Wenn es nach den Marktteilnehmern geht, sind wir auf dem besten Wege, die Krise hinter uns zu lassen. Europäische Aktien, italienische und spanische Staatsanleihen und der Euro selbst sind auf einmal die Renner der Saison, nachdem sie noch bis Mitte vergangenen Jahres als Risikoanlagen par excellence gegolten hatten. Ich halte diese Euphorie für verfrüht – erst wenn auch in den Krisenländern wieder neue Jobs geschaffen werden, kann man wirklich zuversichtlich sein.
Ein wichtiger Grund, weshalb die Eurokrise seit einiger Zeit an den Märkten als beherrschbar und sogar als lösbar gilt, scheint zu sein, dass sich die Krisenländer der Währungsunion trotz des scharfen konjunkturellen Gegenwinds und der sozialen Probleme unbeirrt bemühen, ihre Haushaltsdefizite abzubauen. Es gibt zurzeit keine Anzeichen, dass sie ihre Sparpolitik nicht durchhalten werden. Sie können daher weiterhin auf die Solidarität der Partnerländer bauen. Auch von Seiten der EZB wird das Europrojekt massiv abgesichert, ebenso wie von den 17 Finanzministern, die die Bankenunion und damit letztlich die Fiskalunion vorantreiben, ohne die eine Währungsunion auf Dauer nicht überleben kann. Es ist in der Tat unwahrscheinlicher geworden, dass es zu Staatsinsolvenzen oder einem Auseinanderbrechen des Euro kommen wird. Trotzdem ist die Sache ist noch nicht in trockenen Tüchern: Wenn aus der Währungsunion nicht bald eine Wachstumsunion wird, bleibt der Euro gefährdet. Die zusätzlichen Forderungen, die an die Länder, denen es ohnehin schon schlecht geht, gestellt werden, könnten den Bogen überspannen.
Solche Bedenken spielen an den Märkten im Augenblick kaum eine Rolle. Aus der Flucht in die sicheren Häfen ist inzwischen eine Flucht aus den sicheren Häfen und ein Kapitalzustrom in die Krisenländer in der Peripherie Eurolands geworden. Wer im vergangenen Sommer in griechische Staatsanleihen investiert hat, ist inzwischen reich geworden, vor allem wenn er dazu geliehenes Geld verwendet hat: Seit dem 24. Juli sind die Renditen der Zehnjährigen von 27,5 auf zuletzt 10,02 Prozent gesunken. Das entspricht einem Kursgewinn von mehr als 150 Prozent. Bei Italien und Spanien war es nicht so dramatisch – die Renditen sind dort von 6,6 auf 4,2 Prozent und von 7,5 auf 5,1 Prozent gefallen -, aber auch das war mit beträchtlichen Kursgewinnen verbunden. Andererseits habe die Anleger mit vermeintlich sicheren Bundesanleihen seit dem Sommer Geld verloren – die Renditen sind von 1,23 auf 1,73 Prozent gestiegen.
Auch der Euro gilt auf einmal nicht mehr als riskante Währung, jedenfalls im Vergleich zum Dollar und insbesondere zum Yen. Am 24. Juli kostete ein Euro noch 1,21 Dollar, gestern dagegen waren fast 1,36 Dollar zu zahlen; aus japanischer Sicht hat sich der Euro von 94 auf 124 Yen verteuert und hat sich damit gegenüber dem Yen um 30 Prozent aufgewertet. Der Euro als Hartwährung! Das wäre sicher des Guten zu viel: Ich denke, er ist einfach zurzeit der Einäugige unter den Blinden. Vor allem ist auch nicht ausgemacht, dass die Marktteilnehmer diesmal richtig liegen. Oder dass ihr Herdentrieb ein guter Kompass ist – wenn er es jemals war.
Vor allem frage ich mich, wie lange sich die pro-zyklische Spar- und Reformpolitik in den Krisenländern noch durchhalten lässt. Wenn ich die Arbeitslosenquoten von Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Irland mit den BIPs dieser Länder gewichte, komme ich auf einen Durchschnittswert von knapp 18 Prozent, Tendenz steigend. Wenn bald jeder Fünfte in diesem Teil Eurolands ohne Job dasteht, wird es immer schwieriger, weitere Kürzungen staatlicher Leistungen oder höhere Steuern zu rechtfertigen. Dazu muss es aber kommen, wenn die Fahrpläne für die Haushaltsdefizite eingehalten werden sollen. Der Punkt liegt noch in weiter Ferne, von dem an die Haushaltsdefizite in Relation zum nominalen BIP geringer sein werden als die Zuwachsraten des nominalen Sozialprodukts – bis dahin nimmt die Schuldenlast relativ zum BIP weiter zu. In Italien etwa wird das staatliche Budgetdefizit in diesem Jahr bei 2 Prozent des BIP liegen (nach 3 Prozent im Jahr 2012), während das nominale Sozialprodukt um bestenfalls ein Prozent zunehmen dürfte. Das Verhältnis „Schulden zu nominalem BIP“ erhöht sich damit um rund einen Prozentpunkt. Ohne deutlich höhere Inflationsraten wird die reale Schuldenlast vorläufig immer drückender.
Es spricht für die Attraktivität des Euro, dass die Länder das auf sich nehmen. Jetzt hat sogar der polnische Finanzminister angekündigt, dass sein Land in naher Zukunft einen Aufnahmeantrag stellen wolle. Auch Lettland und Litauen stehen wohl kurz davor.
Am erfreulichsten wäre es, wenn sich die Krisenländer durch starkes Wirtschaftswachstum aus der Schuldenfalle befreien könnten. Wachstum bedeutet steigende Steuereinnahmen und geringere Sozialausgaben. Aber das würde schon fast an ein Wunder grenzen. Ziemlich sicher ist vielmehr, dass es auch 2013 erneut zu Rezessionen kommen wird. Für Griechenland wird es das sechste Rezessionsjahr in Folge sein, für Italien und Spanien jeweils das zweite (übrigens auch für Slowenien und Zypern), Portugal geht in sein drittes Jahr. Allein Irland hat die Kurve gekriegt und wächst wieder: Zusammen mit Estland gilt das Land als Beleg dafür, dass radikale Strukturreformen und Sparmaßnahmen innerhalb kurzer Zeit die Wende zum Besseren bringen können. Das setzt aber ein hohes Maß an gesellschaftlicher Solidarität voraus. Bisher galt das nicht als ein konstituierendes Merkmal der europäischen Mittelmeerländer.
Im Übrigen wird das irische Haushaltsdefizit trotz des positiven Wirtschaftswachstums in diesem Jahr immer noch bei etwa 7,5 Prozent des BIP liegen. Auch in den anderen Ländern gibt es weiterhin gewaltige Defizite: Griechenland 6 Prozent, Spanien 5 Prozent, Portugal 4,5 Prozent des BIP. Nur in Italien, mit seinem Defizit von, wie erwähnt, 2 Prozent, kommt allmählich das rettende Ufer in Sicht: Bereinigt um die Zinszahlungen auf die Schulden ergibt sich sogar ein positiver Saldo (von 3,5 Prozent).
Eine entschlossene Wachstumspolitik wird angesichts dieser Zahlen immer dringender, schon als eine Art Belohnung für die restriktive Finanzpolitik in einer äußerst schwierigen Zeit. Vor allem Deutschland und die anderen wenigen Länder, die noch Spielraum für expansive Maßnahmen haben, sind gefordert. Wie ich schon des Öfteren gezeigt habe, weisen die öffentlichen Haushalte Deutschlands strukturell einen Überschuss auf. Das muss ja nicht sein. Der starke Euro ist ein zusätzlicher Grund, jetzt allmählich aktiv zu werden. Die Ruhe an der Eurokrisenfront sollte nicht als Signal verstanden werden, dass die Eurokrise vorbei ist.