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Ein klares Ja für strikteren Nichtraucherschutz in Bayern – eine erste Analyse

Am Sonntag waren Bayerns Bürger aufgerufen, in einem Volksentscheid über den Nichtraucherschutz abzustimmen. Das Ergebnis fiel deutlich aus. Über 60 Prozent der Stimmen wurden für die Ja-Seite abgegeben, knapp 40 Prozent für die Nein-Seite. Solch klare Kräfteverhältnisse zeichneten sich bereits seit Ende Mai, als die Befragung der Universität Bamberg zum Volksentscheid begann. Die Kampagnen der Ja- und der Nein-Seite konnten an dieser Kräfteverteilung in der Zwischenzeit wenig ändern.

Das Thema Nichtraucherschutz, obgleich als emotional geltend, scheint bei vielen Bürgern nicht gezündet zu haben. Ablesen lässt sich das etwa daran, dass bis in die vergangene Woche hinein weniger als zehn Prozent der Befragten wussten, dass Sebastian Frankenberger, der führende Kopf der Ja-Seite, für den Gesetzesentwurf „Für echten Nichtraucherschutz!“ eintritt. Kaum besser war es um das Wissen der Bayern über die Position des „Aktionsbündnis Freiheit und Toleranz“ bestellt. Ein Wahlkampf, der viele Stimmberechtigte nicht erreicht, geschweige denn fesselt, kann kaum große Verschiebungen auslösen.
Insbesondere konnte die „Bayern sagt nein“-Kampagne nicht das Ziel erreichen, im Laufe des Wahlkampfes immer mehr Nichtraucher auf ihre Seite zu ziehen. Sie machen etwa 70 Prozent der bayerischen Bevölkerung aus, während rund 30 Prozent der Bürger zu den Rauchern zählen. Der Nein-Kampagne gelang es, im Laufe der Zeit die Bereitschaft der Raucher zu steigern, am 4. Juli mit Nein zu votieren. Das konnte allerdings nur ein Teil einer erfolgreichen Strategie sein. Darüber hinaus hätte die Nein-Seite auch immer mehr Nichtraucher für sich gewinnen müssen. Aber das gelang ihr nicht. Eher stieg der Anteil der Nichtraucher, die sich für ein Ja entscheiden wollten. Strategisch geschickt hatte sich die Nein-Seite als ein „Aktionsbündnis Freiheit und Toleranz“ organisiert, suchte sich also zum Anwalt nicht nur der Raucher, sondern des bayerischen „Leben und leben lassen“ zu machen. Allerdings vermochte sie diesen Anspruch kaum einzulösen, wie die Analyse des Stimmverhaltens zeigt.

Die Klarheit des Ergebnisses und die Schwierigkeiten, auch einen beträchtlichen Teil der Nichtraucher gegen einen strikten Nichtraucherschutz zu mobilisieren, sprechen dagegen, dass wir in Bayern bald ein Volksbegehren gegen den strikten Nichtraucherschutz erleben werden. Allerdings könnte das bayerische Vorbild andernorts Schule machen. Auch in anderen Bundesländern könnten Bürger versuchen, auf dem Wege der Volksgesetzgebung striktere Regeln für den Nichtraucherschutz durchzusetzen. Der bayerische Volksentscheid könnte somit ein Kapitel in einer längeren Geschichte zu direktdemokratischen Verfahren und dem Nichtraucherschutz in Deutschland bilden.

 

Regierung wankt, Opposition zerfällt – die Bundespräsidentenwahl im Lichte der Tagespolitik

AndreaDer lange Wahltag hat uns nicht nur einen neuen Bundespräsidenten beschert, sondern erwartungsgemäß auch Einblicke ins Innenleben der Bundesregierung gewährt. Insbesondere die beiden politisch-strategischen Großbaustellen der Regierung wurden sichtbar, die Inhalte und das Personal. Da trifft es sich für die Kanzlerin gut, dass auch die Opposition eine große Chance vertan hat. Dennoch muss sie die sich stellenden Probleme aktiv angehen:

Das Inhaltsproblem: Die schwarz-gelbe Regierung hat derzeit kein inhaltliches Projekt, auf das sie gemeinsam und mit aller Kraft hinarbeiten könnte. Eine solche Vision hätte auch die Gauck-Unterstützer in Union und FDP davon überzeugen können, der Regierung durch die Wahl von Christian Wulff im ersten Wahlgang neue Stärke zu verleihen. Die Wahl des Bundespräsidenten wäre dann einer klaren inhaltlichen Pfadabhängigkeit gefolgt und der neue Präsident hätte daraus einen Anschub und eine Inspiration für seine Amtszeit gewinnen können. So aber scheint es, dass sich einige Wahlfrauen und -männer eher von ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung als von der Hoffnung auf einen politischen Aufschwung haben leiten lassen.

Wenn aber die große inhaltliche Vision fehlt und einzig die Machtperspektive als Koalitionskitt wirkt, wird sich die Arbeit der Koalition auch weiterhin an Detailfragen aufhalten und die dringed nötigen großen Würfe nicht leisten können. Solange die Verbindung zwischen Schwarz und Gelb eine reine Vernunftsehe ist, liegt das Augenmerk aller auf schnellem, konkretem Zugewinn in einzelnen Sachfragen. Wenn dieser Zugewinn aber ausbleibt, kommt es über kurz oder lang zur Scheidung. Ein umfassendes Credo, das aus Schwarz-Gelb ein echtes Projekt macht, ist somit nötiger denn je.

Das Personalproblem: Christian Wulff ist ein ausnehmend junger Bundespräsident. Dies kann sich gesellschaftspolitisch sehr positiv auswirken, aus Sicht der Regierung jedoch wirft dieser Umstand Fragen auf: Ist es klug, im politischen Alltagsgeschäft auf einen solchen erfolgreichen Politiker zu verzichten? Und könnte sich der Schritt, diesen Kandidaten zu nominieren, als Bumerang entpuppen, der die dünne Personaldecke offen legt? Angela Merkel hätte die Bundespräsidentenwahl zum Anlass nehmen können, ihre Regierung umzubilden. Man kann nur darüber spekulieren, ob sie dies bewusst nicht getan hat oder schlichtweg keine personellen Alternativen gesehen hat. Ein ernstzunehmender inhaltlicher Neustart wird jedenfalls ohne die dazu passenden Personen nicht funktionieren.

Und was wird eigentlich ein Ex-Bundespräsident Christian Wulff eigentlich seiner Amtszeit machen? Er wäre dann 56 respektive 61 Jahre alt; andere wollten in diesem Alter Kanzler werden… Niemand unterstellt ihm derartige Ambitionen, es ist allerdings auch nicht damit zu rechnen, dass er sich nach Ablauf seiner Amtszeit in den Vorruhestand begibt. Wenn er seine Karriere fortsetzen würde, müsste er sich fragen lassen, ob er sein jetziges Amt wirklich vollkommen überparteilich und ohne jegliches Karrierekalkül ausführen kann. Auch Angela Merkel wird ihm diese Frage beizeiten stellen…

Bei alledem kann aus Sicht von Schwarz-Gelb zumindest das Verhalten der Linken beruhigend wirken. Sie haben die Chance vertan, durch eine Unterstützung von Joachim Gauck einen Teil ihrer Geschichte aufzuarbeiten und zugleich ein koalitionspolitisches Signal zu setzen, das SPD und Grüne nicht hätten übersehen können. So aber scheint diese Option wieder einmal vom Tisch zu sein. Das Spektrum möglicher Koalitionen nach der nächsten Bundestagswahl hat sich verkleinert und ohne eine koalitionsfähige Linke wandert die politische Mitte wieder ein Stück nach rechts. Angela Merkel mag große und schwierige Aufgaben vor sich haben – ihre Chancen, noch einmal Kanzlerin in einer großen Koalition zu werden, sind aber am gestrigen Tag gestiegen…

 

Bayerns Volksentscheid über den Nichtraucherschutz: erreicht und informiert die Kampagne die Bürger?

Am kommenden Sonntag, dem 4. Juli, ist es soweit: Bayerns Bürger werden in einem Volksentscheid über den Nichtraucherschutz abstimmen. Damit werden sie dem langwierigen und für einige politische Akteure schmerzhaften Ringen um den Nichtraucherschutz im weiß-blauen Freistaat ein (vorläufiges) Ende setzen. Gerade in Zeiten verbreiteter Kritik an Parteien und Politikern mögen Volksentscheide als Patentrezept erscheinen, um solche Fragen verbindlich zu entscheiden. Gleichwohl wenden Skeptiker ein, viele Bürger seien zu wenig interessiert und zu schlecht informiert, als dass sie verantwortungsvolle Entscheidungen treffen könnten. Befürworter direktdemokratischer Verfahren führen dagegen ins Feld, auch Politiker träfen nicht immer wohlinformierte Entscheidungen – und die Kampagne vor Volksentscheiden böte so viele Informationen, dass Bürger in die Lage versetzt würden, wohlinformiert zu entscheiden.
Lässt sich eine solche Entwicklung beim Volksentscheid über den Nichtraucherschutz in Bayern erkennen? Daten aus einer telefonischen Befragung, die seit dem 25. Mai läuft, deuten darauf hin, dass die Kampagne bis etwa zwei Wochen vor dem Abstimmungstag die Bürger selektiv erreicht hat. Gaben Ende Mai rund zehn Prozent der Befragten an, in verschiedenen Medien Werbung zum Volksentscheid gesehen zu haben, so waren es zwei Wochen vor der Abstimmung rund doppelt so viele. Der Anteil derjenigen, die Flugblätter oder ähnliches Material gelesen haben, stieg von rund fünf auf etwa zehn Prozent. Plakate der Pro- und Contra-Seite hatte zwei Wochen vor der Abstimmung gut ein Drittel der Befragten gesehen. Die Kampagne entwickelt sich also durchaus dynamisch, hat aber beileibe noch nicht alle Bürger erreicht.
Dieses Ergebnis findet seine Entsprechung in der Informiertheit der Bürger. Ende Mai hielt sich jeder fünfte Befragte für (sehr) gut informiert über den Volksentscheid, rund zwei Wochen vor der Abstimmung war es jeder dritte. Gleichzeitig hat das Wissen über den Volksentscheid selektiv zugenommen. Hatte anfangs nur jeder zehnte Befragte gewusst, wann der Volksentscheid stattfinden wird, kannte zwei Wochen vor der Abstimmung jeder zweite den Termin. Der Anteil derjenigen, die wissen, dass Stimmenthaltung nicht als Neinstimme wirkt, stieg von knapp einem Viertel auf rund ein Drittel. In Bezug auf Inhalte des Gesetzentwurfes lassen die Umfrageergebnisse hingegen keine Hinweise auf Lernen der Stimmberechtigten erkennen.
Damit ergibt sich eine ambivalente Bilanz. Die Aktivitäten der Befürworter und Gegner des Gesetzentwurfes „Für echten Nichtraucherschutz!“ haben bisher durchaus Aufmerksamkeit erregt, aber gewiss keinen durchschlagenden Erfolg erzielt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Kampagne und ihre Resonanz auf der Zielgeraden entwickeln werden. Einfach wird es für den Volksentscheid nicht werden, da die Fußballweltmeisterschaft und die Wahl des Bundespräsidenten mit ihm um die öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren und sich die CSU aus dem Volksentscheid weitgehend heraushält. Umso interessanter wird es sein zu beobachten, was sich die Wahlkämpfer mit ihren begrenzten Ressourcen bis zum 4. Juli einfallen lassen werden, um Stimmberechtigte zu mobilisieren und auf ihre Seite zu ziehen.

 

Patchwork-Koalitionen – ein Zukunftsmodell "made in NRW"?

von Andrea Römmele und Henrik Schober

Andrea„Entdecke die Möglichkeiten“ – mit diesem Slogan wirbt eine allseits bekannte schwedische Möbelhauskette für ihre Produkte, die in schier unendlich vielen verschiedenen Kombinationen angeordnet werden können. Dieser Abschied von festgelegten Mustern hat sich mittlerweile in vielen Bereichen des täglichen Lebens niedergeschlagen. Egal ob Essen oder Kleidung, Autos oder eben Möbel: Überall wird munter individuell drauflos kombiniert. Wird es also nicht Zeit, dass sich auch die Politik diesem Trend öffnet?

„Entdecke die Möglichkeiten“ könnte auch zum Credo der Minderheitsregierung um Hannelore Kraft werden. Sie muss wechselnde Partner aus der Opposition für Ihre Vorhaben gewinnen und könnte in dieser auf den ersten Blick äußerst unbequemen Situation schon bald Vorteile erkennen. Denn diese Art des Regierens in wechselnden, themenspezifischen „Patchwork-Koalitionen“ mag in Deutschland ungewöhnlich sein, sie trifft aber den politischen Zeitgeist. Wir sind auf dem Weg zu einem Vielparteiensystem (die Linke muss nicht die letzte Neugründung bleiben) und die altbekannten Lager brechen zusehends auf. So gilt mehr denn je die Forderung, dass alle demokratischen Parteien in der Lage sein müssen, miteinander zu kooperieren – und zwar auch und gerade außerhalb formeller Koalitionsvereinbarungen.

Ist die Minderheitsregierung also ein Zukunftsmodell? Die spezifischen Anforderungen, die das Regieren aus einer Minderheitsposition mit sich bringt, geben zumindest Anlass für Optimismus:

• Die führenden Politiker sind darauf angewiesen, integrativ und überparteilich zu wirken. Der zentrale Mechanismus des Regierens kann nicht pure, an den Parteiinteressen ausgerichtete Machtausübung sein, sondern muss argumentatives Überzeugen im Sinne aller Beteiligten beinhalten.

• Für die Bürger kommt hinzu, dass die Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt. Gerade bei kontroversen Themen kann die Unterstützung durch die Medien und die Bevölkerung ein wichtiger strategischer Faktor sein. Die Parteien müssen die Bürger somit für konkrete Projekte gewinnen und können sich nicht darauf beschränken, sie alle fünf Jahre um ihre Stimmen zu bitten.

Für NRW hat die Entscheidung für eine Minderheitsregierung zunächst einen ganz konkreten positiven Effekt: Neuwahlen bleiben uns vorerst erspart. Wenn man das allgegenwärtige Wort vom „Wählerwillen“ ernst nimmt, ist nicht zu bestreiten, dass dies tatsächlich nicht im Sinne derer wäre, die im Mai ihre Stimme abgegeben haben.

Dennoch ist natürlich auch Kritik berechtigt: Niemand weiß, ob Rot-Grün in NRW die Hoffnungen, die hier generell an das Modell Minderheitsregierung geknüpft werden, erfüllen wird – ebenso gut kann eine Phase unerträglicher taktischer Spielchen auf uns zukommen. Und natürlich hat sich Hannelore Kraft durch ihren abrupten Umschwung gewissermaßen selbst überholt und steht nun unter Erklärungsdruck. All das ist aber Teil eines Lernprozesses, den die deutsche Politik durchlaufen muss. Denn mittelfristig gibt es nur eine Alternative zu immer größeren Koalitionen unter Beteiligung von immer mehr Parteien, die sich gegenseitig blockieren: eine an Inhalten orientierte Minderheitsregierung. In Schweden hat man diese Möglichkeit übrigens schon längst entdeckt…

 

Quo vadis NRW?

Die Ampel blinkt offenbar nicht mehr. Sind nun Neuwahlen unausweichlich? Ich sehe fünf weitere Optionen in NRW.

1) Rot-Grün. Rot-Grün? Ja, Rot-Grün. Eine Stimme braucht Rot-Grün, um eine Mehrheit im Parlament zu haben. Also muss die SPD an einem möglichen Überläufer der Linken zur SPD arbeiten, um sich eine Mehrheit im Landtag zu sichern. Solch ein parlamentarischer Überläufer würde wohl am ehesten aus dem gewerkschaftlichen Lager der Linken kommen und müsste wohl auch zukünftig mit einem sicheren Landtagsmandat versorgt werden.

2) CDU-FDP Minderheitsregierung: Die NRW-Landesverfassung stellt klar, dass bis zur Amtsübernahme der Nachfolgerregierung die bisherige CDU-FDP-Landesregierung geschäftsführend im Amt bleibt (Art. 61 Abs. 2). Hessische Verhältnisse also. Ohne SPD-Unterstützung kann kein CDU-Parlamentarier zum Ministerpräsidenten gewählt werden. So könnte Rüttgers höchstens für den Moment durchschnaufen und auf bessere Stimmung nach der Fußballweltmeisterschaft und dem Sommerurlaub hoffen, um bei möglichen Neuwahlen im Herbst bessere Chancen zu haben.

3) Rot-Grüne Minderheitsregierung: Hannelore Kraft hätte, solange die SPD nicht doch noch einen CDU Kandidaten unterstützt, zumindest in einer Stichwahl (Art. 52 Abs. 2) die größten Chancen zur Ministerpräsidentin gewählt zu werden. Über Minderheitsregierungen habe ich bereits hier gebloggt. Obwohl auf den ersten Blick stabile Verhältnisse anders aussehen, würde eine Rot-Grüne Minderheitsregierung sicherlich effizienter regieren können als eine CDU-FDP-Minderheitsregierung. Denn die Wahrscheinlichkeit, Gesetzesvorlagen mit Hilfe der Linken durchs Parlament zu bringen, ist höher als die, dass Vorlagen einer geschäftsführenden CDU-FDP-Landesregierung eine Mehrheit erhalten. Diese Option ist sicher nicht nur „rein theoretisch“ möglich.

4) Große Koalition unter SPD-Führung. Es steht nirgendwo geschrieben, daß die größte Partei den Ministerpräsidenten stellen muss? Darauf hatte ich auch schon vor den ersten Sondierungsgesprächen von CDU und SPD in einem anderen Blog-Beitrag hingewiesen.

5) Große Koalition unter CDU-Führung: Diese Option schien ja bereits vom Tisch. Gemäß der NRW-Landesverfassung (Art. 52 Abs. 1) kann nur ein Mitglied des Landtags zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Statt Rüttgers wären daher als Kompromisskandidaten Landespolitiker wie Krautscheid, Laschet oder Laumann denkbar, aber eben keine Bundespolitiker (wie etwa NRW CDU-Granden Pofalla, Röttgen oder gar Lammert).

Habe ich etwas vergessen? Hat jemand ein Vorhersagemodell bzw. kann man die Bräuninger-Debus-Modelle kalibrieren? Spannende Tage – nicht nur wegen der WM…

 

Verschärft das Sparpaket die Energiearmut?

StruenckNoch ist nichts vom Bundestag beschlossen, noch sind die Details der Sparvorschläge gut getarnt. Dennoch wird es die Bezieher von Arbeitslosengeld II besonders treffen, so viel ist klar. Einer der Vorschläge richtet sich auf Heizkostenzuschüsse, die von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden. Die Bundesregierung will ihren Anteil nun ganz streichen. Doch das Problem würde damit nur in die Länder und Kommunen verschoben. Denn die Heizkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose wurden eingeführt, um die überproportional hohen Energiekosten armer Haushalte zu reduzieren. Nach Berechnungen der Verbraucherzentrale NRW müssen rund 20 Prozent der Bevölkerung mehr als 13 Prozent ihres Einkommens für Strom und Heizung ausgeben. Darunter fallen nicht nur die Bezieher von Arbeitslosengeld II. International spricht man vom Phänomen der „Energiearmut“, das hierzulande nur in Expertenkreisen diskutiert wird. In Großbritannien und anderen europäischen Ländern hingegen gibt es politische Programme, die sich diesem Problem widmen. Die Europäische Union hat ihre Mitgliedsstaaten aufgefordert, Lösungen zu entwickeln. In Deutschland verhallt der Aufruf bislang.

Können Haushalte ihre Rechnungen für Energie nicht bezahlen, wird ihnen häufig von den Energieversorgern der Strom gesperrt. Mit dieser Lösung sind allerdings auch die Unternehmen nicht glücklich, denn das Forderungsmanagement ist aufwändig und kostenintensiv. Bei den betroffenen Menschen wiederum häufen sich Schulden an. Oder die Wohnungen werden nicht richtig geheizt, was die Gesundheit der Menschen gefährdet und auch den Wohnungsbesitzern schadet. Heizkostenzuschüsse sind kein Allheilmittel gegen diese Entwicklung. Doch gut gedämmte Wohnungen stehen gerade armen Haushalten häufig nicht zur Verfügung. Solange in Deutschland keine breiten Strategien entwickelt werden, können Heizkostenzuschüsse die Situation bei Langzeitarbeitslosen vorübergehend lindern und Verschuldungsspiralen stoppen. Das Vorhaben der Bundesregierung zeigt: Die Herausforderung der Energiearmut wird ignoriert. Das ist kein gutes Zeichen für eine intelligente, nachhaltige Sozialpolitik.

 

Ampel alternativlos? Zum Machtpoker in NRW

Die Ampel-Koalitionäre sondieren. Am Donnerstag geht es in die nächste Runde. Überraschend ist nach den Koalitionssignalen im NRW-Wahlkampf ja bereits, dass sich die FDP überhaupt mit Rot-Grün an einen Tisch setzt. Wurde doch eine Zusammenarbeit mit den Grünen im Wahlkampf ausgeschlossen.

Strategisch etwas unklug feuerte nun der Fraktionsvorsitzende der Linken im Düsseldorfer Landtag, Wolfgang Zimmermann, am Montag die Diskussion über den nächsten möglichen Schritt im NRW-Machtpoker an – die Tolerierung einer möglichen rot-grünen Minderheitsregierung unter einer möglichen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Für die Linken ist das unklug, weil es den Beteiligten an den Ampel-Sondiergesprächen eine weitere Machtoption für Rot-Grün vorführt und so gerade für die FDP-Unterhändler zusätzliche Argumente liefert, im Zweifel dicke Kröten zu schlucken.

Der FDP könnten harte Konzessionen in den Verhandlungen abgerungen werden, weil SPD und Grüne jederzeit nun auch glaubhaft drohen könnten, erforderliche Mehrheiten im Parlament für Initiativen einer möglichen rot-grünen Minderheitenregierung mithilfe einzelner Abgeordneter der Fraktion der Linken zu sichern. Es wird ja immer nur eine weitere Stimme für das rot-grüne Lager gebraucht, um eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Nach Angaben der linken Fraktionschefin Bärbel Beuermann könnten in der kommenden Legislaturperiode zahlreiche Anträge gemeinsam mit der SPD und den Grünen eingebracht werden.

Was wissen wir eigentlich über Minderheitsregierungen? In Deutschland gehen die Meinungen über Minderheitsregierungen weit auseinander. In den Medien werden Minderheitsregierungen recht negativ beschrieben – ja oft sogar als instabil und ineffizient verteufelt. Die politikwissenschaftliche Sicht, basierend auf Zahlen statt auf Meinungen, ist eine andere. Von Verteufelung keine Spur. Minderheitsregierungen, bei der die Regierung sich von Fall zu Fall neue Mehrheiten schaffen muss, sind insbesondere in skandinavischen Ländern bekannt – aber ganz und gar nicht berüchtigt, wie Kare Strom (1990) in seiner wegweisenden Arbeit zeigt. Eine neuere und umfangreiche Studie (Cheibub et al. 2004) über nationale Regierungen praktisch aller Demokratien weltweit zwischen 1946 und 1999 zeigt zwei Dinge ganz eindeutig. Erstens, der Typ „Minderheitsregierung“ stellt im internationalen Vergleich keine wirkliche Minderheit als Regierungstyp dar. Zweitens regieren Minderheitsregierungen mindestens so erfolgreich und effizient (gemessen an der Anzahl von Gesetzesinitiativen der Regierung, die im Parlament verabschiedet werden) wie „normale“ Koalitionsregierungen, die eine Mehrheit in Parlament besitzen.

Wie denken aber die Bürger in Nordrhein-Westfalen darüber? Aktuelle Zahlen haben wir nicht. Im Sommer 2009 jedoch hat die akademische Wahlstudie zur Bundestagswahl, die German Longitudinal Election Study, ein spezielles Fragemodul zu Koalitionen in ihren umfangreichen Fragekatalog integriert. Dort wurde unter anderem nach einer möglichen Regierung gefragt, wenn es für keines der traditionellen Lager – Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün – zu einer Mehrheit im Parlament reicht. Eine Situation, die wir nun auch in Nordrhein-Westfalen vorfinden:

„Stellen Sie sich nun bitte vor, dass nach der Bundestagswahl die Situation entsteht, dass die einzige Zwei-Parteien-Koalition, die eine Mehrheit hat, die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD ist. Welche Regierung würden Sie dann bevorzugen? Die Union – CDU und CSU – zählt als eine Partei.“

Die Antwortvorgaben waren die folgenden:

– Große Koalition mit Mehrheit im Bundestag
– Drei-Parteien-Koalition mit Mehrheit im Bundestag
– Minderheitsregierung ohne Mehrheit im Bundestag

Betrachtet man nur einmal die Befragten aus Nordrhein-Westfalen, so ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der Einstellung zu einer Minderheitsregierung.

Erstaunlich ist nicht, dass sich unter solchen Umständen 57% sich für die Große Koalition aussprechen. Das ist zu erwarten. Nein, erstaunlich finde ich, dass allen Unkenrufen in den Medien zum Trotz immerhin 14% eine Minderheitsregierung in dieser Situation bevorzugen würden. Zudem hat diese Antwortoption als einzige das eindeutig negativ konnotierte Attribut „ohne Mehrheit“ in der Formulierung. Mit etwas Werbung, so vermute ich, würde die Option einer Minderheitsregierung noch populärer in der Bevölkerung werden, so dass sie tatsächlich als Drohpotential genutzt werden kann, um die Ampel letztlich zu ermöglichen. „Schaun mer mal“, wie Kaiser Franz zu sagen pflegt.

Literaturhinweise:

• Jose Antonio Cheibub, Adam Przeworski, und Sebastian Saiegh. 2004. „Government Coalitions and Legislative Success Under Presidentialism and Parliamentarism“ British Journal of Political Science 34, 565–587.

• Kaare Strom. 1990. Minority Governments and Majority Rule. Cambridge: Cambridge University Press.

 

Deutschlands oberste Tigerente, oder: Zur (Aus-)Wahl des Bundespräsidenten

AndreaChristian Wulff wird – aller Voraussicht nach – der zehnte Bundespräsident Deutschlands. Das scheint eine gute Wahl zu sein, der Kandidat ist über die Parteigrenzen hinweg beliebt. Darüber hinaus gilt er als überaus kompetent und seriös, kurzum: Man traut ihm zu, ein guter Präsident zu sein. Und auch parteipolitisch hat er Rückenwind: Als Ministerpräsident in Niedersachen führt er seit sieben Jahren eine erfolgreiches schwarz-gelbes Bündnis, das der angeschlagenen „Tigerenten-Koalition“ (Maybritt Illner) auf Bundesebene als Vorbild dienen kann. Soweit die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht aber ist, dass die Kandidatensuche das eklatante Nachwuchs- und Rekrutierungsproblem der deutschen Politik sehr deutlich gemacht hat. Nach dem kurzen Experiment, mit Horst Köhler einen Kandidaten abseits der Parteipolitik zu wählen, kommt nun wieder ein Parteisoldat zum Zuge. Solche Erfahrung sei wichtig in diesem Amt, heißt es allerorten. Es lässt sich also festhalten, dass auch der Karriereweg des Staatsoberhauptes unweigerlich über die Partei führt.

Warum das problematisch ist, zeigt ein Blick auf den „Ausbildungsgang Berufspolitiker“: In den Parteien lernen angehende Politiker das Handwerkszeug, durch die zu absolvierende „Ochsentour“ entwickeln sie entscheidende Qualitäten wie Durchsetzungskraft und Durchhaltevermögen. Mittlerweile haben über 40% der Parlamentarier keinen anderen Beruf erlernt als den des Politikers. Während man früher nach einer Tätigkeit jenseits der Politik quasi als zweite Karriere in die Politik ging, führt jetzt mehr und mehr der Weg direkt dorthin.

Mediale oder integrative Kompetenzen sind für das Hocharbeiten innerhalb einer Partei nicht erforderlich; für das Amt des Bundespräsidenten sind sie gleichwohl zentral. Er muss die Medien bedienen können und seine Popularität in der Bevölkerung wird zum entscheidenden Maßstab für Erfolg oder Misserfolg. Dafür muss er einen Stil entwickeln, der das beinhaltet, was Max Weber in seinen Ausführungen als Charisma bezeichnet hat. Denn in den Worten Webers qualifiziert sich ein Politiker in erster Linie durch Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Dies sind allerdings Qualitäten, die man sich nicht in einem Crash-Kurs antrainieren kann und die eine moderne Parteikarriere auch nicht unbedingt fördern.

Christian Wulff hat die persönliche Ausstrahlung und das Charisma, das ein Bundespräsident braucht, um sich Gehör zu verschaffen. Dennoch muss seine Nominierung als vertane Chance gesehen werden. Nicht nur wird somit abermals ein männlicher Kandidat aus einem westdeutschen Bundesland ins Rennen geschickt; es ist insbesondere schade, dass der enge Karrierepfad zum Bundespräsidialamt, der mit der Wahl Horst Köhlers ein Stück weit aufgebrochen wurde, nun wieder zuzementiert wird. Die erste Reaktion von Angela Merkel nach dem Rücktritt Horst Köhlers war viel versprechend: Sie wolle einen Kandidaten suchen, der von allen Parteien getragen werden könne. Die Entscheidung für Wulff ist jedoch eindeutig parteipolitisch motiviert und so wird ihm nun das Image des schwarz-gelben Präsidenten anheften. Damit könnte die Wahl zugleich Signalwirkung für die kommenden Jahre haben: Das Staatsoberhaupt könnte zunehmend parteipolitisch vereinnahmt werden. Dadurch könnte es auch Amtsträgern, die über die nötigen Qualitäten verfügen, zukünftig schwerer fallen, über der Parteipolitik zu stehen.

Literaturhinweise:

Max Weber: Politik als Beruf. München, 1919.

Thomas Leif: Angepasst und ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Gütersloh, 2009.

Andrea Römmele: Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik (3), 2004, S.

 

Die Desintegration der CDU, oder: there are no leaders without followers!

AndreaDie Union hat den zweiten Rücktritt innerhalb einer Woche zu verkraften: Nach der Ankündigung des hessischen Ministerpräsidenten und CDU-Vize Roland Koch, sich aus seinen politischen Ämtern zurückzuziehen, ist nun Bundespräsident Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten. Dies wird ohne Zweifel die bisher härteste Probe für Angela Merkel, die nun mit Blick auf das Bundespräsidialamt Entscheidungen zu fällen hat, die auch das von ihr geführte Kabinett betreffen könnten. Und abgesehen von personellen Fragen kommt eine weitere, noch größere Herausforderung auf die Parteichefin zu. Denn wir beobachten bei der CDU strukturell gesehen nun Tendenzen, wie sie sich auch bei der SPD der späten Schröder-Jahre gezeigt haben: Wenn nicht alle parteiinternen Strömungen angemessen abgebildet werden können, verliert die Partei ihre Integrationskraft und dadurch nicht zuletzt auch ihren Markenkern.

Dabei gibt es zwischen den beiden Volksparteien jedoch mindestens einen wichtigen Unterschied: Während die Zersetzung der SPD mit der massiven Abwanderung der Wähler (und mancher Politiker) zur Linken zu einer massiven Verschiebung innerhalb des Parteiensystems geführt hat, ist nicht abzusehen, ob die enttäuschten Köpfe und Anhänger der Union ebenfalls in anderen parteilichen Gruppierungen des Systems aufgefangen werden können oder aber nach außen abwandern werden – die Politiker beispielsweise in die Wirtschaft, die Parteianhänger zur großen Gruppe der Nichtwähler. Die Worte von Roland Koch, er sehe für sich keinen ausreichenden politischen Gestaltungsspielraum, müssen so gesehen in der gesamten Union und auch darüber hinaus als Warnsignal verstanden werden. Denn die Alternative zur Repräsentation solcher Strömungen in Parlamenten und Regierungen ist, dass sie nicht repräsentiert sind.

Horst Köhler hätte gerade in Zeiten der Finanzkrise mit all seiner national und international gesammelten Expertise durchaus wichtige Akzente setzen können. Er hat es jedoch nicht getan und hinterlässt daher auch keine große Lücke. Allerdings macht er das große politische Problem der CDU deutlich, das zwangsläufig zur großen politischen Herausforderung Angela Merkels werden wird: Gelingt es ihr, personell wie strukturell alle Positionen ihrer Partei aufzunehmen? Oder hält der aktuelle Trend der Desintegration in der Union an?

 

Hannelore Rüttgers – oder was?

Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind als Folge der schnellen Absage von Gesprächen mit der Linkspartei die Weichen nun erst einmal auf „Große Koalition“ gestellt. Die Frage, wer denn in einer solchen Regierungskonstellation den Ministerpräsidenten zu stellen hat, scheint offenbar ganz klar zu sein. Die CDU „natürlich“, wie immer wieder argumentiert wird. Zur Begründung wird das Kriterium der Stimmenanzahl bemüht. Weil die CDU laut amtlichem Endergebnis exakt 5982 Stimmen mehr erhalten hat als die SPD, sei es doch wohl klar, dass sie den Ministerpräsidenten auch stellen müsse – so oder so ähnlich war es dieser Tage der Presse zu entnehmen.

Mal ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Kriterium in einem parlamentarischen System auch tatsächlich viel Sinn ergibt, zeigt die Empirie jedenfalls keine reflexartige Beziehung in Koalitionsregierungen, der zu Folge immer die nach Stimmen stärkste Partei den Regierungschef stellen muss.

Ein paar Beispiele gefällig? Unser Nachbarland Österreich hat das auf der Bundesebene schon drei Mal erlebt. Zuletzt nach der Nationalratswahl 1999. Die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter der Führung von Wolfgang Schüssel ist nach Stimmen nur drittstärkste Kraft geworden, nach der sozialdemokratischen SPÖ und der FPÖ von Jörg Haider. Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ führte Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler ab dem 4. Februar 2000 eine ÖVP-FPÖ-Koalition an, obwohl wohlgemerkt die FPÖ nach der Wahl die „stärkere“ Partei war. 1953 und 1959 ist der ÖVP Kandidat ebenfalls Bundeskanzler geworden, obwohl die mitregierenden Sozialdemokraten mehr Stimmen bei der Wahl bekommen hatten.

Aber auch in anderen Ländern, die an Koalitionsregierungen gewöhnt sind, finden sich solche Beispiele. Der schwedische Zentrumspolitiker Fälldin etwa wurde nach der Wahl 1979 zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl damals die bürgerlich-konservative Moderata samlingspartiet und nicht mehr die Zentrumspartei die nach Stimmen größte bürgerliche Partei wurde. Ähnlich gelagerte Fälle finden sich auch in Dänemark in der Koalition zwischen Liberalen und Konservativen in den 80er Jahren. Wenn man systematisch sucht, findet man wahrscheinlich noch mehr. Hat jemand noch weitere Beispiele parat?

Langer Rede kurzer Sinn: Es ist mitnichten in Stein gemeißelt, dass die stärkste Partei auch den Ministerpräsidenten stellen muss. Die Beispiele zeigen, dass von einem derartigen Automatismus keine Rede sein kann. Welche Partei den Regierungschef stellt, liegt genauso auf dem Verhandlungstisch und ist daher Bestandteil von Koalitionsverhandlungen, wie viele andere Dinge auch.