Im Economist gibt es hinten immer zwei Seiten mit volkswirtschaftlich relevanten Statistiken und Prognosen. Wenn ich mir die Vorhersagen für die Verbraucherpreise im Jahr 2009 für die 42 Länder plus Euroland ansehe, hat die Deflation in den reicheren Ländern bereits begonnen: In neun von 42 Fällen steht ein Minuszeichen vor der Inflationsrate. Dazu zählen die USA, Japan, Spanien, die Schweiz, Schweden, aber auch die ärmeren Länder China, Malaysia, Thailand und Taiwan. In weiteren 12 Ländern wird eine Inflationsrate von 0% bis 1% erwartet. Im World Economic Outlook vom April sagt der Internationale Währungsfonds für die „advanced economies“ in diesem Jahr einen Rückgang der Verbraucherpreise um 0,2% voraus. Für die Schwellenländer und Entwicklungsländer steigen die Preise im (Kaufkraft-)gewogenen Mittel noch um 5,7%, nach 9,3% im Vorjahr (Kap. 1, S. 10). Die Preise für international gehandelte Güter sinken laut IWF auf breiter Front (Anhang A, S. 204).
Mit jeder neuen Prognose fallen sowohl die Zuwachsraten des Sozialprodukts als auch die Inflationsraten niedriger aus. Beim globalen realen BIP ist der IWF (auf der Basis marktmäßiger Wechselkurse) bei –2,5% im Vorjahresvergleich angekommen. Die Stimmung von Unternehmen und Haushalten mag sich in den letzten Wochen etwas verbessert haben, in den „harten“ Zahlen hat sich das aber noch nicht niedergeschlagen. Das deutsche BIP ist beispielsweise zuletzt mit einer Verlaufsrate von 14,4% gesunken (das ist die Veränderung im ersten Quartal ggü. dem vierten Quartal 2008 auf vier Quartale hochgerechnet) und lag damit um 6,9% unter seinem Vorjahreswert; für Euroland insgesamt lauten die entsprechenden Zahlen -9,8% und -4,6%, und für die USA -6,1% und -2,6%. Danach hat sich der Abschwung eher beschleunigt als verlangsamt.
Peter Kalmbach zitiert in einem lesenswerten Übersichtsartikel zum Thema Finanzkrise und Deflation in der April Ausgabe des Wirtschaftsdiensts Ben Bernanke, den Chef der amerikanischen Notenbank: Für diesen ist Deflation fast immer ein Nebeneffekt einbrechender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und kein primär monetäres Phänomen. Die Ausgaben von Unternehmen und Haushalten gehen in einer tiefen Rezession so stark zurück, dass die Anbieter ihre Preise ständig senken müssen, damit sie überhaupt Käufer finden.
Bei einer Deflation besteht das Problem darin, dass es sich zum Einen lohnt, Käufe von Waren, Dienstleistungen, Aktien und Immobilien aufzuschieben – weil morgen alles vermutlich noch billiger sein wird als heute -, zum anderen nimmt der Realwert der Schulden bei sinkendem Preisniveau zu, so dass es auch von daher einen starken Anreiz gibt, sein Geld zusammenzuhalten. Wenn zudem die Zinsen bereits 0% erreicht haben und die Notenbank nicht bereit oder gesetzlich nicht in der Lage ist, negative Nominalzinsen einzuführen, bedeutet ein sinkendes Preisniveau steigende und damit konjunkturdämpfende Realzinsen.
Eine Deflation tendiert daher dazu, sich selbst zu verstärken. Es kann sich das Pendant einer Inflationsspirale entwickeln. Bernanke hatte noch 2002 geglaubt, dass die amerikanische Wirtschaft, vor allem ihr Finanzsektor, sehr gesund und damit resistent gegenüber deflationären Risiken sei, und dass die Fed über ein gut gefülltes Waffenarsenal für den Kampf gegen die Deflation verfüge. Beides hat sich als Wunschdenken erwiesen.
Was den ersten Punkt angeht, waren die amerikanischen Bilanzen zu Beginn der Krise im August 2007 (oder auch schon ein Jahr früher, als der Verfall der Hauspreise begann) keineswegs in guter Verfassung. Wie sich zeigte, war das Vermögen der Banken, sonstiger Unternehmen, der Asset Manager und Haushalte nämlich viel weniger wert als vermutet. Aus soliden Anlagen waren durch den Liquiditätsschock und den Kurseinbruch innerhalb kurzer Zeit toxic assets geworden. Für viele schnappte die Schuldenfalle zu.
Es zeigte sich außerdem, dass die Regulierung des US-Finanzsektors sehr zu wünschen übrig ließ und den Aufsehern überhaupt nicht klar war, was sich da unter ihren Augen zusammengebraut hatte. Oft wird das der zersplitterten Aufsicht angelastet, aber wie sich zeigte, waren die Aufsichtsbehörden in Europa, auf die das weniger zutrifft, ebenfalls ziemlich orientierungslos. Es gibt ein Phänomen, das heißt „regulatory capture“: Im Laufe der Jahre, vor allem konjunkturell guter Jahre, werden die Aufseher zu Freunden der Beaufsichtigten, man kommt sich näher, man versteht sich, man traut sich. Wahrscheinlich wird sich dagegen auch in Zukunft wenig tun lassen.
Zweiter Punkt: Die Fed hat inzwischen, wie es Bernanke 2002 de facto angekündigt hatte, ihre Waffen gegen die Deflation in Stellung gebracht und feuert aus allen Rohren. (siehe z.B. auch Dolan 2008) Die anderen wichtigen Notenbanken sind ihr dabei staunend gefolgt: Die Fed Funds Rate wurde auf fast 0% gesenkt, die Laufzeit der Kredite verlängert, die Anforderungen an die Bonität der Sicherheiten drastisch reduziert, die Bilanzsumme des Federal Reserve Systems innerhalb kurzer Zeit etwa verdoppelt. Da der private Sektor aber bestrebt war – und ist – Liquidität zu horten, mit dem Ziel, seine finanzielle Position nach den gewaltigen Vermögensverlusten zu verbessern, werden die Pferde zwar zur Tränke geführt, sie saufen aber nicht, wie sich ein deutscher Finanzminister einmal ausdrückte. Die Amerikaner nennen so etwas „pushing on a string“. Jetzt wird daher versucht, durch „unkonventionelles“ „quantitative easing“ die Renditen längerlaufender Anleihen zu senken sowie den Zinsabstand zwischen staatlichen und privaten Schuldverschreibungen einzuengen. Nicht zuletzt hat die Fed Funktionen übernommen, für die normalerweise die Geschäftsbanken zuständig sind.
Wenn alles nichts fruchtet, könnte Helicopter Ben (Bernanke) auch, wie es Milton Friedman einst vorgeschlagen hatte, Geldscheine gratis verteilen – die Fed würde nahezu unbegrenzt zusätzliche staatliche Schulden übernehmen, um zu verhindern, dass die Bondrenditen steigen. Es muss nur jemand in den Keller gehen und die Geldpresse anwerfen. Es könnte sein, oder es ist vielmehr sogar sicher, dass dadurch das Vertrauen in die Notenbank so erschüttert wird, dass sich die Gläubiger weigern, dieses solchermaßen entwertete Geld überhaupt anzunehmen – sie könnten darauf bestehen, dass in ausländischer Währung gezahlt wird, und die nicht-monetäre Tauschwirtschaft könnte eine neue Blüte erleben.
Trotz der lehrbuchmäßigen Gegenmaßnahmen ist die Deflation keineswegs besiegt. Auch die massiven finanzpolitischen Maßnahmen schlagen bislang nicht an . Die OECD hat gerade geschätzt (Economic Outlook, Interim Report, S. 62) , dass das zyklisch bereinigte Defizit der USA in diesem Jahr 7,8% des potentiellen BIP erreichen dürfte, mehr als je zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Die 2,1% Deutschlands nehmen sich daneben geradezu bescheiden aus – obwohl der Rückgang von Industrieproduktion und Sozialprodukt viel größer ist als in Amerika und daher hier eigentlich mehr getan werden müsste.
Das Deflationsrisiko ist inzwischen so groß, dass zwei angesehene amerikanische Ökonomen, Gregory Mankiw und Kenneth Rogoff, dafür plädieren, mit allen Mitteln für ein paar Jahre eine Inflationsrate von etwa 6% anzustreben. Zitat Rogoff: „There’s trillions of dollars of debt, in mortgage debt, consumer debt, government debt. It’s a question of how do you do achieve deleveraging. Do you go through a long period of slow growth, high savings and many legal problems or do you accept higher inflation?“ Weder die Fed noch die US Treasury hätten vermutlich etwas dagegen, die Schuldenkrise durch Inflation zu lösen, sozusagen auf klassische Weise. Das, was sie auf den Weg gebracht haben, weist jedenfalls in diese Richtung. Nach Mankiw ist eine höhere Inflationsrate allemal steigender Arbeitslosigkeit, zusätzlichen Konjunkturprogrammen und immer höheren Staatsschulden vorzuziehen.
Das beantwortet aber immer noch nicht die Frage nach dem „wie“? Wie komme ich von hier nach da, von der Deflation heute zur Inflation morgen?
Ein Instrument, über das niemand so richtig zu sprechen wagt, ist der Wechselkurs. So wie die USA 1933 durch die Aufgabe des Goldstandards die Depression bekämpften, könnten sie heute Handlungsspielraum dadurch gewinnen, dass sie an den Devisenmärkten aggressiv Dollars verkaufen. Eine Abwertung erhöht die internationale Wettbewerbsposition. Das heißt, die Einfuhren würden sinken und die Ausfuhren zunehmen, es gäbe mehr Arbeitsplätze, und wahrscheinlich würde auch die Inflation wieder anspringen. Das geht natürlich nur, wenn die anderen stillhalten. Genau das aber wird nicht geschehen. Der Rest der Welt leidet ja ebenfalls unter Rezessionen und Deflation.
Die Lösung des Deflationsproblems kann nur durch internationale Kooperation gelingen, nicht durch einen Abwertungswettlauf. Der G20-Gipfel war ein Anfang in dieser Richtung. Vermutlich muss die Lage aber noch dramatischer werden, bevor sich die Politiker der wichtigsten Volkswirtschaften zu mehr als unverbindlichen Absichtserklärungen durchringen.