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Andrea Nahles definiert die Armut weg

 

Andrea Nahles ist bekanntlich Sozialdemokratin und Arbeitsministerin, und als solche hat sie nun in der SZ einen beachtenswerten Vorschlag zur Bekämpfung der Armut gemacht: Sie definiert sie einfach weg. Sie hält nicht viel von der weitverbreiteten Annahme, wonach jeder, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, arm ist. Sie sagt:

„Der Ansatz führt leider schnell in die Irre. Angenommen, der Wohlstand in unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das Ausmaß an Armut gleich.“

Das ist ein sehr interessanter Gedanke: Ein bestimmter Indikator kann in die Irre führen, also ist er schlecht. Die Sache ist nur, dass das auf so ziemlich jeden ökonomischen Indikator zutrifft. Das BIP zum Beispiel steigt, wenn mehr Leute krank werden und zum Arzt gehen. Sollen wir also auf das BIP verzichten?

Frau Nahles ärgert sich, weil kürzlich ein Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ergeben hat, dass die relativ gemessene Armut einen neuen Höchststand erreicht hat. Das passt natürlich nicht zu der Erzählung, dass es in diesem Land allen besser geht. Über die mediale Aufbereitung des Berichts kann man streiten. Aber er hat seine methodischen Prämissen offengelegt. Ist das ein Grund, mal eben die statistischen Konzepte anzuzweifeln?

Seit Adam Smith wird Armut absolut und relativ gemessen. Dafür gibt es gute Gründe. Das psychische und physische Wohlbefinden hängt eben auch von der Möglichkeit einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ab. Wenn in einer Gesellschaft ein Drittel deutlich weniger verdient als der Rest und sich das Einkommen aller Mitglieder der Gesellschaft über Nacht verdoppelt, dann bleiben die Armen im Vergleich zu den Reichen ausgegrenzt. Das zu ändern, war einmal das Anliegen der Sozialdemokratie. Die Armen in Deutschland sind heute, gemessen an den Konsummöglichkeiten, reicher als die Reichen im Mittelalter – aber bedeutet das, dass sie nicht mehr arm sind?

Der absolute Armutsbegriff misst, ob die zur Verfügung stehenden Mittel ausreichen, um die Existenz zu sichern. Der relative Armutsbegriff misst, ob gesellschaftliche Teilhabe möglich ist. Beide haben ihre Berechtigung. Man muss sie nur – wie immer bei ökonomischen Indikatoren – richtig lesen und mit der gebotenen Sorgfalt interpretieren.

„To the extent that one’s goal is to identify and target today’s poor, then a relative poverty line is appropriate, and needs to be tailored to the overall level of development of the country. For instance, a $1 per day poverty line might be useful in Vietnam, where 27% of the population would be considered poor by this standard in 1998, but would be of little relevance in the United States where almost nobody would be poor by this standard.“

Das schreibt die Weltbank, die in Sachen Armutsbekämpfung die deutsche Sozialdemokratie links zu überholen scheint.