Der Euro ist das zentrale Thema im neuen Jahresgutachten des Sachverständigenrats. Angesichts der enormen wirtschaftlichen und politischen Risiken, die mit seinem Scheitern verbunden wären, war das auch nicht anders zu erwarten. Da die Währungsunion nun einmal existiert, viele Vorentscheidungen schon getroffen sind, ernste Mängel jedoch ihr Überleben gefährden, macht der Rat Vorschläge für einen belastbaren und ökonomisch rationalen institutionellen Rahmen. Zurzeit werden die Weichen gestellt und es ist daher wichtig und dringend, dass Fehler vermieden werden. Der Rat befürchtet, dass aus Provisorien, wie sie vor allem die EZB unter dem Zwang der Umstände geschaffen hat, leicht dauerhafte Einrichtungen werden, die verhindern, dass die Banken und die Finanzpolitik der Mitgliedsländer ihre strukturellen Defizite beheben. Die Gefahr bestehe, dass man sich um die notwendigen Reformen drückt. Japans Umgang mit seiner Banken- und Staatsschuldenkrise wird als abschreckendes Beispiel genannt.
Das Gutachten formuliert für die deutsche Seite die Prioritäten, die sie verfolgen sollte, sowie die zugehörigen Argumente. Von Euroromantik keine Spur, stattdessen ein selbstbewusstes Insistieren darauf, dass jedes Land für sich seine Hausaufgaben machen muss. Hilfe soll es nur vorübergehend geben, und auch nur dann, wenn Auflagen erfüllt werden. Wer für die Verbindlichkeiten der Anderen haften soll, muss deren Politik kontrollieren können. An vielen Stellen des Gutachtens wird darauf hingewiesen, dass Haftung und Kontrolle zusammengehören. Es ist sein Leitmotiv.
Zu finanziell sehr günstigen Bedingungen – der Rat kostet nicht viel! – hat die Regierung damit eine detaillierte und argumentativ konsistente Tischvorlage für ihre Verhandlungen bekommen. Das und das wollen wir, und wir sagen auch warum. Der Rat hat vor allem die Interessen der deutschen Steuerzahler und Sparer im Blick und unterstellt dabei, dass das auf längere Sicht auch den Anderen nutzt. Unter spieltheoretischen Aspekten ist es vermutlich richtig, vor dem ersten Zug genau zu formulieren, was man will, so dass die Partnerländer in die Defensive geraten und später zu größeren Konzessionen gezwungen werden, als sie das im Augenblick erwarten.
Für meinen Geschmack wird aber vollkommen unter den Teppich gekehrt, dass Deutschland, nachdem es im vergangenen Jahrzehnt wichtige strukturelle Probleme gelöst hat, jetzt in der Pflicht ist, den Euro dadurch zu stabilisieren, dass es mehr für sein eigenes Wirtschaftswachstum tut. Auch Eigeninteressen sprechen dafür. Nach den Prognosen des Rates wird das reale Sozialprodukt im nächsten Jahr langsamer expandieren als das Produktionspotenzial. Das führt aber nur dazu, dass die Überauslastung der Kapazitäten, die der Rat für die Jahre 2011 bis 2013 diagnostiziert, reduziert wird. Überauslastung!
Ich möchte an dieser Stelle erneut betonen, dass es „die richtige“ Methode, die Wachstumsrate des Produktionspotenzials zu berechnen, nicht gibt. Auf einmal soll sie laut Rat nur noch 1,1 Prozent pro Jahr betragen, nachdem die durchschnittliche Zuwachsrate des realen BIP in den zehn Jahren bis 2008 bei 1,7 Prozent gelegen hatte. Je niedriger die Wachstumsrate des Potenzials ist, desto geringer ist die Outputlücke, die Differenz zwischen dem, was produziert wird, und dem, was ohne inflationäre Anspannung produziert werden könnte. Wer verhindern will, dass die Finanzpolitik einen expansiveren Kurs fährt, hat ein Interesse daran zu zeigen, dass im Grunde Vollbeschäftigung herrscht. Der Rat tendiert seit einiger Zeit dazu, Outputlücken wegzudefinieren und auf diese Weise wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf zu leugnen.
Ich meine dagegen, dass das Produktionspotenzial nach wie vor mit jährlichen Raten von 1,5 bis 2 Prozent wächst. Warum? Die Wachstumsrate setzt sich zusammen aus dem trendmäßigen Anstieg des Arbeitseinsatzes und der trendmäßigen Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität. Die geleisteten Arbeitsstunden, auf die es hier ankommt, bleiben im Trend in etwa gleich (während der trendmäßige Anstieg der Beschäftigung bei etwa einem halbe Prozent pro Jahr liegt, was den anhaltenden Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit wiederspiegelt). In den zehn Jahren bis 2008 hat die Stundenproduktivität um jährlich 1,7 Prozent zugenommen. Warum soll es hier in den letzten Jahren zu einem Einbruch gekommen sein? Insgesamt dürfte das Potenzialwachstum nach wie vor irgendwo zwischen 1,5 und 2 Prozent liegen. Mit anderen Worten, ich bin überzeugt, dass die deutsche Wirtschaft viel weiter unterhalb ihres Potenzials operiert als der Rat es zugibt.
Auch der de facto ausgeglichene gesamtstaatliche Haushalt spricht angesichts der großen Kapazitätsreserven dafür, dass reichlich Spielraum für eine expansivere Fiskalpolitik vorhanden ist. Wir brauchen keine neue Abwrackprämie, aber warum nicht Geld in die Hand nehmen für mehr Bildung, für die kommunale und die übrige Infrastruktur, oder für die Umwelt, also für die Zukunft? Wenn der private Sektor so sehr verunsichert ist wie heute und seine Ausgaben einschränkt, ist es die Aufgabe des Staates, einen Teil der Lücke zu füllen. Der Rat geht darauf gar nicht ein: Die Kapazitäten sind ja voll ausgelastet.
Der Aspekt, dass stärkeres Wachstum in Deutschland und den wenigen anderen „gesunden“ Ländern des Euroraums den Problemländern in der sogenannten Peripherie helfen würde, mehr zu exportieren und so ihre Schulden zu vermindern, wird im Gutachten nicht thematisiert. Doch Schulden lassen sich im Wesentlichen nur durch Einnahmeüberschüsse, also eine positive Leistungsbilanz abbauen. Da ist es nicht einzusehen, dass wir hierzulande selbst in der jetzigen krisenhaften Situation so weit unter unseren Verhältnissen leben müssen. Der Leistungsbilanzüberschuss, der ein Indikator dafür ist, wird in diesem Jahr nicht weniger als 170 Milliarden Euro oder fast 7 Prozent des nominalen Sozialprodukts erreichen! Dabei müssen Gläubiger immer drauf bedacht sein, dass die Schuldner Einkommen erzielen und weiter existieren. Wir sind die Weltmeister im Sparen – und die Anderen sollen uns bitte nacheifern. Wo ist da die Logik?
Nicht zuletzt profitiert unsere Volkswirtschaft ganz unverhältnismäßig von der Kapitalflucht aus den Problemländern sowie der extrem expansiven Politik der EZB. Der Bund braucht für kürzere Laufzeiten fast keine Zinsen mehr zu zahlen; real sind die Renditen über das gesamte Laufzeitenspektrum hinweg negativ. Die rapide sinkende Zinslast ist ein wesentlicher Grund, weshalb der Staat – in meiner Rechnung – zurzeit erhebliche strukturelle Haushaltsüberschüsse verzeichnet. Da das gesamte deutsche Zinsniveau nach unten gerutscht ist, kann sich auch der private Sektor sehr billig verschulden. Die Problemländer stimulieren auf diese Weise indirekt die deutsche Konjunktur. Der schwache Euro, ebenfalls eine Folge der Eurokrise, tut ein Übriges. Auch das sieht der Rat nicht so.
Insgesamt stünde es uns gut an, und wäre in unserem Eigeninteresse, wenn auf mehr Wachstum und damit auf mehr Importe gesetzt würde. Leider ist das für den Sachverständigenrat kein Thema, denn er hat ja gewissermaßen auf wissenschaftlicher Basis gezeigt, dass nahezu Vollbeschäftigung herrscht. Folglich sind höhere Staatsdefizite ein Tabu, denn sie würden ja, schneller als man denkt, zu galoppierender Inflation und zur Enteignung der Sparer führen. Wenn aber alle nur sparen wollen und niemand investiert, kann nicht gespart werden. So einfach ist das, und so kann man sich ins Knie schießen. Es reicht nicht, von den Krisenländern eine ambitionierte Sparpolitik und tiefgreifende Reformen des Arbeitsmarkts, der Sozialsysteme, der Steuern und des Wettbewerbs zu verlangen, also deren Binnennachfrage für einige Zeit massiv zurückzudrängen. Es müssen entsprechend große Überschüsse in der Leistungsbilanz hinzukommen. Nur so können diese Länder ihre Schulden abbauen.
Kirchturmdenken bringt uns in der Währungsunion nicht weiter. Ich setze aber darauf, dass sich das im Verlauf der nächsten Monate geben wird und dass mancher Vorschlag des Gutachtens in der Verhandlungsmasse enden und verwässert werden wird, beispielsweise die Ablehnung einer zentralisierten Einlagensicherung, die strikte Trennung von Geldpolitik einerseits und Bankenaufsicht und Bankenregulierung andererseits, oder die Forderung, dass die Fiskalpolitik eine nationale Angelegenheit bleiben muss, weil angeblich kein Land in dieser Hinsicht auf Souveränität verzichten will.