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Deutsche Konjunktur: Gute Stimmung, schwache Zahlen

 

Ich frage mich, warum sich unsere Wirtschaft nicht schon längst in einem richtigen Boom befindet, mit Zuwachsraten beim realen BIP von drei Prozent oder mehr. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Politik schon einmal dermaßen expansiv war wie heute – die Leitzinsen sind superniedrig, die Währung ist extrem schwach, die realen Haushaltseinkommen und Gewinne sind durch den Verfall des Ölpreises stark gestiegen. Und die Finanzpolitik hat inzwischen von restriktiv auf neutral umgeschaltet. Die Stimmung der Unternehmen könnte nicht besser sein.

Grafik: Ifo Erwartungen und  Produktionszuwachs

Aber die Industrieproduktion kommt einfach nicht in die Gänge. Sie hat sich im ersten Quartal gegenüber dem Vorjahr nicht verändert und stagniert eigentlich jetzt schon seit dem Sommer 2011, fast vier Jahre lang, was im Übrigen genau zu den realen Auftragseingängen in diesem Sektor passt. Ist die Industrie nicht das kräftige Herz der deutschen Wirtschaft? Von den harten Fakten her hat man nicht diesen Eindruck.

Am Arbeitsmarkt scheint zudem nach den vielen überraschend guten Jahren die Luft raus zu sein, ohne dass das bisher in der öffentlichen Diskussion thematisiert worden wäre. Vom vierten Quartal 2014 zum ersten Quartal 2015 hat sich die Anzahl der Erwerbstätigen saisonbereinigt lediglich um 0,05 Prozent erhöht, stagnierte also, nachdem zuvor – nämlich seit 2010 – vierteljährliche Zuwachsraten von um die 0,25 Prozent die Regel waren. Passend dazu nimmt die Arbeitslosigkeit kaum mehr ab und scheint sich bei 6,4 Prozent oder 2,8 Millionen einzupendeln. Vollbeschäftigung sieht anders aus.

Grafik: Zahl der Erwerbstätigen und Arbeitslosen in DE

Woher kommt die gute Stimmung? Nicht nur die Unternehmer sind guter Dinge, auch die Haushalte sind so optimistisch wie seit dem Beginn der großen Rezession nicht mehr, ablesbar an den Indikatoren der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Vielleicht haben wir es mit einem Strukturwandel zu tun: Die Industrieproduktion wird im Vergleich zu den Dienstleistungen und der Bauwirtschaft weniger wichtig.

Grafik: Industrieproduktion in Deutschland

Bei der Nachfrage scheint der Konsum der privaten Haushalte, der bekanntlich Jahrzehnte lang dahingedümpelt war, endlich an Dynamik zu gewinnen und sich zu normalisieren, also tendenziell eine so große Rolle zu spielen wie etwa in den USA oder Großbritannien. Die Nachfrage nach Verbraucherkrediten ist allerdings trotz der günstigen Konditionen noch nicht angesprungen. Entscheidend ist wohl die Lage am Arbeitsmarkt: Sie verbessert sich zwar nicht mehr so rasch wie in den Vorjahren, sie ist aber im Vergleich zu der von vor zehn Jahren sehr erfreulich. Insgesamt haben die Arbeitsplatzrisiken abgenommen. Es hilft, dass die Tariflöhne und die verfügbaren Einkommen zurzeit real um zwei bis drei Prozent höher sind als vor einem Jahr. Die Leute haben Geld in der Tasche – und Nachholbedarf.

Grafik: Reale Einzelhandelsumsätze in Deutschland

Dabei scheint Eines nicht zu passieren – dass die Unternehmen gegenüber der ausländischen Konkurrenz an Boden verlieren. Gerade wurde gemeldet, dass der Überschuss in der Leistungsbilanz im März bei knapp 28 Mrd. Euro lag. Aufs Jahr gerechnet bewegt er sich in Richtung 250 Mrd. Euro, oder 8,5 Prozent des nominalen BIP. In absoluten Zahlen weist kein Land einen solchen Saldo auf, nicht annähernd, auch nicht China oder Japan. Erfolge im internationalen Geschäft waren fast immer der Auslöser für einen Aufschwung bei den Investitionen und einen sich selbst tragenden Aufschwung der Wirtschaft insgesamt. Bisher ist davon allerdings nichts zu sehen, könnte aber noch kommen. Wie gesagt, die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen waren selten so günstig wie heute.

Grafik: Deutscher Leistungsbilanzsaldo seit 1971Q1

Und die Inflation? Der Tiefpunkt wurde im Januar erreicht, bei -0,4 Prozent im Vorjahresvergleich. Seitdem sind die Verbraucherpreise wieder zügig, und ebenfalls fast unbemerkt, gestiegen: Im April lagen sie saisonbereinigt um 0,94 Prozent über dem Januarwert, was aufs Jahr hochgerechnet eine Rate von 3,8 Prozent ergibt. Selbst wenn ich die Energiepreise ausschalte, komme ich auf eine annualisierte „Verlaufsrate“ von 2,3 Prozent. Wenn das Gleiche in den anderen Ländern der Währungsunion geschieht und sich eine Weile fortsetzt, könnte die EZB beginnen, sich Gedanken über einen Ausstieg aus ihrer Expansionspolitik zu machen. Ich würde nicht darauf wetten, weil eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, aber klar ist wohl, dass die Deflationsrisiken abgenommen haben. Die Rentenmärkte sind nicht ohne Grund so schwach.

Das würde im Übrigen das wichtigste Argument für den schwachen Euro entkräften: dass die amerikanischen Leitzinsen wegen der robusteren Konjunktur früher und stärker angehoben werden als die europäischen. Wenn jetzt auch noch die Griechenlandkrise gütlich beigelegt werden sollte, würde ich glatt auf eine starke Aufwertung des Euro wetten.