Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Warum die Aktienmärkte boomen

 

Um ehrlich zu sein, ich weiß es auch nicht. Seit dem letzten Tiefpunkt am 6. März 2009 hat der DAX um nicht weniger als 44% zugelegt und liegt jetzt „nur“ noch um 35% unter dem letzten Hoch von 8106 Punkten am 16. Juli 2007. Ich sehe etwas alt aus, oder, genauer: so alt wie ich bin, wenn ich an die Überschrift „Rückläufige Gewinne, Aktien zu teuer“ meines letzten Investment Outlooks denke. Die Aktienmärkte sind ganz anderer Meinung, ebenso wie die (schwachen) Rentenmärkte.

Der DAX befindet sich übrigens auch um fast dieselben 35% unter seinem früheren Rekordwert vom März 2000! Wer damals, auf dem Höhepunkt der dotcom-Blase, eingestiegen ist, hat in neuneindrittel Jahren im Durchschnitt 4,4% verloren. Real, also unter Berücksichtigung einer durchschnittlichen Inflationsrate von 1,7%, waren es jährlich etwas mehr als 6%. Das nur nebenbei.

Es häufen sich in den letzten Monaten die positiven Nachrichten aus der Realwirtschaft. Nicht nur, dass sich der Abschwung verlangsamt hat, was angesichts des starken Konjunktureinbruchs zu erwarten war, wir könnten uns, jetzt, im Juli, sogar schon wieder in einer Aufschwungphase befinden, was nicht heißen muss, dass sie auch dauerhaft sein wird. Die Weltwirtschaft expandiert jedenfalls, die Auftragseingänge in der Industrie und im Bau weisen gegenüber dem ersten Katastrophenquartal sichtbar nach oben, der reale Außenbeitrag hat sich im zweiten Quartal gegenüber dem ersten stark verbessert (wenn ich aus den Zahlen für April und Mai auf das gesamte Quartal schließen darf), und die Einzelhandelumsätze steigen (weil sich Beschäftigung und Löhne gut gehalten haben, während das Preisniveau sinkt).

Mein Mitstreiter Uwe Richter schätzt, dass das reale BIP Deutschlands im zweiten Quartal saisonbereinigt möglicherweise um 0,2% höher war als im ersten, jedenfalls wenn er auf die Verwendungsseite der BIP Rechnung schaut. Von der Entstehungsseite her könnte es aber auch leicht darunter gelegen haben. Er prognostiziert folglich eine Stagnation, also eine Null. (Das ist deutlich höher als beispielsweise die letzte Prognose des DIW von –0,7%.) Bei einem Nullwachstum im zweiten Quartal wäre das BIP um 6,5% niedriger gewesen als vor einem Jahr. Wenn es nun von Quartal zu Quartal weiter leicht expandieren sollte, könnte erstmals Anfang 2010 beim Vorjahresvergleich wieder ein Pluszeichen vor der BIP-Wachstumsrate stehen. Nach deutschem Usus ist eine Rezession erst dann vorüber, wenn das der Fall ist. Die jetzige Rezession hätte dann am Ende fünf Quartale gedauert. Sie wäre damit nicht nur ungewöhnlich lang, sondern auch ungewöhnlich tief. Da sage ich nichts Neues.

Heute früh haben das Ifo-Geschäftsklima und die PMI-Indices, die auf Umfragen bei den Einkaufsmanagern basieren, bestätigt, dass es mit der Stimmung wieder aufwärts geht. Vor allem die Erwartungen darüber, wie es geschäftlich weiter gehen wird, haben sich deutlich verbessert. Die aktuelle Lage ist dagegen immer noch sehr schlecht. Es wäre mit den Ifo-Zahlen durchaus vereinbar, wenn das deutsche BIP von Quartal zu Quartal in diesem Jahr doch noch leicht sinken würde. Die Arbeitsmarktzahlen, die ja schon für Juni vorliegen, sehen jedenfalls nicht sehr rosig aus. Da die Anzahl der Arbeitslosen kräftig gestiegen ist, dürfte die Industrieproduktion zuletzt rückläufig gewesen sein. In den kommenden Monaten wird es zumindest an dieser Front keine guten Nachrichten geben.

Industrieproduktion und Ifo-Geschäftslage, standardisiert

Auftragseingang und Ifo-Geschäftserwartungen, standardisiert

Der feste Aktienmarkt reflektiert, um mal zu einer Verteidigungsrede auszuholen, dass zum Einen die Gewinne im Aufschwung überproportional steigen, und dass andererseits das absolute Kursniveau im Vergleich zu den früheren Tops niedrig ist. Aber ich bleibe dabei: Billig sind die Aktien nicht.

Ich bin mir nicht sicher, wie verlässlich die Angaben auf Bloomberg sind, aber wenn ich mir das durchschnittliche Kurs-Gewinnverhältnis (KGV) der 30 DAX-Werte ansehe, drängt sich ein solcher Schluss auf. Auf der Basis der veröffentlichten Gewinne pro Aktie für die letzten vier Quartale liegt es bei astronomischen 29,4! Das ergibt eine Risikoprämie gegenüber „risikolosen“ zehnjährigen Bundesanleihen von Null ( 1/29,4 => 3,4% minus der realen Bondrendite von 3,5% – 0,1% = 3,4%). „Normal“ ist eine Differenz von vier oder fünf Prozentpunkten.

Selbst wenn ich mal glaube, dass die Gewinnprognosen der Analysten für 2009 richtig sind (+90% gegenüber den vier Quartalen bis Q1 2009), folgt daraus nicht, dass die Aktien beim gegenwärtigen Kursniveau besonders attraktiv sind: Auf dieser Basis ergibt sich nach den Zahlen auf meinem Bloombergschirm immer noch ein KGV von 15,5, was nach obiger Rechnung einer Risikoprämie von 3,1 Punkten entspricht.

Es steckt also viel Phantasie in den Kursen. Für 2010 wird im Vorjahresvergleich übrigens ein Gewinnanstieg von 35% erwartet. Das ist angesichts der Tatsache, dass sich die Konjunktur bestenfalls dahinschleppen wird, ziemlich kühn, aber nicht untypisch für die Zunft. Wenn ich spekulieren müsste, würde ich nicht auf den Aktienmarkt als Ganzes setzen, sondern lediglich das Portefeuille in Richtung Exportwerte umschichten – so schlecht, wie das die Auftragseingänge aus dem Ausland suggerieren, ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen nicht, vor allem auch nicht in den Schwellenländern, wo mindestens bis auf Weiteres wieder kräftig investiert wird.

Und die Anleihen? Sie leiden gerade unter dem gigantischen Refinanzierungsbedarf der Staatshaushalte, vor allem in den USA, in Großbritannien, in Spanien und in Frankreich, aber fundamental gibt es keine Bedenken: Die Inflationsrate wird auf absehbare Zeit in der Nähe von Null verharren – weil es jetzt angesichts der zunehmenden Probleme am Arbeitsmarkt zu sehr viel niedrigeren Lohnsteigerungen kommen wird – und weil die EZB die Notenbankzinsen nicht erhöhen wird. Ich vermute, dass es noch einmal zu einer Senkung kommen wird, vielleicht sogar, nach schwedischem Vorbild, zu einem negativen Satz bei der Einlagefazilität (zur Zeit +0,25%). Das wäre er dann, der Einstieg in negative Nominalzinsen, den ich, wie Sie sich vielleicht erinnern, für eine bedenkenswerte Alternative zum quantitative easing halte. In der Währungsunion gibt es wegen der fehlenden gemeinsamen Finanzpolitik bisher keine Institution, die für Verluste der EZB (durch Abschreibungen auf minderwertige Wertpapiere) aufkommen würde. Darum sind die amerikanischen, japanischen und britischen Vorbilder in dieser Beziehung nur begrenzt tauglich.