hervorragenden Resultaten geführt haben, als auch ein Erfolg der Wissenschaft, die bei der Übertragung der Clinton-Kampagne auf britische bzw. deutsche Verhältnisse eine wichtige Rolle spielte.

Auf Grundlage dieser Kampagnen hat die Forschung mittlerweile „best practices“ ausgemacht, mit Hilfe derer sie vermeintlich auch Antworten auf die Frage nach dem gelungenen Wahlkampf geben konnte. Das jüngste (und zurzeit fast überstrapazierte) Beispiel einer Kampagne, die alle zentralen Erkenntnisse berücksichtigt und sogar weiterentwickelt hat, ist zweifellos der Wahlkampf Barack Obamas. Ganz generell lauten die Regeln für einen gelungenen Wahlkampf in etwa so: Man sollte den Wahlkampf möglichst früh beginnen; man sollte sich zu bestimmten Fragen eine klare Themenhoheit erkämpfen und diese Themen auch personell besetzen; man sollte die wichtigsten Leitmedien („BILD, BamS und Glotze“) auf seine Seite ziehen; und man sollte strategisch wichtige Wählergruppen ausmachen und sie gezielt ansprechen.

Im deutschen Wahlkampf 2009 zeigt sich nun jedoch ein besonderes Phänomen: Die CDU hat gegen alle diese Regeln mehr oder weniger klar „verstoßen“. Sie führt einen Wahlkampf, wie er in diesem Blog schon einmal diskutiert wurde: kurz, knapp, Merkel. Man spürt die Kampagne kaum, hat nicht den Eindruck, dass sie schon wirklich begonnen hat. Und die im Wahlkampf medial präsenten Personen sind ausschließlich etablierte Minister und nicht etwa Wahlkämpfer, die neue Themen erobern sollen. Anders ausgedrückt: Man weiß durch Ursula von der Leyen und Karl-Theodor zu Guttenberg um die familien- und wirtschaftspolitischen und Vorstellungen der Union – wer aber würde nach einem Wahlsieg die Finanz-, die Umwelt- oder die Außenpolitik der kommenden vier Jahre gestalten?

Die Auflösung dieses Paradoxons liegt in der Ausgangslage der Bundestagswahl 2009. Die Union ist unbestritten die stärkste politische Kraft und sie stellt die Bundeskanzlerin. Dadurch kann sie sich als Partei präsentieren, die über den Dingen steht und sich nicht ins Wahlkampfgetöse stürzen muss. Denn Wahlkämpfe haben dann eine entscheidende Bedeutung und ein zentrales Gewicht, wenn die Wahl umkämpft ist. Könnte die SPD aber im August noch ein paar Prozentpunkte aufholen, so könnte sie damit die Union im September vor Fragen stellen, die diese bisher lieber nicht beantworten möchte.

 

Prognosen sind Wissenschaft – aber ohne Umfragedaten geht es wohl nicht

Letzte Woche hat Thomas Gschwend in diesem Blog eine vorläufige Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl 2009 abgegeben. Gemeinsam mit seinem Kollegen Helmut Norpoth wagt Gschwend zum dritten Mal in Folge eine solche Prognose. Sie basiert auf einem wissenschaftlichen Prognosemodell, das einsehbar und dessen Ergebnis damit für jeden Außenstehenden nachvollziehbar ist.

Modelle wie dieses und der Mut zu einer Publikation vor der Wahl sollten uneingeschränkt gewürdigt werden. Zu Wissenschaft gehört es nicht nur, ex post zu erklären, warum eine Wahl wie ausgegangen ist, sondern auch, seriöse Prognosen abzugeben – in der Wirtschaftswissenschaft (siehe zum Beispiel die Prognosen der „Wirtschaftsweisen“) ist dies gang und gäbe. Prognosen können, und das ist das Risiko dabei, von der Realität (der Wahl selbst) gestützt oder widerlegt werden. In den Jahren 2002 und 2005 lagen die Wahlforscher richtig, und das lange vor und teilweise in Widerspruch zu den Ergebnissen und Aussagen führender Umfrageinstitute und deren „Pollster“. Dass diese zunächst spöttelten, verwundert nicht. Doch auch aus der Profession erhielten die Forscher wenig Beifall: öffenlichkeitswirksame Auftritte sind vielen Kollegen erst einmal suspekt, und insgeheim hofften wahrscheinlich nicht nur die Umfrageinstitute auf ein Scheitern des Modells. Quod esset demonstrandum!

Viel spricht dafür, dass Norpoth und Gschwend auch 2009 Recht behalten werden, auch wenn ein Erfolg dieses Mal weit weniger spektakulär wäre. Die Wiederwahl Schröders 2002 und die Große Koalition 2005 vorherzusagen, waren mutig, denn die (unreflektierten) Ergebnisse auf die hypothetische Wahlabsichtsfrage ließen einen Erfolg von CDU/CSU und FDP erwarten. Im Gegensatz dazu sprechen die demoskopischen Befunde 2009 (erneut) für einen Machtwechsel, die „Zauberformel“ diesmal allerdings auch.

Viel hängt nach der Prognoseformel vom sogenanten „Horse Race“ ab, dem bevorzugten Kanzler. Bei einer so deutlichen Unterlegenheit des Herausforderers (derzeit 25:62 im ZDF-Politbarometer) wäre alles andere als ein Sieg der Kanzlerin und ihrer Wunschkoalition mit der FDP eine Überraschung. Dennoch bleibt sowohl in der Umfrage-Realität als auch im Prognosemodell eine Hintertür offen: 50,6 Prozent bedeuten nicht, dass das Rennen – oder sagen wir besser die Wahl – schon gelaufen ist. Verschiedene Möglichkeiten, vor allem über Themenkompetenz und Mobilisierung noch aufzuholen, wurden in mehreren Beiträgen dieses Blogs bereits aufgezeigt.

Gschwend und Norpoth werden allerdings, wie bei den letzten beiden Wahlen auch, erst Mitte August eine endgültige Prognose für den Wahlausgang abgeben. Warum das? Kann das Modell doch weniger als postuliert wird? Nun ja, sagen wir es einmal so, es ist nicht ganz von kurzfristigen Entwicklungen unabhängig. Denn für die Prognose bedarf es eines kurzfristigen Indikators, den nur Umfragedaten liefern können: die Kanzlerpräferenz. Wahrscheinlich könnte es auch ein anderer kurzfristiger Indikator sein, den man allerdings wieder über Umfragen integrieren müsste: die Bewertung der Regierung, der Parteien oder gar die Wahlabsicht?

Ohne Umfragedaten, deren Erhebung und Publikation zurecht kritisch hinterfragt werden, geht es auch bei der „Zauberformel“ nicht. Dass hierfür nicht Daten verwendet werden müssen, die erst kurz vor der Wahl erhoben werden, spricht für die Erkenntnisse der Wahlforschung und deren Integration in das Modell. Die Wahlforschung weiss, dass es in den letzten Wochen vor der Wahl die Regierung und der amtierende Kanzler bzw. die amtierende Kanzlerin ist, die den Vorsprung vor der Opposition und dem Herausforderer normalerweise ausbauen. Verkompliziert wird die Lage dieses Mal dadurch, dass die Opposition nicht den Herausforderer stellt, sondern der mit auf der Regierungsbank sitzt. Die bisherigen Erkenntnisse darüber, was passiert, wenn Große Koalitionen zu einer Wahl antreten, sind gering und partiell widersprüchlich. Deshalb wird die Bundestagswahl 2009 nicht nur für die Zauberformel eine recht interessante Wahl werden.

 

Schröder, Steinmeier und die Stimme, auf die es ankommt

„Der klingt wie früher Schröder“ – ein derzeit des Öfteren gehörter Satz, wenn es um Auftritte des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier geht. Für Steinmeier ist das wahrlich nicht das Schlechteste! Die sonore Stimme Schröders war ein echtes „Pfund“ des Kanzlers. In Umfragen etwa nach dem zweiten TV-Duell zwischen Schröder und Stoiber 2002 stimmten rund 75 Prozent der Befragten der Aussage „Er hat eine angenehme Stimme“ zu; bei Stoiber waren es weniger als 30 Prozent. Wenn es Steinmeier gelingt, diese Stimmenanalogie zu kultivieren, könnte er dieses Mal davon profitieren, so wie Schröder 2002 gegenüber Stoiber.

 

Die Botschaft des Dick Morris

Seit dem heutigen Tage ist Thomas Steg nicht mehr stellvertretender Regierungssprecher. In diesem Amt hat sich der SPD-Mann – auch beim Koalitionspartner – einigen Respekt verschafft, und umgekehrt steht auch er selbst der Bundeskanzlerin nach jahrelanger intensiver Zusammenarbeit positiv gegenüber. Dass er nun ins Zentrum des SPD-Wahlkampfes wechselt, mag da manchen wundern. Ist politisches Feingefühl wirklich eine Qualität, die sich mühelos von einer auf die andere Situation übertragen lässt?

In den USA – zweifellos das Mekka des modernen campaigning – hat man sich an solche fliegenden Wechsel mittlerweile gewöhnt. Dick Morris beispielsweise war für die Republikaner tätig, bevor er ins Clinton-Lager wechselte und einer der Strippenzieher der erfolgreichen Wiederwahl-Kampagne von 1996 wurde. Er galt als Experte für das Überzeugen von Unentschlossenen und Wechselwählern; sein Rezept war, den Demokraten Bill Clinton ein bisschen „republikanischer“ auftreten zu lassen. In diesem Fall ging das Kalkül des Clinton-Teams, sich ein bisschen Stallgeruch der Gegenseite zuzulegen, also voll auf. Und auch James Carville, wichtiger Berater während der ersten Clinton-Kampagne 1992, ist von der Universalität gewisser Wahlkampf-Lehren überzeugt. Er hat nach seinem Einsatz für Bill Clinton unter anderem Tony Blair und Ehud Barak beraten, der von ihm geprägte Ausdruck „It’s the economy, stupid“ fand weltweit in Wahlkämpfen Beachtung. Eine Gegenspielerin im US-Präsidentschaftswahlkampf von 1992, George H. Bushs Wahlkampfmanagerin Mary Matalin, hat Carville übrigens ein Jahr später geheiratet. Es scheint also allen parteipolitischen Gegensätzen zum Trotz viele Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Wahlkämpfen und auch zwischen den Wahlkämpfern zu geben.

Die deutsche Wahlkampfforschung wendet dagegen ein, dass enge und produktive Zusammenarbeit auch auf langfristigen Werten wie etwa der Parteibindung basiert. Schließlich haben Parteien in Deutschland einen höheren Stellenwert und eine prägendere Funktion im politischen System, als es in den USA der Fall ist, wo Seiteneinstiege von unpolitischen Personen in politische Ämter an der Tagesordnung sind. Auch die deutschen Wahlkampfberater selbst raten mehrheitlich von schnellen Wechseln ab und betonen, dass gewachsenes persönliches Vertrauen die Grundsubstanz guter Zusammenarbeit ist.

Die Skepsis gegenüber sprunghaften Beratern scheint begründet. Dick Morris jedenfalls arbeitet inzwischen wieder für die Republikaner, nachdem er sich mit Hillary Clinton überworfen hat, und mancher fragt sich nun, ob er je ein echter Anhänger der Demokratischen Partei war. Thomas Steg hingegen scheint in der SPD verwurzelt zu sein. Aber wer weiß schon, was Angela Merkel eines Tages noch mit ihm vorhat…

 

(K)ein Wahlkampf mit der Rente?

Es gibt schätzungsweise 24,7 Millionen Rentner in Deutschland – eine Zahl, die Medien, Unternehmen und Parteien gleichermaßen beeindruckt. Sie alle sehen hier wichtige Zielgruppen, die es zu umwerben gilt. Insgesamt sind im September nun 62,2 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen und zwei von fünf Wahlberechtigten sind Rentner.

Das eigentlich Überraschende an der momentanen Rentendebatte ist somit auch nicht, dass sie stattfindet. Interessanter war da schon der Versuch der Parteien im Vorfeld, einen rentenpolitischen „Burgfrieden“ zu erreichen und das Thema mittels einer Rentengarantie aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Diese Pläne hat Finanzminister Peer Steinbrück nun jäh durchkreuzt und man fragt sich, ob es jenseits seiner inhaltlichen Einwände gegen eine Garantie in der Rentenversicherung auch wahltaktische Motive für diesen Schritt gibt.

Die Union kommt zumindest nicht aus der Deckung und behandelt das Thema mit großer Vorsicht. Gab es in den letzten Jahren – zumeist aus den Reihen der Jungen Union – kritische Vorstöße zur Frage des Ausgleichs zwischen den Generationen, ist die Partei im nun anstehenden Wahlkampf um Geschlossenheit bemüht. Kein Wunder, profitiert sie doch mit weitem Abstand am stärksten von einer Wahlbeteiligung der Rentner. Bei der Europawahl hat annähernd jeder zweite, der zur Urne gegangen ist, sein Kreuz bei den Unionsparteien gesetzt. Hinzu kommt, dass die Wahlbeteiligung unter Rentnern eher überdurchschnittlich hoch ist – würde der Anteil der Union stabil bleiben, so könnte die Partei konservativ geschätzt 20 Prozentpunkte allein durch die Stimmen der Rentner gewinnen.

Was Rentner wählen…

Ergebnis der Europawahl in Prozent. Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Auch die SPD wurde von überdurchschnittlich vielen Rentnern gewählt, auch für sie handelt es sich also um eine wichtige Zielgruppe. Es ist daher nicht anzunehmen, dass Steinbrück dies ignoriert hat, als er sich als „Anwalt der Jungen“ dargestellt und auf die Frage der Generationengerechtigkeit hingewiesen hat. Unwahrscheinlich ist aber auch, dass er in der Gruppe der Rentner adressieren und eine Diskussion über dieses Thema anstoßen wollte. Schließlich gelten Rentner, etwa in Milieu-Studien, als traditionsverwurzelt und sind mehrheitlich als klassische Stammwähler einzuordnen.

Vielleicht war Steinbrücks Initiative tatsächlich nicht als Wahlkampfthema angelegt – genau das ist aber nun daraus geworden…