Was ist los? Mitten in einem doch recht kräftigen globalen Wirtschaftsaufschwung, mit Zuwachsraten des realen BIP in der Größenordnung von 4 1/2 Prozent annualisiert, brechen die Märkte für Aktien und Rohstoffe auf einmal ein. Gleichzeitig gehen die Renditen von Staatsanleihen bester Qualität zurück. Angeblich ist doch das Inflationsrisiko erheblich gestiegen, nicht nur wegen des robusten Wachstums, sondern auch weil die Notenbanken die rekordhohen Staatsschulden immer bedenkenloser übernehmen und damit im klassischen Sinne Geld drucken. Jetzt ist sogar die EZB auf diesen gefährlichen Kurs eingeschwenkt.
Gefährlich? Die Marktteilnehmer jedenfalls haben da keine Bedenken. Wenn sie wirklich Angst vor steigender Inflation hätten, müssten sie Anleihen verkaufen und Aktien, Rohstoffe und Immobilien kaufen, also Sachwerte. Wenn ich mir einige der Zahlen vom Donnerstag anschaue, komme ich zu den folgenden Schlüssen:
1. Der Markt für langlaufende US Treasuries ist bombenfest; 10-jährige rentieren nur noch mit 3,24 Prozent, bei einer aktuellen Inflationsrate der Verbraucherpreise von 2,2 Prozent (Vorjahresvergleich), macht eine Differenz von 1,14 Prozentpunkten; das heißt, es wird eine Kombination von mittelfristig sinkender Inflation und schwächerem Wirtschaftswachstum erwartet, oder auch: Der kräftige Wirtschaftsaufschwung wird nicht von langer Dauer sein.
2. Das ist auch die Botschaft, die vom Markt für inflationsgeschützte Anleihen (TIPS) ausgesendet wird: Die Anleger geben sich für die nächsten zehn Jahre mit einer Realrendite von nur 1,34 Prozent zufrieden, und die durchschnittliche Inflationsrate wird bei nur 1,9 Prozent liegen; nota bene, der Trend des amerikanischen Produktionspotentials lag bislang bei etwa 3 Prozent, also sehr deutlich über jenen 1,34 Prozent, die jetzt implizit am Markt erwartet werden. Und außerdem wird neuerdings allgemein erwartet, dass die amerikanische Kerninflationsrate in der zweiten Jahreshälfte im Vorjahresvergleich auf 0,5 Prozent fallen wird, auf eine Rate so niedrig wie noch nie seit Ende des zweiten Weltkriegs. Die Kerninflation ist bekanntlich – oder auch nicht bekanntlich – ein vorlaufender Indikator für die tatsächliche Inflation, die headline inflation.
3. In Deutschland boomt der Markt für Bundesanleihen erneut; je größer die europäischen Rettungspakete und je unsolider die Staatsfinanzen, desto niedriger die Renditen, scheint es. Für 10-jährige Bunds gibt es nur noch 2,68 Prozent. Es wird Geld gedruckt, aber das löst offenbar keine Inflationsängste aus. Selbst Gold, das normalerweise von jeder Art Krise profitiert, ist im Rückwärtsgang und ich darf weiterhin guter Hoffnung sein, dass es dort, wie ich angekündigt hatte, bald zu einem Crash kommt.
4. Der Anstieg des Ölpreises (WTI) bis auf 86,84 Dollar pro Barrel (am 6. April) war eigentlich plausibel angesichts des weltweiten Konjunkturaufschwungs, wenn auch aus historischer Sicht übertrieben. Jetzt ist Öl aber innerhalb von nur sechs Wochen auf 68,86 Dollar abgestürzt. Bei den übrigen Rohstoffen ist Ähnliches im Gange.
Es gibt für all das nur eine Erklärung, die mich wirklich überzeugt: Wir haben es nach japanischem Muster mit einer Bilanzrezession zu tun, oder mit der Erwartung, dass es zu so einer kommt. Die Entschuldung der amerikanischen, britischen, spanischen und japanischen Haushalte und Banken ist noch nicht vollbracht. Möglicherweise haben sich auch die Chinesen trotz ihrer hohen Sparquote zumindest brutto stark für den Kauf von Immobilien verschuldet und könnten angesichts fallender Immobilienpreise bald an einen Punkt kommen, an dem ihre Schulden höher sind als der Wert ihres Hauses oder ihrer Wohnung. In Japan läuft der Prozess der Entschuldung mittlerweile bald 20 Jahre – und die Inflation beträgt noch immer nur minus 1,1 Prozent. Es handelt sich in Wirklichkeit natürlich um eine hartnäckige Deflation. In den USA wird nach dem Auslaufen der Förderprogramme im Übrigen damit gerechnet, dass die Immobilienpreise wieder ihre Talfahrt aufnehmen. Auch bei gewerblichen Immobilien sinken die Preise. Die Entschuldung muss in eine neue Runde gehen.
Hinzu kommt, dass international sowohl die Geldpolitik als auch die Finanzpolitik ihre Expansionsspielräume ausgeschöpft haben, oder dass das zumindest allgemein so gesehen wird. Unter die Nullzinsgrenze kann man schlecht gehen, solange Negativzinsen ein Tabu sind, und die Gelddruckerei stößt auf immer mehr Widerstand in der Öffentlichkeit. Die Notenbanken verlieren ihre einst sakrosankte Unabhängigkeit, indem sie zu fiscal agents (des Staats) werden.
Und die Finanzpolitik? Die Haushaltsdefizite sind so groß, dass eine weitere Steigerung nur schwer vorstellbar erscheint. Wie weiland zu Zeiten von Brüning und Hoover wird vielmehr versucht, die Defizite trotz der gewaltigen Unterauslastung der Kapazitäten abzubauen. Im Euroland zwingt man – verständlicherweise – die Länder des Club Med, ihre Ausgabenüberschüsse so rasch es geht zu beseitigen, hat aber keinen Fahrplan, wie dieser Nachfrageausfall kompensiert werden könnte. Macht sich in Deutschland jemand in der Regierung Gedanken darüber, wie das Wachstum dauerhaft gesteigert werden kann und wie dadurch die Anpassungsprobleme im Mittelmeerraum vermindert werden könnten? Nein, das ist kein Thema, außer für die FDP, die die Steuern ihrer Klientel weiter senken möchte, damit jetzt aber in NRW gegen die Wand gelaufen ist. Der Export wird’s schon richten, ist wieder einmal die Hoffnung – und da sieht es in der Tat bislang ganz erfreulich aus. Der schwache Euro hilft: Er ist das ungewollte Äquivalent einer beggar-thy-neighbour-Politik.
Insgesamt wird am Markt offenbar eine weltweite Abschwächung der Nachfrage erwartet, eine Abschwächung, die weniger konjunkturelle als vielmehr strukturelle Gründe hat. Erfahrungsgemäß nimmt die Anzahl der Konkurse in der Frühphase eines Aufschwungs am stärksten zu – vielleicht habe wir es nur mit so etwa zu tun und brauchten daher kein Katastrophenszenarium an die Wand zu malen. Hoffen wir es. Dass es jetzt im Aufschwung erstmals zu ernsthaften Solvenzproblemen staatlicher Schuldner im OECD-Bereich kommt, ist jedenfalls etwas Neues, und nicht sehr beruhigend.
Nicht leugnen lässt sich aber, dass es auch nach japanischem Muster weitergehen könnte. Die Deflation und die jahrelange Wirtschaftsstagnation setzte in Japan ein, nachdem die Regierung 1997 zur Sanierung ihres Haushalts die Umsatzsteuer kräftig erhöht hatte. Zu dem Zeitpunkt war die Sanierung der Bilanzen von Haushalten, Banken und weiten Teilen der übrigen Wirtschaft noch keineswegs abgeschlossen. Der Schwenk der Finanzpolitik in Richtung Restriktion war das Todesurteil für einen damals noch sehr wackligen Aufschwung – und den Aktienmarkt!
So niedrig die Renditen der amerikanischen und deutschen Bonds auch aussehen, es spricht wenig dafür, dass sie in naher Zukunft steigen werden. Die Notenbankzinsen werden jedenfalls in der Nähe von Null bleiben und damit die Rentenmärkte stützen. Werde ich auch mit meiner früheren Vorhersage Recht behalten, dass die EZB die Leitzinsen weiter senken wird? EONIA, der Übernachtsatz, liegt seit langem schon bei etwas über 0,3 Prozent.