Der Spiegel berichtet in seiner jüngsten Ausgabe von einem Telefongespräch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi: Besorgt habe Merkel gefragt, wie es Draghi mit der europäischen Sparpolitik halte. Der EZB-Präsident hatte nämlich neulich auf einer Zentralbankerkonferenz im schönen US-Ferienort Jackson Hole vorsichtig darauf hingewiesen, dass man vielleicht etwas vom staatlichen Kürzungs- und Steuererhöhungspedal ablassen sollte, um eine Deflation im Euroraum zu vermeiden. Merkel gab sich besorgt, dass sie Draghi als Verbündeten in der Austeritätspolitik verlieren könne.
Es ist leider bezeichnend, dass Frau Merkel extra anruft, um sich nach der Sparpolitik zu erkundigen und nicht nach der dramatisch gestiegenen Arbeitslosigkeit im Euroraum, um die es Draghi in seiner Rede eigentlich ging. Dort hat er auf eindrückliche Weise die Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Euroraum der in den USA gegenübergestellt: Während die US-Arbeitslosenquote seit 2009 langsam aber stetig sinkt, ist sie im Euroraum mit Beginn der Austeritätspolitik ab 2011 erst so richtig gestiegen. Eigentlich müsste dieses Bild alle verantwortungsvollen Politiker schaudern lassen.
Und jeder nicht vollkommen der Austeritätsdoktrin verfallene Dogmatiker müsste mittlerweile eigentlich verstanden haben, dass die Massenarbeitslosigkeit durch die staatliche Sparpolitik drastisch verschlimmert, wenn nicht sogar verursacht wurde. Mittlerweile befindet sich der Euroraum in einer ausgemachten Wirtschaftsdepression, die mit der Depression der 1930er Jahre mithalten kann. Die griechische Wirtschaft ist noch stärker zusammengebrochen als die Wirtschaft der Weimarer Republik in den frühen 1930er Jahren.
Draghi verlangt vor allem deswegen nach einem (leichten) Aufweichen der restriktiven Fiskalpolitik, weil er weiß, dass die Geldpolitik alleine den Euroraum nicht retten kann. Die rekordniedrigen Zinsen nutzen wenig, weil die Unternehmen in den Krisenländern weder Geld leihen noch die Banken Geld verleihen wollen. Durch die eisernen staatlichen Sparversuche mitten in der Wirtschaftskrise sind die Umsätze der Unternehmen in den Krisenländern drastisch gesunken – sodass immer mehr Unternehmen in die Pleite schlittern. Auch solvente Unternehmen werden jetzt kaum neue Kredite für Investitionen aufnehmen. Besonders in den Krisenländern sind die vorhandenen Produktionskapazitäten trotz einer leichten Erholung immer noch so stark unterausgelastet, dass es für sie überhaupt keine Sinn macht, sich neben die schon brachliegenden Maschinen noch neue zu stellen.
Viele andere Unternehmen müssen weiterhin ihre hohen Schulden abtragen. Auch sie werden sich selbst bei null Prozent kaum neue Kredite aufhalsen. Insgesamt geben nur sechs Prozent der Industrieunternehmen im Euroraum an, unter einem Finanzierungsengpass zu leiden. Aber 32 Prozent der Unternehmen klagen über fehlende Nachfrage.
Auf der anderen Seite sind immer mehr ausstehende Kredite der Banken wegen der Krise notleidend, was auch ihr eigenes Insolvenzrisiko erhöht. Keine vernünftige Bank würde in so einer Situation in großem Stil neue Kredite vergeben, egal, wie billig sie frisches Geld von der Zentralbank bekommt.
Ergo: Wo die Umsätze der Unternehmen zusammenbrechen und sie Angestellte entlassen, fällt der Privatsektor als Nachfragetreiber aus – Pleitiers und Arbeitslose machen auch bei null Prozent Zinsen kaum neue Schulden. Will man die Massenarbeitslosigkeit verringern – um die sich Draghi zu Recht sorgt –, bleibt nur der Staat. Wenn es der Bundeskanzlerin um die Menschen geht, sollte sie ihm für seinen (leider sehr späten) Vorstoß danken.